| # taz.de -- „Konzertierte Aktion“ des Kanzlers: Einst ein Flop, jetzt wiede… | |
| > Kanzler Scholz kündigt eine „konzertierte Aktion“ an. Die Gewerkschaften | |
| > sollen Tarifforderungen zurückschrauben. Kann das die Inflation bremsen? | |
| Bild: Im Jahre 1973 kam es zu spontanen Arbeitsniederlegungen, wie hier der Mü… | |
| 1 Für kommenden Montag ruft Olaf Scholz zur „konzertierten Aktion“ auf. | |
| Warum? | |
| Im Bundestag hat Scholz am 1. Juni seine Initiative damit begründet, dass | |
| angesichts der dramatisch steigenden Preise „eine gezielte Kraftanstrengung | |
| in einer ganz außergewöhnlichen Situation“ notwendig sei. Er fürchtet, dass | |
| die „externen Schocks“ – der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, | |
| aber auch die Folgen der Coronapandemie – zu einer „dauerhaften | |
| Inflationsspirale“ führen. Dem will er mit der „konzertierten Aktion“ | |
| begegnen. | |
| Für das erste Treffen am Montag hat Scholz jeweils acht Vertreter:innen | |
| von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden sowie den Präsidenten der | |
| Bundesbank und einen „Wirtschaftsweisen“ eingeladen. Die Bundesminister für | |
| Finanzen, Wirtschaft sowie Arbeit und Soziales sollen auch dabei sein. | |
| 2 „Konzertierte Aktion“? Klingt komisch. Was ist damit gemeint? | |
| Der Duden übersetzt „Konzertierung“ mit Abstimmung oder Koordinierung. Eine | |
| „konzertierte Aktion“ ist also eine abgestimmte Aktion, hier der Regierung | |
| mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften. [1][Die Idee stammt von dem | |
| einstigen sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller aus der | |
| Zeit der ersten Großen Koalition.] Mitte der 1960er Jahre erhoffte er sich | |
| davon die Überwindung der ersten wirtschaftlichen Rezession in der | |
| Bundesrepublik, als mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ etwa 500.000 | |
| Menschen ihre Stelle verloren. | |
| Ziel war es, einen hohen Beschäftigungsstand, Preisstabilität und ein | |
| angemessenes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Dabei hing Schiller der | |
| korporatistischen Vorstellung an, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften | |
| gütlich einigen sollten, moderiert vom Staat. | |
| Mittels regelmäßiger Treffen – Schiller sprach von einem „Tisch der | |
| gesellschaftlichen Vernunft“ – sollten die beteiligten Akteure zu einer | |
| freiwilligen Verhaltensabstimmung bewegt werden, die dem | |
| gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zuträglich sein sollte. Dabei sollte | |
| eine „soziale Symmetrie“ gewahrt werden. Das erste Treffen der | |
| „Konzertierten Aktion“ fand am 14. Februar 1967 statt. | |
| 3 Hat die alte „konzertierte Aktion“ funktioniert? | |
| Nö, hat sie nicht. Was zunächst geklappt hat, war die von der Regierung | |
| gewünschte Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften – nicht zuletzt bedingt | |
| durch die personelle Verflechtung und politische Nähe von Gewerkschafts- | |
| und SPD-Führung. Das Ergebnis waren Tarifabschlüsse mit minimalen nominalen | |
| Lohnsteigerungen, die dazu führten, dass die Reallöhne 1967 um 1,6 und 1968 | |
| um 1,0 Prozent fielen. Das wurde aber von den Arbeitgebern nicht gedankt. | |
| Das Wachstum kehrte schneller zurück als prognostiziert, die Firmengewinne | |
| explodierten. Während sie satte Profite einstrichen, wollten die | |
| Unternehmen von „sozialer Symmetrie“ nichts mehr wissen. Schillers | |
| Versprechen, dass Gewinne und Löhne im Gleichklang steigen sollten, blieb | |
| unerfüllt. Das brachte die Gewerkschaften in die Bredouille, denn die | |
| Arbeitnehmer:innen fühlten sich betrogen. Die Folge waren bundesweite | |
| „wilde Streiks“ im September 1969. | |
| Daraufhin sahen sich die Gewerkschaften gezwungen, ihre Tarifpolitik | |
| radikal zu ändern und wieder kämpferischer zu werden, um nicht ihre Basis | |
| zu verlieren. Das allerdings führte zu einer Lohn-Preis-Spirale, da die | |
| Firmenchefs die erhöhten Lohnkosten auf die Kund:innen abwälzten. Die | |
| Ölkrise 1973 heizte die Inflation zusätzlich an. Die Konsequenz war ein | |
| massiver Konjunktureinbruch, verbunden mit drastischen | |
| Arbeitsplatzverlusten. | |
| Offiziell beendet wurde die „Konzertierte Aktion“, nachdem die | |
| Arbeitgeberverbände 1976 beim Bundesverfassungsgericht gegen das neue | |
| Mitbestimmungsgesetz Klage eingereicht hatten. Zunächst sagten die | |
| Gewerkschaften deswegen 1977 ihre Teilnahme nur vorläufig ab. 1978 | |
| beschloss ein DGB-Kongress den endgültigen Abschied. | |
| 4 Warum bedient sich Scholz dieses alten Begriffes? | |
| Weil er heute positiv besetzt ist – aufgrund einer Verklärung, die in den | |
| vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Je weniger man sich erinnert, | |
| wie es wirklich war, desto strahlender erscheint die Vergangenheit. Gerhard | |
| Schröder hatte seinen korporatistischen Versuch 1998 noch anders genannt, | |
| nämlich „Bündnis für Arbeit“. Das allerdings war ein kompletter Flop, im | |
| März 2003 wurde es beerdigt. Wenige Tage später verkündete Schröder die | |
| Agenda 2010. | |
| 5 Was will Scholz mit seiner „konzertierten Aktion“ konkret erreichen? | |
| Seinen bisherigen öffentlichen Äußerungen zufolge geht es Scholz darum, die | |
| Gewerkschaften dazu zu bewegen, ihre Tarifforderungen zurückzuschrauben und | |
| sich mit den Arbeitgebern vor allem auf Einmalzahlungen zu verständigen. | |
| Sein Lockmittel ist, diese Einmalzahlungen steuer- und | |
| sozialversicherungsfrei zu stellen. Vorbild ist der Coronabonus. „Die gute | |
| Idee dahinter ist, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern finanziell Luft | |
| zu verschaffen, ohne die Arbeitgeber zu überfordern und Inflationsrisiken | |
| anzuheizen“, meint der Kanzler. Doch Scholz wird sich mehr einfallen lassen | |
| müssen. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände haben | |
| bereits klargestellt, dass sie sich nicht in ihre Tarifautonomie | |
| hereinreden lassen werden. | |
| 6 Einmalzahlungen statt höherer Löhne – ist das denn keine gute Idee? | |
| Das kommt darauf an. Einmalzahlungen können in einer ökonomisch unsicheren | |
| Situation ein probates Mittel sein, um Beschäftigten schnell eine | |
| Entlastung für gestiegene Lebenshaltungskosten zukommen zu lassen, aber | |
| nicht dauerhaft die Lohnkosten eines Unternehmens zu erhöhen. Ein Beispiel | |
| dafür ist die Brückenzahlung in Höhe von einmalig 1.400 Euro für die | |
| 580.000 Beschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie, auf die | |
| sich Anfang April die Tarifpartner:innen verständigt haben. Ein großer | |
| Vorteil von nicht gestaffelten Einmalzahlungen ist, dass davon | |
| Mitarbeitende mit geringen Löhnen am stärksten profitieren. | |
| 7 Was haben die Gewerkschaften dann dagegen? | |
| Das mit den Einmalzahlungen klingt einfach, ist es aber nicht. Schon beim | |
| Coronabonus war es so, dass für etliche Unternehmen der staatliche Anreiz | |
| der Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit nicht ausreichte, um ihn an | |
| ihre Beschäftigten auszuzahlen. Viele Beschäftigte gingen leer aus. | |
| Sicherlich könnten sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften | |
| tarifvertraglich auf Einmalzahlungen verständigen. Aber: Nach den jüngsten | |
| Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind 74 Prozent | |
| der Betriebe in Deutschland weder an einen Flächen- noch einen | |
| Haustarifvertrag gebunden. Bundesweit arbeiten gerade noch 51 Prozent der | |
| Beschäftigten auf einer tarifvertraglichen Grundlage – in den ostdeutschen | |
| Ländern sind es nur 43 Prozent. | |
| Hinzukommt, dass es in vielen Branchen in diesem Jahr gar keine | |
| Gehaltstarifverhandlungen mehr geben wird. Neben ein paar kleineren stehen | |
| nur zwei große Bereiche 2022 vor Tarifauseinandersetzungen: die Metall- und | |
| Elektroindustrie (3,8 Millionen Beschäftigte) und die Chemieindustrie | |
| (581.000 Beschäftigte). Was ist mit dem Rest, dessen Tarigverhandlungen | |
| erst wieder im kommenden pder übernächsten Jahr anstehen? | |
| Und was ist mit den Menschen, die nicht sozialversicherungspflichtig | |
| beschäftigt sind – Erwerbslose oder Soloselbstständige, Studierende oder | |
| Rentner:innen? Da greift die Tarifpartnerschaft nicht, hier steht | |
| alleine der Staat in der Veranwortung. | |
| 8 Das spricht aber nicht generell gegen Einmalzahlungen statt höherer | |
| Löhne, oder? | |
| Nein, aber es gibt weitere Haken. Erstens weist Bundesfinanzminister | |
| Christian Lindner zu Recht darauf hin, dass es „nicht angezeigt“ ist, auch | |
| die Einmalzahlungen von Unternehmen steuer- und abzugsfrei zu stellen, die | |
| kräftige Gewinne machen – die könnten sich im Übrigen nicht nur | |
| Sozialabgaben auf Einmalzahlungen leisten, sondern auch höhere Tarife. | |
| Zweitens ist eine einmalige Sonderzahlung immer nur ein Strohfeuer. Was | |
| ist, wenn die Lebenshaltungskosten weiter hoch bleiben? Die Einmalzahlung | |
| ist dann aufgebraucht. Das lässt sich nur durch generelle Lohnerhöhungen | |
| abfedern. | |
| Drittens hat bereits die Coronapandemie hat bei den Beschäftigten zu | |
| Reallohnverlusten geführt. Laut den Berechnungen des gewerkschaftsnahen | |
| Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) stiegen die | |
| Tarifverdienste im vergangenen Jahr im Schnitt lediglich um 1,7 Prozent, | |
| während sich die Verbraucherpreise aber um 3,1 Prozent erhöhten. Das ergibt | |
| für 2021 einen Reallohnverlust von 1,4 Prozent. | |
| Bei einer Inflation von knapp 8 Prozent sind die Verbraucherpreise für | |
| Energie im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 38 Prozent | |
| gestiegen, für Nahrungsmittel um mehr als 11 Prozent. Um Menschen nicht in | |
| Existenznot zu bringen, sind sowohl ordentliche Lohnabschlüsse als auch | |
| weitere staatliche Entlastungspakete erforderlich. | |
| 9 Steigen die Preise nicht weiter, wenn die Gewerkschaften auf höheren | |
| Löhnen beharren? | |
| Auch hier gilt: Das kommt darauf an. Auslöser der aktuellen Inflation sind | |
| ein eingeschränktes Rohstoff- und Warenangebot als Auswirkung der | |
| Coronapandemie und des Ukrainekriegs, gepaart mit Spekulationen. Wenn | |
| darauf mit Lohnsteigerungen reagiert wird, besteht tatsächlich die Gefahr, | |
| dass sich höhere Tarife und Preissteigerungen gegenseitig hochschaukeln. | |
| Das passiert aber nur, wenn die Unternehmen die gestiegenen Lohnkosten an | |
| die Kund:innen weitergeben. | |
| Das ist keine Zwangsläufigkeit, zumal zahlreiche Unternehmen auch und | |
| gerade in der Krise blendende Geschäfte machen. So verbuchte die deutsche | |
| Autoindustrie 2021 trotz Lieferengpässen und Kurzarbeit Rekordgewinne. Die | |
| Alternative zu Lohnzurückhaltung könnte daher auch Gewinnzurückhaltung | |
| sein. | |
| Der englische Wirtschaftsjournalist Martin Sandbu hat das in der Financial | |
| Times ganz gut erklärt: „Theoretisch kann man eine Lohn-Preis-Spirale | |
| verhindern, indem man eine der beiden Verbindungen unterbricht: den Versuch | |
| der Arbeitnehmer, ihren Reallohn zu schützen (oder zu erhöhen), oder den | |
| Versuch der Unternehmen, ihre Gewinnspanne oder ihre reale Rendite zu | |
| schützen (oder zu erhöhen).“ | |
| Statt die Gewerkschaften zu Lohnzurückhaltung aufzufordern, wäre es also | |
| auch möglich, von den Unternehmen zu verlangen, nicht an ihren Gewinnmargen | |
| festzuhalten. Davon ist allerdings bislang von Olaf Scholz nichts zu hören. | |
| 3 Jul 2022 | |
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| Pascal Beucker | |
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