# taz.de -- Kriegsrhetorik in der Pandemie: Jeder kämpft für sich allein | |
> Krieg, Gemeinsinn und Vernunft: Wie PolitikerInnen über die | |
> Virusbekämpfung sprechen, spiegelt die kulturellen Gegensätze in Europa | |
> wider. | |
Bild: Ob mit Drohne oder ohne – die Kriegsrhetorik in der Corona-Krise ist om… | |
Befinden wir uns gegen das [1][Coronavirus] im Krieg? Entsprechende | |
Rhetorik [2][beispielsweise aus Frankreich] ist in Deutschland auf | |
verbreitetes Unverständnis gestoßen. In dieser Krise erweist sich anhand | |
des Wortes „Krieg“, wie tief die Kluft zwischen den politischen Kulturen in | |
Europa geblieben ist. Hinter den aktuellen europäischen Zerwürfnissen | |
blitzen auch verborgene kulturelle Gegensätze auf. | |
In Deutschland heißt Krieg heute: Angriffskrieg. Sein Verbot genießt | |
Verfassungsrang. „Nie wieder Krieg“ ist Leitmotiv deutscher Außenpolitik. | |
„Soldaten sind Mörder“ gehört im aufgeklärten Bürgertum zu den geflüge… | |
Worten. Krieg, das ist Töten, Erobern, Leid zufügen – das genaue Gegenteil | |
einer Politik, die das Ziel hat, Leben zu retten. | |
In Frankreich heißt Krieg: Widerstand. Der Ruf zur Waffe steht in der | |
Nationalhymne. Der aufgeklärte Bürger ist einer, der sich wehrt. Den | |
Nationalfeiertag begeht das Land mit der größten Militärparade Europas | |
außerhalb Russlands. Der Präsident ist der oberste Feldherr der Nation, wie | |
einst Republikgründer General de Gaulle, der 1940 die Unterwerfung | |
Frankreichs unter die deutsche Besatzung nicht hinnahm. Mit Krieg hält man | |
sich ein Übel vom Hals und ringt es nieder. | |
In Großbritannien heißt Krieg: Gemeinsinn. Angesichts existenzieller | |
Bedrohungen von außen rückt die Gesellschaft zusammen. Alle packen mit an. | |
Nicht die Streitkräfte und der Kampf sind zentral, sondern es ist die | |
gemeinsame Kraftanstrengung. Klassen- und Standesunterschiede verblassen, | |
die Namenlose ist genauso wichtig wie der Prinz. Im Krieg sind alle Bürger | |
als Gleiche anerkannt und die Nation bewährt sich als Ganzes. | |
## Nach innen gekehrte Gemeinschaftsidylle | |
Alle drei Bedeutungshorizonte haben ihre Schattenseiten. Das deutsche | |
Verständnis von Krieg macht es gedanklich unmöglich, aus eigenem Entschluss | |
staatliche Massenmörder anderswo am Abschlachten ihrer Bevölkerungen zu | |
hindern. Das französische Verständnis gebiert eine imperiale | |
Überheblichkeit, in der Frankreich per Definition immer auf der richtigen | |
Seite kämpft – der eigenen. Das britische Verständnis errichtet eine nach | |
innen gekehrte Gemeinschaftsidylle unter der gütigen Führung immer | |
währender Institutionen, in der reale Konflikte stets woanders stattfinden. | |
Was bedeuten diese verschiedenen Gedankenhorizonte für die politische | |
Diskussion in der Coronakrise? Am einfachsten lässt sich das anhand dreier | |
Fernsehansprachen analysieren: Emmanuel Macron am 16. März, [3][Angela | |
Merkel] zwei Tage später und [4][Queen Elizabeth] am 5. April. | |
Macron rief – einen Tag nachdem er gegen den Rat von Experten | |
Kommunalwahlen hatte abhalten lassen – sechsmal hintereinander: [5][„Wir | |
sind im Krieg“]: Ein Krieg „gegen einen unsichtbaren Feind“, der die | |
„Generalmobilmachung“ erfordert und dem die alleinige Aufmerksamkeit der | |
Politik gebührt, womit er das Regieren per Dekret ankündigte; ein Krieg, in | |
dem „alle Franzosen sich der nationalen Einheit verschreiben“ sollen, in | |
dem „die Nation ihre Kinder unterstützt, die sich als Pfleger oder im | |
Krankenhaus an vorderster Front dieses Kampfes befinden“, in dem die | |
Landesgrenzen geschlossen bleiben – und nach dem, „wenn wir gesiegt haben�… | |
die Dinge anders sein werden als zuvor. | |
[6][Angela Merkel] nahm das Wort Krieg nicht in den Mund. Stattdessen sagte | |
sie: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es | |
keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser | |
gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Man dürfe die Herausforderung | |
nicht unterschätzen, appellierte sie an die Vernunft der Bürger: „Es ist | |
ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ | |
[7][Queen Elizabeth] wählte am 5. April ebenfalls nicht den Kriegsbegriff | |
direkt. Sie bedankte sich beim Gesundheitspersonal „an der Front“. Sie | |
lobte das gemeinsame Applaudieren der Menschen für Ärzte und Pfleger. Sie | |
erinnerte an das Jahr 1940, als sie als Kind ihre erste Radioansprache | |
hielt – „an Kinder, die aus ihrem Zuhause evakuiert und für ihre eigene | |
Sicherheit verschickt worden waren. Heute werden wieder einmal viele | |
Menschen ein schmerzliches Gefühl der Trennung von ihren Lieben verspüren. | |
Aber heute wie damals wissen wir tief in uns, dass es richtig ist.“ | |
## Die Bürger zu Disziplin und Verzicht aufgerufen | |
Alle drei haben also im Grunde dasselbe gesagt. Sie haben an nationalen | |
Zusammenhalt appelliert und die Bürger zu Disziplin und Verzicht aufgerufen | |
– wie im Krieg. „Wie im Krieg“ ist aber eben nicht „im Krieg“, was al… | |
wissen, die jemals einen Krieg erlebt haben. Es geht in erster Linie darum, | |
sich für eine begrenzte Dauer an unangenehme Regeln zu halten. Manche | |
Staaten müssen dafür „Krieg“ ausrufen, andere nicht. Mit unterschiedlichen | |
Mitteln wird dasselbe Ziel angesteuert. | |
Tatsächlich sind militärische Abläufe aktuell sehr praktisch – und die | |
einzigen, für die ausreichend viele Fachkräfte eingeübt sind. So manches, | |
was im Zuge der Coronakrise geschieht, ist aus Kriegszeiten kopiert. Der | |
Einsatz des Militärs zum Aufbau von Notkrankenhäusern. Die Triage auf | |
Intensivstationen – Routine in Feldlazaretten an der Front. Das Requirieren | |
von Unternehmen zur Produktion überlebensnotwendiger Güter – früher | |
Rüstungsgerät, heute Beatmungsgerät. Die Diskussion über Coronabonds – wie | |
einst Kriegskredite. Der politische Einfluss von Epidemiologen, wie ihn | |
sonst nur Generäle genießen. | |
Kriege sind immer auch Modernisierungsschübe. Was folgt langfristig aus dem | |
„Krieg gegen Corona“? Nimmt der Gesundheitssektor bald den Platz des | |
Verteidigungssektors ein? Wird demnächst über Gesundheitsetats und | |
kollektive Seuchenbekämpfung genauso intensiv debattiert wie über | |
Rüstungsetats und kollektive Verteidigung? Wird globale Sicherheit neu | |
definiert als globale Gesundheit? In Frankreich kursieren schon | |
Forderungen, dieses Jahr am 14. Juli nicht Soldaten, sondern Krankenpfleger | |
auf den Champs Élysées aufmarschieren zu lassen. | |
7 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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