# taz.de -- Künstler gegen Coronamaßnahmen: Songs über „Die“ | |
> Bei Corona auf Streit gebürstet: An Musikern wie Van Morrison oder den | |
> Schauspielern von #allesdichtmachen spalten sich die Meinungen. | |
Bild: Van Morrison performt auf einem Festival in Spanien 2018, noch vor Corona | |
Sing it for me / sing it for you / sing it for the people / who feel the | |
same the way I do. Thank God for the blues!“ Angeblich hat man ihn, den | |
Blues, oder eben nicht. [1][Van Morrison] hat ihn. Mit „Them“ zeigte er der | |
Welt 1964, wie schlüpfrig und energetisch drei Akkorde klingen, wenn man | |
den richtigen Frauennamen („Gloria!“) darüberschreit, mit „Brown Eyed Gi… | |
bewies er sich als Solokünstler und Songwriter, bis heute hat er 36 Alben | |
veröffentlicht. 75 Jahre alt ist „Van the Man“, Grammy-Preisträger, | |
Mitglied in der Rock-’n’-Roll- und Songwriter-Hall of Fame. 2016 wurde der | |
Nordire zum „Knight Bachelor“ geschlagen. | |
Aber soll jener Blues, für den er sich in einem der 28 Songs auf seinem | |
neuen Album „Latest Record Project Volume 1“ bei Gott bedankt, tatsächlich | |
nur Menschen erreichen, die denken wie er? Die ebenfalls sicher sind, dass | |
„Wissenschaftler falsche Fakten erfinden“, dass die „faschistische Polize… | |
uns „die Freiheit nimmt“ und die Regierung das Ziel verfolgt, „uns zu | |
versklaven“? | |
Mit Songs wie „No More Lockdown“, aus dem jene Zeilen stammen, oder „Stand | |
and Deliver“ hatte sich Morrison, teilweise mit Unterstützung des | |
Gitarristen Eric Clapton, [2][im letzten Jahr als Gegner der staatlichen | |
Coronamaßnahmen positioniert.] Sein neues Album, das am 7. Mai erschien, | |
wird somit anders gehört werden als frühere Werke – und gehört damit | |
vielleicht zu einem Phänomen. | |
## Die Rezeption verändert sich | |
Dass Künstler:innen sich deutlich politisch äußern, dass Punkbands zu | |
sperrigen Sounds Kritik herausbrüllen, Folksänger:innen leise zu | |
Gitarre anklagen, Rapper sprachlich provozieren, ist der älteste Hut der | |
Welt. Aber in dieser Welt verändert sich gerade die Rezeption sämtlicher | |
Kunst, inklusive dem „unpolitischen“ Mainstream, zu dem (für die Älteren) | |
Bluesrock und (für die Jüngeren) Pop zählen. | |
Denn die Pandemie und ihre Maßnahmen werden je nach Gesundheit, | |
finanzieller Sicherheit, persönlicher Resilienz und Erfahrung | |
unterschiedlich empfunden. Dabei macht gerade das Unspezifische, | |
Allgemeingültige einen Teil jener Qualität aus, die Pop und Rockmusik so | |
viele verschiedene Menschen berühren lässt. | |
Diese kollektive Wirkung lag einerseits im gemeinsamen Hörerlebnis etwa bei | |
Konzerten oder in Clubs – Situationen, die in Zeiten des Social Distancing | |
flachfallen. Andererseits waren die in Pop-Texten vielbenutzten | |
Personalpronomen „I“, „We“ oder „You“ hervorragend auf Beziehungen,… | |
Liebes(kummer)dinge anwendbar: Das lyrische „Ich“ singt für ein lyrisches | |
„Du“, vor allem das selige „Wir“ symbolisiert die ganze romantische Pal… | |
des gemeinen Drei-Minuten-Lovesongs. | |
Doch nun geht es, wie im Beispiel Van Morrison, nicht mehr um „uns“, | |
sondern um „die“. Und der inkludierende Song beginnt zu distanzieren: „Th… | |
Own the Media“, heißt ein Stück auf der Van-Morrison-Platte. „They own the | |
media / They control the stories that are told / They control the narrative | |
/ Keep on telling you lies“ – das ominöse „Sie“, das Morrison nicht | |
spezifiziert, ist also eine Gruppe, zu der man nicht gehört, die einem | |
Übles will, die alles kontrolliert – eine klare Verschwörungserzählung. | |
Vier von den musikalisch unauffälligen 28 Songs auf dem Album sind | |
eindeutig mindestens maßnahmen- und regierungskritisch, drei sind frei von | |
jeglichem polemischen Geschmäckle – darin geht es um die Liebe. Der größte | |
Teil der Platte ist perfiderweise ambivalent. | |
Unabhängig von der geschmacklichen Frage, ob der ewig schon auf der | |
gleichen Bluesnote swingende Morrison, dessen Musik mittlerweile keinen | |
Dudelsender dieser Welt überfordert, einem überhaupt noch etwas geben muss: | |
Wer nicht tiefer hineinhört in die Platte, wessen Englisch dürftig ist, wem | |
Texte eh egal sind, der nimmt klassische radiotauglische Songs wie „Thank | |
God for the Blues“ einfach als Blueshymne. | |
## Will ich über eine Meinung hinwegsehen? | |
Die anderen werden durch Morrisons Haltung in den Diskurs um Künstler:in | |
und Werk gezwungen, der seit Längerem und zu Recht scharf vor allem bei | |
Künstlern geführt wird, die verurteilte oder mutmaßliche Straftäter sind | |
(Michael Jackson, Gary Glitter, Roman Polanski). Eine Debatte, deren | |
Positionen man subjektiv finden muss: Kann und will ich über eine andere | |
Meinung hinwegsehen? Kann ich also „Gloria“ noch hören, zu Morrissey noch | |
tanzen? Oder muss ich bei meiner Kulturrezeption konsequent verfolgen, was | |
ich auch in Diskussionen vertrete? Und inwiefern treffe ich damit die | |
richtigen Leute? | |
Eine weitere, durch die Pandemie verursachte oder verstärkte Spaltung beim | |
Konsumieren von Mainstreamkultur deutet sich als Konsequenz von | |
[3][Kampagnen wie #allesdichtmachen] an: Vor dem letzten Münster-Tatort gab | |
es Boykottaufrufe wegen Jan Josef Liefers’ Teilnahme an der Aktion, der | |
Film unter der Regie von Brigitte Maria Bertele wurde mit 14,22 Millionen | |
Zuschauer:innen allerdings eines der erfolgreichsten Werke der Reihe. | |
Debattierende in sozialen und anderen Medien warfen sich gegenseitig | |
Hirnverbranntheit vor: „Ist mir doch egal, was der Liefers privat sagt“, | |
„Produktions-Sippenhaft ist ungerecht“ gegen „Den schau ich mir nie mehr | |
an“. Nicht wenige versuchten zudem, in den Textzeilen des fiktiven | |
Rechtsmediziners Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne, Liefers’ Figur, | |
Zweideutigkeiten zu entdecken. Obwohl das Drehbuch von Elke Schuch nichts | |
zu Coronamaßnahmen oder ideellen Grabenkämpfen beinhaltet, selbst bei | |
großzügiger Interpretation. | |
Dass Liefers sich selbst via Instagram beim Publikum für „ein | |
eindrucksvolles Statement“ bedankte, wurde ebenfalls unterschiedlich | |
gedeutet. Vielleicht freut er sich, dass so viele Menschen anscheinend | |
tatsächlich niemanden in Sippenhaft nehmen, selbst wenn sie die Aktion | |
ablehnen. Vielleicht nimmt er aber auch an, dass die Zuschauer:innen | |
sich „eindrucksvoll“ für die Aktion positioniert haben. | |
## Vergessen, was passiert ist? | |
Doch wenn die Pandemie vorbei oder „im Griff“ ist, wenn wieder andere | |
Themen die privaten und politischen Gespräche dominieren, wenn das | |
kollektive Hör- (und hoffentlich auch das cineastische Seh-)Erlebnis wieder | |
möglich ist – was ist dann mit den Gräben, die in den aktuellen hitzigen | |
Auseinandersetzungen ausgehoben werden? Kann und soll man sie wieder | |
zuschütten? Vergessen, was passiert ist? Sich bei „the people / who feel | |
the same way I do“ nur als Blues-Fans angesprochen fühlen? | |
Weil die Menschen – das hat die Krise wieder mal gezeigt – selbst als Fans | |
der gleichen Kunst, der gleichen Musik enorm unterschiedlich sind, werden | |
sie auch diese Fragen subjektiv beantworten. Einige werden nicht vergessen, | |
andere sofort, wieder anderen ging die Debatte ohnehin am Hintern vorbei. | |
Mit der politischen Unschuld, die Massenkultur in ihrer Funktion als | |
inkludierendes, soziales Ereignis hatte, das auf einer humanistischen Ebene | |
den Zusammenhalt stärkte, wird es jedenfalls vorbei sein. Die Kultur wird | |
sich verändert haben – auch, weil viele Künstler:innen aufgeben mussten | |
und die kulturelle Welt nicht länger mitprägen. Und weil die Geschichten | |
und Texte von Pandemieerfahrungen geprägt sein werden. Vor allem jedoch | |
durch die Spaltung. | |
Es bleibt eine Hoffnung: Vielleicht kann man diese Entwicklung zu einer | |
Stärkung des kulturgeschmacklichen Individualismus umdeuten, zur Abkehr vom | |
Mainstream. Schließlich hieß das 1959 erschienene, vierte Elvis | |
Presley-Compilation-Album: „50.000.000 Elvis Fans Can’t Be Wrong“. Und das | |
stimmte schon damals nicht. | |
10 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Album-von-Van-Morrison/!5341818 | |
[2] /Die-Wahrheit/!5743325 | |
[3] /Aktion-allesdichtmachen-im-Netz/!5763320 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Kunstaktion | |
Popkultur | |
Pandemie | |
Mainstream | |
cancel culture | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Coronaleugner | |
Schauspieler | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Eric Clapton canceln?: Der Fascho aus der Flasche | |
Der Rapper Kanye West wird wegen antisemitischer Statements gecancelt. Mit | |
Eric Clapton wäre ein anderer Kandidat seit langem fällig. | |
Prominente gegen Coronapolitik: Ein zweiter Versuch | |
Erst #allesdichtmachen, nun #allesaufdentisch: Künstler:innen und | |
Wissenschaftler:innen verbreiten wirre Skepsis gegen die | |
Coronamaßnahmen. | |
Äußerungen zu Corona-Quarantäne: Australien weist Kolumnistin aus | |
Die britische Kolumnistin Katie Hopkins hält die Pandemie für einen Witz. | |
Weil sie ankündigte, gegen Corona-Auflagen zu verstoßen, verlor sie ihr | |
Visum für Australien. | |
„Babylon Berlin“-Star Volker Bruch: Schauspieler auf Abwegen | |
Volker Bruch, Mitinitiator von #allesdichtmachen, hat einen Mitgliedsantrag | |
für „Die Basis“ gestellt. Der Partei eilt ein zweifelhafter Ruf voraus. | |
Aktion #allesdichtmachen: Unklares Motiv | |
Was bringt die Aktion außer Spaltung? Das scheinen die Beteiligten bei | |
teilweise berechtigter Kritik an der Coronapolitik selbst nicht zu wissen. | |
Reaktionen auf #allesdichtmachen: Schauspieler in die Notaufnahme | |
Während sich einige Schauspieler*innen von ihren Videos distanzieren, | |
schwurbeln andere Rechtfertigungen. Im Netz nimmt die Kritik weiter zu. |