Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hartz IV: Staatsdoktrin Sanktionsterror
> In der Broschüre des Pinneberger Jobcenters sieht der Sozialberater
> Herbert Thomsen Methode: Wer mit falschen Infos gefüttert wird, lässt
> sich leichter über den Tisch ziehen.
Bild: "Vielleicht müsst ihr euch nur daran gewöhnen. Bei Getränken könntet …
BREMEN taz | Pinneberg liegt im Schlaraffenland, Hartz IV ist cool und die
Erde ist eine Scheibe. Dieser Eindruck vermittelt sich dem unbeleckten
Leser oder dem, der jegliche Realitätswahrnehmung seit zehn Jahren
ausgeblendet hat, nach der Durchsicht der Hartz-IV-Propagandaschrift aus
Pinneberg.
Schon der erste Satz der Einleitung ist blanker Hohn. Hier wird das
Jobcenter Pinneberg als „Dienstleister, der für seine Kundinnen und Kunden
da ist“ dargestellt. Hatte nicht Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) 2005
beim Weltwirtschaftsforum in Davos geprahlt, man habe in Deutschland den
besten Niedriglohnsektor Europas geschaffen – auch Dank Hartz IV? Seitdem
macht sich der Sanktionsterror der Jobcenter gegen Millionen Erwerbslose
bemerkbar.
Die Hartz-IV-Sätze liegen etwa 20 Prozent unterhalb der offiziellen
Armutsgrenze. Mit jährlich mehr als einer Million Sanktionen werden
Menschen in Niedriglohnjobs gepresst. Wer für sechs Euro brutto in der
Stunde nicht arbeiten geht, gar noch im Schichtbetrieb oder auf Abruf, der
soll auch nicht essen – das ist die Maxime. Diese im Sozialgesetzbuch II
festgeschriebene Staatsdoktrin ist die tägliche Handlungsanweisung in den
Jobcentern.
Von der Bundesarbeitsagentur in Nürnberg aus wird straff in Niedriglohn und
Leiharbeit gegliedert und sanktioniert. Und die MitarbeiterInnen in den
Jobcentern, die nicht mitziehen, etwa eine Sanktion nicht umsetzen, werden
abgemahnt. Unlängst wurde ermittelt, dass etwa vier Millionen Menschen auf
ergänzende Hartz-IV-Leistungen verzichten. Vor allem, weil sie sich wegen
ein paar Euro nicht schikanieren lassen wollen. Jedes Jobcenter hat
mittlerweile Wachmänner an den Eingängen postiert. Wäre dies nötig, wenn es
dort so kuschelig wäre, wie jetzt aus Pinneberg suggeriert?
Die Broschüre aus Pinneberg will nach eigenem Bekunden Hilfestellung und
sachkundigen Rat vermitteln. Dabei strotzt sie vor Falschinformationen.
Juristen aus der Praxis haben schon seitenlange Listen mit gravierenden
Mängeln erstellt. Das Ziel, das mit der Broschüre verfolgt wird, ist leicht
zu erkennen: Wer mit falschen Informationen gefüttert wird, den kann das
Jobcenter leichter über den Tisch ziehen – wie die Beispielfamilie Fischer
aus der Broschüre, der ein Umzug abverlangt wird, obwohl die Begründung auf
tönernen Füßen steht.
Propaganda gehört zum Geschäft. Niemand aus dem Staatsapparat wird zugeben,
dass der vornehmliche Sinn der Jobcenter darin besteht, die Arbeitskräfte
(Kunden) passgenau auf die Bedürfnisse der Unternehmen ausrichten und zwar
zu möglichst geringen (Lohn) Kosten. Das geht aber nicht nur mit Zwang und
Sanktionen. Damit das reibungslos funktioniert, bedarf es auch der Lüge.
Das Pinneberger Druckwerk hat im juristischen Sinne den Wahrheitsgehalt
eines Lustigen Taschenbuchs mit Dagobert Duck.
Es bleibt zu hoffen, dass auch die mehr als 100.000 User, die sich die
Broschüre bereits heruntergeladen haben, sie auch als Märchenbuch
verstehen. HERBERT THOMSEN
26 Jul 2013
## AUTOREN
Herbert Thomsen
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Armut
Inge Hannemann
Hamburg
Teilzeit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausschuss gegen Armut: Einer nur wird Bettlerkönig
Zur Armutsbekämpfung hat die Bürgerschaft einen neuen Ausschuss. Alle
Fraktionen hoffen auf Sachlichkeit. Der Zank um den Vorsitz aber deutet auf
Wahlkampf.
Armutsrisiko in Deutschland: Im Osten bleibt es schwieriger
Armut beginnt in Deutschland bei 869 Euro netto im Monat für einen Single.
In den Großstädten Dortmund, Leipzig und Duisburg ist mehr als jeder Vierte
von Armut betroffen.
Kommentar Hartz-IV-Aktivistin: Die falsche Konsequenz
Die ehemalige Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann hat Mut gezeigt. Sie ist
zur Symbolfigur geworden, doch ihr Kampf scheint leider fast aussichtslos.
Urteil gegen Hartz-IV-Aktivistin: Kein Job beim Jobcenter
Das Hamburger Arbeitsgericht lehnt den Antrag der Hartz-IV-Aktivistin Inge
Hannemann auf Weiterbeschäftigung ab. Aber sie hat noch eine weitere Klage
eingereicht.
Studie zu zehn Jahren Hartz-IV-Politik: Bürger auf Bewährung
Soziologen aus Jena untersuchen die Folgen der Arbeitsmarktpolitik. Sie
widerlegen das Vorurteil, dass Jobsuchende in Resignation abgleiten.
Diakonie-Experte über Hartz-IV-Wahrnehmung: „Die absonderlichsten Fantasien�…
Faul und ohne Initiative: Wenig scheint so haltbar wie die Vorurteile
gegenüber Hartz-IV-EmpfängerInnen. Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg über
den täglichen Existenzkampf, die Mühen der Selbst-Organisation und eine
ignorante Mittelschicht.
Passgenauer Paternalismus: Wie viel ist zu viel?
Ein Jobcenter bezieht Dresche für eine Hartz-IV-Broschüre: Sie nehme
Betroffene nicht ernst. Aber passt das nicht zu dem, was der Staat und
seine Agenturen „fordern und fördern“ nennen?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.