# taz.de -- Altersvorsorge für Selbstständige: Digital, flexibel – und im A… | |
> Drei Millionen Freiberufler haben keine Alterssicherung. Arbeitsminister | |
> Hubertus Heil will das jetzt ändern. Selbstständige reagieren meist | |
> skeptisch. | |
Bild: Nicht alle Frauen im „Wonder“ haben Vertrauen in die SPD | |
BERLIN taz | Der [1][Coworking Space] „Wonder“ im Berliner Stadtteil | |
Prenzlauer Berg sieht auf den ersten Blick genauso aus, wie man sich solch | |
einen Ort vorstellt: modern eingerichtet, Möbel wie aus dem | |
Designerkatalog, auf den Tischen frische Blumen und Schalen mit Obst. Zu | |
kaufen gibt es Fairtrade-Limonaden und Snacks, an den Wänden hängen Bilder | |
mit Sprüchen wie „Live.Laugh.Love.“. | |
Es ist 9.30 Uhr an einem Dienstagmorgen, noch ist kaum jemand da. Die | |
Selbstständigen arbeiten flexibel – die meisten von ihnen werden erst gegen | |
Mittag eintreffen und dafür bis abends vor ihren Macbooks sitzen bleiben. | |
Lediglich in einem Punkt unterscheidet sich dieser Coworking Space von den | |
ungefähr 100 anderen, die in den vergangenen Jahren in Berlin eröffnet | |
wurden: Hier arbeiten nur Frauen. | |
Die Gründerin Shaghayegh Karioon stellt sich als Shari vor. Die Idee, einen | |
rein weiblichen Space zu eröffnen, sei ihr schon vor Jahren gekommen – | |
„rein zufällig“, wie sie lachend erzählt. 2018 folgte die Eröffnung. Die | |
Frauen, die jetzt im „Wonder“ arbeiten, sind Teil einer neuen Arbeitswelt: | |
flexibel und digital. | |
Vor wenigen Tagen kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) | |
[2][für Selbstständige ein neues Gesetz] an: Sie sollen künftig zur | |
Altersvorsorge verpflichtet werden, privat oder über die gesetzliche | |
Rentenversicherung. Drei Millionen Selbstständige seien momentan nicht | |
abgesichert, sagte Heil der Rheinischen Post. Auch sie hätten nach einem | |
Leben harter Arbeit eine Alterssicherung verdient. Es gehe um „eine große | |
sozialpolitische Reform“. | |
## Selbstständige gegen Lebensrisiken absichern | |
Schon im Februar hatte SPD-Chefin Andrea Nahles angekündigt, Erwerbstätige | |
auch in Zeiten des digitalen Wandels gegen Lebensrisiken wie | |
Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege oder unzureichende Altersvorsorge | |
absichern zu wollen. Die Zukunft der Arbeit und des Sozialstaats wolle die | |
SPD zu einem politischen Schwerpunkt machen. Schlagwort: „Arbeit 4.0“. | |
Dabei würden auch die Selbstständigen schärfer in den Fokus genommen. | |
Das Konzept der Grundrente, das Arbeitsminister Heil im gleichen Monat | |
vorstellte, kommt recht klassisch daher. Demnach soll jede*r, der oder die | |
mindestens 35 Jahre in die gesetzlichen Rentenkassen eingezahlt hat, | |
Anrecht auf einen Rentenzuschlag haben. Davon ausgenommen sind jedoch | |
bislang Selbstständige und Freelancer wie Shari Karioon, die sich komplett | |
eigenverantwortlich um ihre Sozialversicherung kümmern müssen. | |
Der Regelbeitragssatz der Rentenversicherung von 566,37 Euro in den alten | |
und 501,27 Euro in den neuen Bundesländern ist für viele zu hoch. Auch | |
Karioon hat erst vor Kurzem eine Rentenversicherung abgeschlossen. | |
Jahrelang schob sie diesen Schritt vor sich her. „Eigentlich blöd“, erzäh… | |
sie und greift schulterzuckend nach ihrer Kaffeetasse. „Aber diese | |
Zusatzkosten wollte ich zu Beginn meiner Selbstständigkeit nicht haben.“ | |
Nun schloss Karioon private Versicherungen ab. Denn ohne privat | |
vorzusorgen, davon ist sie überzeugt, sei die finanzielle Absicherung im | |
Alter für Freiberufler*innen wie sie gefährdet. | |
## Sozialversicherung – eine Herausforderung | |
Laut Selbstständigen-Report 2018 sehen 85 Prozent der Selbstständigen die | |
fehlende [3][soziale Absicherung als Problem]. Der Report wird vom Verband | |
der Gründer und Selbstständigen Deutschland herausgegeben. Ebenfalls 85 | |
Prozent fühlen sich von der Politik bisher nicht oder wenig respektiert. | |
Im Koalitionsvertrag einigten sich die SPD und Union auf eine gesetzliche | |
Alterssicherung für Selbstständige. Bundesarbeits-minister Heil will, dass | |
die Betroffenen Mitglied in einem Versorgungswerk werden, wie etwa Ärzte | |
und Anwälte, sich durch die Rürup-Rente absichern oder eben durch die | |
gesetzliche Rentenversicherung. Bis Jahresende soll der Gesetzentwurf | |
vorliegen. Vertreter anderer Parteien und Sozialverbände signalisierten | |
bereits Zustimmung zu dem Plan. | |
Birgit Wehinger, die sich als freie Texterin und Textberatin im „Wonder“ | |
eingemietet hat, bleibt dagegen skeptisch: „Die Rente ist seit Jahren Thema | |
der Politik, aber nichts hat sich bisher geändert.“ Seit der Agenda 2010 | |
hätten die Sozialdemokrat*innen so sehr an Glaubwürdigkeit verloren, dass | |
sie entsprechende Vorschläge nicht mehr ernst nehmen könne. Aber ja: Die | |
Sozialversicherung sei auch für sie eine Herausforderung, sagt Wehinger und | |
schiebt ihre Brille zurecht. Eine Rentenversicherung komme für sie aber | |
erst bei einer stabilen Auftragslage infrage. | |
## Grüne und FDP unter Freelancern beliebt | |
Etwas mehr erhofft sich Shari Karioon von den Plänen der SPD. Viel zu lange | |
habe sich die Partei nur um sich selbst gedreht und dabei ihre Kernthemen | |
„Arbeit und Rente“ vergessen. Der jetzige Weg führe in die richtige | |
Richtung. | |
So richtig viel Vertrauen setzt aber keine der Frauen im „Wonder“ in die | |
SPD. Viele wählen dort eher die Grünen oder die FDP, erzählen sie im | |
persönlichen Gespräch. Damit sind sie unter Selbstständigen nicht allein: | |
Gut 10 Prozent würden laut Selbstständigen-Report 2018 den | |
Sozialdemokrat*innen ihre Stimme geben. Für die Positionen der Grünen | |
begeistert sich indes ein Viertel der Befragten, die FDP kommt ähnlich gut | |
an. | |
Als Antwort auf die Grundrente der SPD hat die FDP ein Modell der | |
Basisrente vorgelegt, welches stärker als die Sozialdemokraten auf die | |
Bedürfnisse von Selbstständigen eingeht. Johannes Vogel, arbeits- und | |
rentenpolitischer Sprecher der FDP, sagt, dass Selbstständige die Freiheit | |
haben sollten, die Form ihrer Vorsorge selbst zu wählen. Dafür bräuchte es | |
etwa Übergangsfristen, „um Gründerinnen und Gründer in der Anfangszeit | |
nicht zusätzlich zu belasten“. | |
## Mutterschutz in der Selbständigkeit | |
Dieser Vorschlag kommt im Berliner Coworking Space gut an – mit Vorbehalt. | |
Inzwischen hat sich das „Wonder“ gefüllt, fast alle Arbeitsplätze sind | |
belegt. Ein paar Meter von Birgit Wehingers Schreibtisch entfernt sind die | |
privaten Büros, die von kleineren Unternehmen und Start-ups angemietet | |
werden können. Hier sitzt Michaela Krause mit ihren Angestellten der | |
Kommunikations-beratung „Laika Berlin“. Von der Politik, erzählt sie | |
lachend, fühlt sie sich bisher vor allem steuerlich wahrgenommen. | |
Den Vorschlag der FDP, Übergangsfristen für Selbstständige einzuführen, | |
hält Krause mittelfristig für sinnvoll. Modelle für Einzahlungen in die | |
Sozialversicherungen müssten ihrer Meinung nach generell flexibler werden, | |
sodass auch zeitweise niedrigere Beiträge oder Einzahlpausen bei | |
schwieriger Auftragslage möglich seien. Auf lange Sicht schätzt sie jedoch | |
sowohl die Vorschläge von SPD als auch von der FDP als nicht wirklich | |
relevant ein: „Wer weiß, ob die gesetzliche Rente in ein paar Jahren so | |
noch tragbar ist.“ | |
Shari Karioon stimmt Krause zu. Heute wird sie schon gegen 14 Uhr | |
Feierabend machen. Die Mutter einer kleinen Tochter hat aber noch einen | |
anderen Wunsch: Sie hofft, dass die Regierung auch Konzepte für | |
Mutterschutz und Elternzeit in der Selbstständigkeit entwickelt. Gerade für | |
Frauen wäre das wichtig: „Im Alter zwischen 30 bis 40 Jahre gründet man – | |
und bekommt Kinder. Wer selbstständig ist, hat aber kaum Anrecht auf | |
Mutterschutz oder die Befreiung von Krankenkassenbeiträgen während der | |
Elternzeit.“ Viele Frauen würden sich also zwischen Firmengründung oder | |
Kindern entscheiden müssen, weil sie beides nicht miteinander verbinden | |
könnten. | |
20 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Leonie Schöler | |
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