# taz.de -- Kreativarbeit im Neoliberalismus: Schuften im Namen der Freiheit | |
> Kreativberufe gelten als Hort der Selbstverwirklichung. Sie sind aber oft | |
> eine Falle, die Selbständige in prekäre Verhältnisse zwingt. | |
Bild: Die Kreativökonomie ist für viele keine Spielwiese, sondern hartes Malo… | |
Eigentlich ist sie diplomierte Grafikdesignerin. Doch Frau K. arbeitet als | |
selbstständige Modedesignerin. Unter anderem. Daneben ist sie auf | |
Projektbasis in der freien Theaterszene in Berlin tätig, entwirft und näht | |
dort Kostüme. Wenn es finanziell eng wird, sucht sie zudem zeitlich | |
befristete Nebenjobs. Am liebsten im nahen und weiteren Kulturbereich, etwa | |
in der Gastrobranche, zur Not aber auch in einem Callcenter. | |
Die Lage von Frau K. ist unsicher, aber nicht einzigartig. Sie ist vielmehr | |
typisches Erkennungsmerkmal der kreativen Klasse. Frau K. gehört zu einer | |
stetig wachsenden Berufsgruppe, die auf der Suche nach selbstbestimmter | |
Arbeit seit den 1970er Jahren in die Kultur- und Medienberufe drängt. In | |
den nuller Jahren dann wurde die kreative Klasse im Einklang mit dem | |
marktverherrlichenden Zeitgeist zur Vorreiterin für Arbeit und Leben im | |
Umbruch zum 21. Jahrhundert erklärt, ja zur Avantgarde eines kulturell | |
modernisierten Unternehmerbildes, begleitet vom wohlklingenden Swing der | |
„Kultur- und Kreativwirtschaft“. | |
Weil Kreativarbeit projektbestimmt und flexibel funktioniert und ein | |
Selbstverwirklichungsversprechen birgt, das eher auf Freiheit und | |
Selbstbestimmung setzt als auf Pflichterfüllung und entfremdete Arbeit, | |
gilt sie als neues Standardmodell der Arbeitswelt. Der Poptheoretiker | |
Diedrich Diederichsen hat die kulturellen Folgen eines begierig | |
aufgesogenen Selbstverwirklichungsversprechens „Eigenblutdoping“ genannt. | |
Die kreative Klasse ist sehr gut darin. Mit ihrem Lebensführungsideal des | |
„Eigenblutdopings“ hat sie der alten Mittelklasse symbolisch den Rang | |
abgelaufen. Denn wer will heute nicht kreativ und leidenschaftlich sein? | |
In Wirklichkeit aber sei die Kreativökonomie ein Experimentierfeld für die | |
[1][strukturelle Ent-Sicherung von Arbeit], in dem Kreativarbeiter*innen | |
wie Frau K. prekäre Verhältnisse aufgezwungen würden. Zugleich würden sie | |
als Rollenmodell für den zeitgenössischen Arbeitnehmer | |
instrumentalisiert. So lautet ein wirkmächtiges Deutungsangebot, | |
vorgetragen etwa von dem französischen Soziologen P.-M. Menger. | |
Die Kreativökonomie als Prekarisierungsfalle – ist das so? Und wenn ja, | |
gilt das für alle Kreativarbeiter*innen? | |
## Geschlecht und Herkunft | |
Wirtschaftlich jedenfalls ist der Aufstieg der Kreativökonomie nicht zu | |
übersehen. Aktuelle Daten des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) belegen, | |
dass ihr Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung in Deutschland im | |
Jahr 2016 etwa 98,8 Milliarden Euro betrug. Allein seit 2011 ist ihr Anteil | |
an der gesamten Bruttowertschöpfung (BIP) von 3,07 Prozent auf 3,14 Prozent | |
gewachsen. Allein die Automobilindustrie erzielt nach den Daten des BMWi | |
eine noch höhere Bruttowertschöpfung. Insgesamt ist die Kreativökonomie mit | |
bis zu. 1,6 Millionen Erwerbstätigen zu einem der bedeutendsten | |
Arbeitsmarktsegmente in Deutschland geworden. Das gilt insbesondere für | |
Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München. | |
Was bisweilen übersehen wird, ist die soziale Verschiedenheit in der | |
Kreativbranche. An dieser Stelle müssen wir auf die Annahme zurückkommen, | |
dass die Kreativökonomie eine Prekarisierungsfalle sei. Im Vergleich zum | |
einstmals voll abgesicherten Arbeitnehmer im Normalarbeitsverhältnis finden | |
sich hier sicher mehr unsichere, atypische Arbeitsverhältnisse. Doch fassen | |
wir den Blick etwas enger und richten den Fokus auf das Personal der | |
Kreativökonomie. Schnell wird dann deutlich, dass das Prekaritätsrisiko | |
längst nicht alle gleichermaßen trifft. | |
Spätestens seit dem Skandal um Harvey Weinstein und der #MeToo-Debatte ist | |
ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass die Kreativökonomie und der | |
Kulturarbeitsmarkt weit von Geschlechtergerechtigkeit entfernt sind, wie es | |
die Kulturstaatsministerin Grütters formuliert. Die Geldtöpfe und | |
Entscheidungsstrukturen sind großenteils in der Hand von Männern, was dort | |
beschäftigte Frauen von deren Wohlwollen abhängig macht. | |
Auch die soziale Klassenzugehörigkeit spielt bei der Frage, ob die | |
Kreativökonomie eine Prekarisierungsfalle ist, keine ganz unbeträchtliche | |
Rolle. Das mag überraschen, weil ein stillschweigendes Einverständnis zu | |
bestehen scheint, dass Kreativarbeiter*innen aus der gut situierten | |
sozialen Mitte stammen und sich notfalls auf das elterliche Konto | |
verlassen können. Tatsächlich aber stimmt das nur zum Teil. Vielmehr bildet | |
die Kreativökonomie ein Sozialgefüge, das von tiefen sozialen Gräben | |
durchzogen ist: Geschlecht zum einen, soziale Herkunft zum anderen. | |
## Kulturorientierte Leistungselite | |
Unsere empirischen Untersuchungen zu Arbeits- und Sozialverhältnissen in | |
der Kreativökonomie zeigen, pointiert gesagt, dass hier Abkömmlinge der | |
oberen, bürgerlichen Milieus mit sozialen Aufsteigern aus modernisierten | |
Arbeitnehmermilieus zusammentreffen. Der enorme Personalzuwachs der | |
Kreativökonomie seit den 1970er Jahren lässt sich also erklären: Er ist zu | |
einem Gutteil auf soziale Mobilitätsprozesse unterschiedlicher Milieus | |
zurückzuführen. Sie reflektieren zugespitzt die Pluralisierung des sozialen | |
Gefüges der alten Bundesrepublik. | |
Die von Hause aus ressourcenstarken, oberen Milieus zeichnet traditionell | |
ein Anspruch auf eine führende Rolle in der Gesellschaft aus. Im Laufe der | |
Zeit hat sich ihr Wertekanon verschoben, verjüngt und kulturell | |
modernisiert, um schließlich Elemente „postmaterialistischer“ Lebensstile | |
zu integrieren. Mit dieser Kulturalisierung der Lebensführung entwickelte | |
sich in den 1970er Jahren ein liberal-intellektuelles Milieu, das in | |
„Kultur und Medien“ drängte. Die Rede ist von jener Fraktion, die etwa die | |
bekannten Sozialwissenschaftler*innen Boltanski und Chiapello („Der | |
neue Geist des Kapitalismus“) oder Richard Florida („The Rise of the | |
Creative Class“) im Auge haben, wenn sie davon sprechen, dass die kreative | |
Klasse im oberen Gesellschaftsbereich verortet sei. | |
Ihren Führungsanspruch praktiziert sie heute sehr erfolgreich – in Gestalt | |
eines unternehmerisch orientierten Kreativsubjekts, das gern einen | |
kosmopolitischen Lebensstil pflegt. Diese Fraktion der kreativen Klasse | |
besteht aus einer kultur- und effizienzorientierten Leistungselite, die | |
sich als Konsum- und Stilavantgarde versteht und machtvolle Positionen | |
bekleidet; die „Zalando-Brüder“, Marc, Oliver und Alexander Samwer, | |
Sprösslinge einer Familie von Rechtsanwälten und Unternehmern, sind ein | |
herausragendes Beispiel. | |
Die weitaus größere Fraktion besteht aus Kindern der aufgestiegenen | |
sozialen Mitte der 1960er und 1970er Jahre. Sie bilden gewissermaßen das | |
Bodenpersonal der kreativen Klasse. Ihnen ist eher ein flexibler und | |
genügsamer Lebensstil eigen als der Anspruch auf Führungspositionen. | |
Dies sind die „kleinen Selbstständigen“ wie Mediengestalter*innen, | |
Modedesigner*innen oder Produktdesigner*innen mit mittlerem akademischem | |
Ausbildungsniveau. Diese Fraktion steht für soziale Flugbahnen der | |
sogenannten Aufsteigergesellschaft der fetten Jahre der jungen | |
Bundesrepublik. Denn im Hinblick auf die Generationenmobilität haben sie | |
meist höher qualifizierte Berufe als ihre Eltern ergriffen. Und auch heute | |
noch scheint das Motiv „sozialer Aufstieg durch Kreativarbeit“ eine Rolle | |
zu spielen. Denn deren Ausbildung findet überwiegend an Fachhochschulen | |
statt, womit immer noch etwa 60 Prozent der Fachhochschulabsolvent*innen | |
den Bildungsgrad ihrer Eltern übertreffen. | |
## Das gesunde Mittelmaß | |
Diese Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungsniveau, die sich hier | |
zeigt, ist für das Verständnis der sozialen Strukturen der kreativen | |
Klasse hoch aussagekräftig. Im Hinblick auf „Selbstverwirklichung“ ist | |
diese Fraktion am Machbaren orientiert. Sie sucht nach einer Balance | |
zwischen wirtschaftlicher Sicherheit und kulturellen Freiheiten. So | |
erzählte uns etwa ein soloselbstständiger Designer im Interview, dass er, | |
geboren 1979, das Nesthäkchen eines im Handel Selbstständigen und einer | |
Hausfrau sei, also aus einer Aufsteigerfamilie der 1960er Jahre stammt. | |
Bevor er aber seine Fachhochschulausbildung zum Grafikdesigner begann, | |
hatte er zunächst eine Ausbildung zum Bürokaufmann in einem Autohaus | |
gemacht. „Um etwas in der Hand zu haben“, wie er sagt. Insofern ist es | |
wenig überraschend, dass viele dieser neuen Kreativen keine | |
Führungsposition, sondern eher einen gewissermaßen habituell verankerten | |
realistischen Grad von Autonomie anstreben; oder, wie der genannte Designer | |
es ausdrückt, ein „gesundes Mittelmaß“. | |
Die Empirie deutet darauf hin, dass bis zu einem Drittel aller | |
Selbstständigen der Kreativökonomie nicht von ihrem beruflichen Einkommen | |
leben können, weil sie als sogenannte Miniselbstständige unter 17.500 Euro | |
pro Jahr erwirtschaften. Hier kristallisiert sich ein hybrider Arbeitstypus | |
heraus, der flexibel zwischen selbstständiger und abhängiger Arbeit | |
wechselt, was für viele der 573.000 Miniselbstständigen in der | |
Kreativökonomie Alltag sein dürfte. Dabei sind hybride Arbeitsverhältnisse | |
nicht individuell erwünscht, sondern Ausdruck flexibler | |
Gelegenheitsorientierung. Viele fahren schlicht mehrgleisig, um im Spiel zu | |
bleiben. | |
Die Kreativökonomie als Prekarisierungsfalle? Da ist was dran. Aber es | |
trifft eben längst nicht auf alle zu. Während einige mittels ihres | |
sozialen, kulturellen und finanziellen Erbes als unternehmerisches | |
Kreativsubjekt eine distinktive Selbstverwirklichung ausleben, versuchen | |
die vielen Miniselbstständigen prekär über die Runden zu kommen und bei | |
Laune zu bleiben. Dass sich vor allem die kleinen Selbstständigen und | |
Kinder aus den sozialen Aufsteigermilieus mit einer prekären Kreativität | |
arrangieren, ist jedenfalls kein Zufall. | |
21 Apr 2018 | |
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## AUTOREN | |
Alexandra Manske | |
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