# taz.de -- Kopftuch an Schulen: Alles bleibt ruhig | |
> Befürworter*innen des Kopftuchverbots sagen, das Tuch gefährde den | |
> „Schulfrieden“. Stimmt das? Zu Besuch in einer Bremer Schule. | |
Bild: Um das Kopftuch an Schulen wird erbittert gestritten – und in den Schul… | |
BREMEN taz | Die Klasse 9c der Oberschule Koblenzer Straße (OSK) ist eine | |
recht gewöhnliche Schulkasse: Hier sitzen Schülerinnen mit Kopftuch neben | |
solchen ohne, Schülerinnen ohne Make-up neben solchen mit sorgsam geklebten | |
künstlichen Nägeln und Wimpern, Schüler in angesagten Markenklamotten neben | |
solchen, deren Klamotten aussehen, als hätte Mama sie noch ausgesucht. | |
Sie heißen Qamar, Sunita, Melda, Sophie, Berra, Milain, Kevin, Sude, | |
Sylvia, Viktoria, Laura, Diana, Emre, Rogesch, Wladimir, Machmud, Tarik und | |
Ghadir. Und kaum einer von ihnen kann nachvollziehen, warum ein Stück Stoff | |
auf dem Kopf ihrer Lehrerin ein Problem sein soll. | |
„Wieso?“, meint Machmud verständnislos, „Sie bekommt ja ihre Aufgaben von | |
…“, er stockt, „also von wo auch immer Lehrer die herkriegen. Und das ist | |
das, was sie uns beibringt. Die erzählt uns doch hier nichts über ihr | |
Kopftuch.“ | |
So sehen das fast alle Kinder hier: Der Hijab ist für sie ein alltäglicher | |
Anblick. Staatliche Neutralität, Schulfriede – für sie sind das, wenn man | |
sie als Reporterin ganz direkt danach fragt, Begriffe, mit denen sie wenig | |
anfangen können – und die ihnen vorgeschoben vorkommen. | |
„Wieso ist das neutral, wenn man das Kopftuch hier nicht haben will?“, sagt | |
einer. Und seine Klassenkameradin Viktoria ergänzt: „Es geht doch immer nur | |
um Menschen, die Kopftuch tragen. Nie um Leute, die ein Kreuz umhaben oder | |
sowas. Das ist doch total respektlos.“ | |
## Die Argumente der Erwachsenen | |
Die [1][Argumente der Kopftuchgegner*innen], die Argumente der | |
Erwachsenen, sie lehnen sie ab: „Die Kleinen sehen das doch gar nicht so | |
richtig, die wissen davon doch noch nichts“, meint Sude, wenn man sie | |
fragt, ob nicht gerade Grundschülerinnen sich unter Druck gesetzt fühlen | |
könnten, weil Lehrerinnen in dem Alter noch wichtige Identifikationsfiguren | |
und Vorbilder sind. | |
„Die Lehrerinnen werden doch immer sagen, dass das eine Entscheidung ist, | |
die man selber treffen muss. Dass das etwas ist, was man für sich macht und | |
nicht für andere“, sagt auch Laura auf die Frage, ob eine Kopftuch tragende | |
Lehrerin den Druck auf diejenigen Kinder verstärkt, die keins tragen wollen | |
– oder ihres ablegen möchte, vielleicht entgegen dem Willen des | |
Elternhauses. | |
Die OSK liegt im Bremer Ortsteil Tenever und ist das, was man | |
„Brennpunktschule“ nennt. Der Stadtteil im Osten, dicht an der A 27, ist | |
eines dieser Überbleibsel der Beton-verliebten Wohnungsbaupolitik der 70er | |
Jahre, hier wohnen noch immer vor allem Migrant*innen und Menschen mit | |
geringem Einkommen – auch wenn man hier in den vergangenen Jahren eine | |
Menge Geld hineingesteckt hat, um alles ein wenig grüner, bunter und heller | |
zu machen. | |
Zwei Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten an der Schule. „Das Kopftuch war | |
nicht ausschlaggebend für die Einstellung – da sind Fächerkombinationen und | |
Leistungen erst einmal wichtiger“, sagt Schulleiter Christian Scheidt. Aber | |
natürlich hatte man auch im Hinterkopf, dass diese Kolleginnen positive | |
role models für die Schülerinnen sein könnten – als Beleg dafür, dass man | |
auch mit Kopftuch studieren, einen Beruf ausüben kann. | |
Die Begegnung mit den Kolleginnen habe allerdings auch seinen Blick auf das | |
Thema verändert, sagt Scheidt. „Wer die beiden je erlebt hat, wird nie auf | |
die Idee kommen, dass es sich hierbei um arme, vom Patriarchat unterdrückte | |
Wesen handelt – im Gegenteil. Die stehen halt mit beiden Beinen im Leben, | |
sind sehr geschätzte und respektierte Kolleginnen.“ | |
Auch in der Elternschaft sei das Kopftuch der Lehrerinnen eigentlich | |
überhaupt kein Thema, versichert Elternvertreter Volker Birne: „Wir haben | |
echt eine Menge Probleme im deutschen Bildungssystem – aber das Kopftuch | |
gehört bestimmt nicht dazu.“ | |
## Störende Diskussionen? | |
Und wenn es anders wäre? Wenn es Eltern gäbe, die sich daran störten, wenn | |
der Schulfriede gestört wäre, wie sähe das dann aus? „Ist der Schulfrieden | |
denn schon gestört, wenn es ein paar Diskussionen gibt?“, fragt Schulleiter | |
Scheidt zurück. | |
Anisa Redecker (Name geändert) hat diese Diskussionen schon viel länger | |
geführt, als ihr lieb ist. Allerdings nicht an der OSK, an der sie seit | |
2016 unterrichtet. Auch nicht in der 9c, die sie in Deutsch und Politik | |
hatte, bevor sie in Elternzeit ging. Überhaupt nur sehr selten mit | |
Schüler*innen und deren Eltern. Sondern vor allem mit „Feministinnen über | |
50“, wie sie es ausdrückt. | |
Das seien eben diejenigen, die in den Kollegien, den Schulleitungen, den | |
Schulverwaltungen säßen. Diejenigen, die im Zweifel sagen: „Die passt nicht | |
ins Team“, wenn es um Neueinstellungen geht. Diejenigen, die ihr vorwerfen, | |
sie würde mit dem Tuch auf ihrem Kopf alles in Frage stellen, worum die | |
Frauenbewegung so lange gekämpft hat. „Du wirfst uns um Jahrzehnte zurück�… | |
hat sie schon zu hören bekommen. Sie könne das ein Stück weit | |
nachvollziehen, sagt sie. „Vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrungen | |
müssen die das vielleicht so sehen.“ Sie versuche dann klar zu machen, dass | |
es doch auch ihr um die gleichen Werte gehe: Selbstbestimmung, Freiheit. | |
Tatsächlich begreift Redecker ihr Tuch als Akt der Selbstbehauptung, der | |
Emanzipation. Erst in der Pubertät habe sie die Religion für sich entdeckt; | |
in ihrer Familie – muslimische Roma aus dem Kosovo – spielte die kaum eine | |
Rolle. Weder ihre Mutter, noch ihre Schwestern und auch nicht ihre Cousinen | |
tragen das Tuch, von zwei Tanten einmal abgesehen – und selbst die hätten | |
es erst spät im Leben aufgesetzt, sagt Redecker. | |
Die meisten hätten ihr davon abgeraten, als sie anfing, damit zu | |
experimentieren. Sie trug es erst nur in der Freizeit. Sie war fasziniert | |
von der Wirkung, die es hatte. Wie anders man ihr entgegentrat. Wie sie | |
plötzlich raus war aus dem ewigen Abchecken und Vergleichen, selbst unter | |
Frauen. Irgendwann gehörte das Tuch zu ihr. Ihr damaliger Freund und | |
jetziger Mann, der selbst nicht muslimisch ist, akzeptierte das. Sie konnte | |
sich nicht länger vorstellen, es im Beruf einfach wieder abzunehmen. | |
In einer Alice-Schwarzer-Biografie habe sie gelesen, dass diese ihren | |
jugendlichen Minirock-und-Stiefel-Look aufgegeben habe, weil sie das Gefühl | |
hatte, so nicht ernst genommen zu werden. „Warum kann sie diese Erfahrung | |
nicht auf mich und mein Kopftuch übertragen?“, fragt Redecker. | |
Das gehört zu den Dingen, die sie verbittern, an dieser endlosen | |
Diskussion, die sich seit Jahren im Kreis zu drehen scheint: Das über ihren | |
tuchbedeckten Kopf hinweg gesprochen wird, ihre Geschichte, ihre | |
Entscheidung nicht gehört und vor allem: nicht ernst genommen wird – weil | |
sie als Stellvertreterin herhalten muss, für einen „politischen Islam“. | |
## Putzen geht in Ordnung | |
„Niemand macht sich die Mühe, wirklich hinzuschauen“, sagt sie. „Und es | |
geht dabei natürlich auch immer nur um gehobene Positionen, Akademikerjobs. | |
Niemand hat ein Problem damit, dass du ein Kopftuch trägst, wenn du die | |
Schule putzt.“ | |
Und gleichzeitig, sagt sie, machten sich die Politiker*innen nicht einmal | |
die Mühe, die aktuelle Gesetzgebung – etwa das Berliner Neutralitätsgesetz | |
– sauber zu argumentieren. „Seit 20 Jahren verweisen die einschlägigen | |
Gerichtsurteile immer wieder auf diesen ‚Schulfrieden‘. Aber eine klare | |
Definition, was das eigentlich sein soll, gibt es immer noch nicht“, sagt | |
die 33-Jährige wütend. | |
Und auch bei der „Neutralität“ messe man ja mit zweierlei Maß, sagt sie. | |
Als sie ihr Referendariat antrat, versuchte Bremen noch, sein | |
Kopftuchverbot zu retten. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes | |
mussten dann zunächst Referendarinnen mit Kopftuch zugelassen werden – weil | |
der Staat das Monopol auf diesen Ausbildungsweg hatte und ein Ausschluss | |
einem Berufsverbot gleich gekommen wäre. Übernommen wurden sie aber | |
zunächst nicht, verbeamtet schon gar nicht, auch nicht auf Probe – bis nach | |
einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Januar 2015 auch das nicht | |
mehr ging. | |
Redecker sagt, sie habe noch in einem Formular ankreuzen müssen, ob sie | |
„religiöse Symbole (Kopftuch oder ähnliches)“ im Unterricht zu tragen | |
gedenke. Sie erinnert sich an einen Kollegen, der sich einen Bibelvers auf | |
den Unterarm hatte tätowieren lassen und wissen wollte, ob er da auch „ja“ | |
ankreuzen müsse. Nein, habe es geheißen. Wenn sich jemand beschweren | |
sollte, könne er ja den Ärmel drüber machen. | |
Die offensichtliche Ungerechtigkeit, die unverhohlene Diskriminierung, | |
macht sie bis heute fassungslos. Genauso wie der gewaltige Aufwand, mit dem | |
man hier versucht, eine Minderheit – unter Musliminnen trägt nur etwa ein | |
Drittel das Tuch – von bestimmten Jobs fernzuhalten. | |
Auch bei Annett Abdel-Rahman haben 20 Jahre Kopftuch-Debatte Spuren | |
hinterlassen. Noch heute klingt sie verletzt, wenn sie von ihrem | |
Referendariat spricht. Obwohl sie als Expertin für den islamischen | |
Religionsunterricht in Niedersachsen eine Nische für sich gefunden hat, die | |
ihr erlaubt, akademische Forschung, Ausbildung und das Unterrichten von | |
Kindern zu vereinen. | |
Danach hatte es für etliche Jahre nicht ausgesehen. Abdel-Rahman hatte ihr | |
Referendariat kurz nach dem 11. September 2001 angetreten – keine gute Zeit | |
für Muslim*innen. „An der Schule wurden Unterschriften gegen mich | |
gesammelt. Niemand sprach mit mir, niemand wollte mit mir diskutieren. Es | |
gab sogar Lehrkräfte, die meine Schüler aufgefordert haben, meinen | |
Unterricht zu verlassen.“ Vom Vorstellungsgespräch bis zur | |
Abschlussprüfung, anderthalb Jahre lang, seien ihr unverhohlen Steine in | |
den Weg gelegt worden, sagt die jetzt 50-Jährige. | |
Sie biss sich trotzdem durch. Und auch sie entspricht kaum dem Klischee vom | |
unterdrückten Kopftuchmädchen. Abdel-Rahman ist in Ostdeutschland geboren | |
und aufgewachsen, verliebte sich im Studium in einen ägyptischen Mann und | |
konvertierte zum Islam. | |
Die Bevormundung und Anmaßung, die darin liege, einer muslimischen Frau | |
einfach mal zu sagen: „Zieh dich aus“, findet sie skandalös. | |
Trotz der eigenen, zum Teil bitteren Erfahrungen pflegen beide Frauen einen | |
vorsichtigen Optimismus. [2][Seit 2015 unterrichten in vielen Bundesländern | |
vereinzelte Lehrerinnen mit Kopftuch] – wie viele es genau sind, wissen die | |
Statistiken der Bildungsministerien nicht. „Und es passiert einfach nichts. | |
Die Erde bebt nicht, der Schulfriede zerbricht nicht“, sagt Annett | |
Abdel-Rahman. „Es sind einfach ganz normale Lehrerinnen mit den gleichen | |
Stärken und Schwächen wie alle anderen auch.“ | |
19 Oct 2020 | |
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[2] /Berliner-Kopftuch-Streit/!5710468&s=2015+bundesverfassungsgericht/ | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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