# taz.de -- Konstituierung des neuen Bundestags: Die Herausforderung | |
> Der Tag, an dem sich der 19. Bundestag konstituiert, kann zu beidem | |
> taugen: als Beunruhigung, was die kommenden vier Jahre angeht. Aber auch | |
> als Ermutigung. | |
Bild: Suchbild mit „gärigem Haufen“ | |
BERLIN taz | Um viertel vor elf kommen sie. Die Abgeordneten der | |
Alternative für Deutschland entern das Plenum des Deutschen Bundestags. | |
Alexander Gauland hat seine Hundekrawatte umgebunden, Alice Weidel sieht in | |
ihrem taillierten Jackett aus, als käme sie gerade vom Morgenausritt im | |
Tiergarten. | |
Küsschen und Umarmungen, Selfies und Schulterklopfen. Und oben von der | |
Besuchertribüne schäkert Jörg Meuthen mit seinen Leuten. Daumen hoch, wir | |
sind drin! Die Siegestrunkenheit ist nur mäßig kaschiert. Das ist auch | |
nicht der Plan. | |
Klar ist, die AfD will provozieren. Als „gäriger Haufen“ wolle man die | |
„Altparteien“ herausfordern, hat der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland | |
die Marschrichtung in seiner raunenden Rhetorik umrissen. Und man muss sich | |
da auch nichts vormachen. Die parlamentarische Demokratie in diesem Land | |
mag eine stolze sein; ihre bisherigen Vertreterinnen und Vertreter lassen | |
es an Selbstbewusstsein nicht mangeln. | |
Aber ob sie auch eine wehrhafte Demokratie gegenüber | |
Geschichtsrevisionisten und Fremdenfeinden zu sein vermag, wie 83 Prozent | |
der WählerInnen das erhoffen, wird sich erweisen müssen. Und zwar nicht nur | |
an diesem Oktoberdienstag, sondern an jedem Tag dieser 19. | |
Legislaturperiode. Also auch dann, wenn die Kameras aus sind. | |
## Kleines Gerangel zu Beginn | |
Die konstituierende Sitzung beginnt – nach der wenig inspirierenden Rede | |
des altgedienten FDP-Politikers Hermann Otto Solms – mit einem kleinen | |
Gerangel. Carsten Schneider, neuer Fraktionsmanager der Sozialdemokraten, | |
bringt den Antrag ein, heute die Regeln für die Regierungsbefragungen zu | |
verändern. Der Bundestag müsse wieder zur Bühne für echte politische | |
Auseinandersetzungen werden, sagt er, die Kanzlerin solle sich viermal im | |
Jahr den – nicht abgestimmten – Fragen der Abgeordneten stellen. | |
Tatsächlich waren diese Befragungen in der Vergangenheit an demonstrativem | |
Gleichmut kaum zu toppen. | |
„Der Bundestag braucht neue Regeln“, sagt also Schneider. Dann ein | |
Frontalangriff auf die Kanzlerin: „Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein | |
Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopulistische Partei im Bundestag | |
haben.“ Die AfD-Abgeordneten sind begeistert. Genau das ist es, was sie | |
sich wünschen: Uneinigkeit. Doch das Gegenteil, nämlich Differenzen zu | |
kaschieren, wäre für den Parlamentarismus weit verheerender. | |
AfD-Mann Bernd Baumann forderte in seinem Geschäftsordnungsantrag, zur | |
alten Gepflogenheit zurückzufinden, den an Lebensjahren ältesten | |
Abgeordneten zum Alterspräsidenten zu machen. Das wäre der Ultrarechte | |
Wilhelm von Gottberg gewesen. Um den 19. Bundestag nicht gegebenenfalls von | |
einem AfDler eröffnen zu lassen, hatten die Abgeordneten noch kurz vor der | |
parlamentarischen Sommerpause die Geschäftsordnung geändert. Nun ist der | |
dienstälteste Politiker Alterspräsident. Der heißt Wolfgang Schäuble, wird | |
aber von Herrmann Otto Solms vertreten, weil Schäuble als | |
Bundestagspräsident kandidiert. | |
## Von nun an öfter gemeinsame Sache von SPD und Linke | |
Seit 1848 in der Paulskirche sei es in Deutschland Tradition, dass das | |
älteste, nicht das dienstälteste Mitglied die Versammlung eröffne, schimpft | |
also der AfD-Abgeordnete Baumann. Nur einmal sei diese Regel gebrochen | |
worden: als 1933 Reichstagspräsident Hermann Göring „politische Gegner | |
ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin“. Was so nicht ganz stimmt: | |
Tatsächlich hatte die Kommunistin Clara Zetkin 1932 den Reichstag als | |
Alterspräsidentin eröffnet, war allerdings 1933 nicht mehr die älteste | |
Parlamentarierin im Reichstag. | |
Der AfD-Abgeordnete Baumann fährt fort: „Es beginnt eine neue Epoche. Von | |
dieser Stunde an werden hier Themen neu verhandelt.“ Es ist dies der | |
Grundton der Partei: die eigenen Leute werden als Mobbing-Opfer der | |
„Altparteien“ dargestellt, notfalls indem man die mit Nazis gleichsetzt; | |
das Ganze gekleidet in drohende Rhetorik. | |
Am Ende stimmt die ja eigentlich erst noch zu bildende Jamaika-Koalition | |
geschlossen gegen sämtliche Geschäftsordnungs-Anträge von SPD, der Linken | |
und AfD. Erste Lektion: SPD und Linke werden von nun an öfter als früher | |
gemeinsame Sache machen müssen; auf die machtflexiblen Grünen können sie | |
nicht länger hoffen. Zweite Lektion: Wenn es dem eigenen Opferstatus nützt, | |
stimmt die AfD auch mit den anderen Oppositionsparteien. | |
Nur zwei fraktionslose Parlamentarier enthalten sich an diesem Dienstag. Es | |
sind die frühere AfD-Vorsitzende Frauke Petry und der NRWler Mario Mieruch; | |
die Bundestagsverwaltung hat den beiden in der allerletzten Reihe zwei | |
Stühle hingestellt. | |
## Eine fulminante Rede | |
Um 13.15 Uhr beginnt Wolfgang Schäuble zu sprechen. Er ist zuvor in | |
geheimer Wahl mit 501 Stimmen gewählt worden; bei 173 Neinstimmen und 30 | |
Enthaltungen. Der 75-Jährige ist gefasst, seine Stimme knarzt wie immer, | |
als er feststellt, dass der Präsident sein Mikrofon selbstständig | |
anschalten muss. „Muss ich selber drücken?“, ist deshalb auch sein | |
allererster Satz im neuen Amt. Schäuble lacht leise. „Aller Anfang ist | |
schwer.“ | |
Es ist dies sein xter Anfang. CDU-Vorsitzender, Minister, jetzt halt | |
Bundestagspräsident – in seinen 45 Jahren als Abgeordneter hat er schon | |
vieles gemacht und erlebt. Er hat Leute kommen und wieder gehen sehen, etwa | |
Helmut Kohl, mit dem ihn einst eine Freundschaft verbunden hat. Schäuble | |
aber blieb. Zuletzt war er Angela Merkels so loyaler wie kritischer | |
Bundesfinanzminister – es gibt wenige, die beides glaubhaft verbinden | |
können. Dass nun ausgerechnet Schäuble, der zur Jahrtausendwende die | |
CDU-Spendenaffäre mitverantwortet hat, als Bundestagspräsident die | |
Parteienfinanzierung kontrolliert, ist nicht frei von Ironie, die dem | |
Amtsinhaber kaum entgangen sein dürfte. | |
Schäuble hält an diesem Dienstag seines Amtsantritts eine gute, eine sehr | |
gute Rede. Er schafft es tatsächlich, jenes Maß an Würde zu vermitteln, das | |
die parlamentarische Demokratie nach dem zurückliegenden Wahlkampf dringend | |
braucht. In den zweiundzwanzig Minuten mahnt er vor allem Respekt vor den | |
Mehrheitsentscheidungen des Parlaments an. Dessen Beschlüsse dürften nicht | |
mit Prädikaten wie illegitim oder verräterisch verächtlich gemacht werden, | |
sagt er. In letzter Zeit seien Töne der Verächtlichmachung und Erniedrigung | |
laut geworden, die kein zivilisiertes Miteinander möglich machten. | |
Selbstverständlich sei für das Erreichen von Entscheidungen Streit | |
notwendig. Aber auch Kompromissfähigkeit und Regeln. Dazu gehöre Fairness. | |
„Prügeln sollten wir uns hier nicht.“ | |
## Albrecht Glaser gescheitert | |
Ohne die AfD zu nennen, widmet sich der neue Bundestagspräsident deren | |
reklamiertem Anspruch, wahlweise „das Volk“ zu vertreten beziehungsweise | |
sich „unser Volk zurückholen“ zu wollen, wie Partei- und Fraktionschef | |
Gauland es formuliert hat. „Wir sind alle, wie Artikel 38 GG sagt, | |
Abgeordnete des ganzen Volkes“, sagt Wolfgang Schäuble. „Niemand aber, | |
niemand vertritt alleine ,das' Volk. So etwas wie ,Volkswille‘ entsteht | |
überhaupt erst in und mit unseren parlamentarischen Entscheidungen.“ Bei | |
den 92 AfD-Abgeordneten rührt sich keine Hand zum Applaus, um so lauter ist | |
er von den anderen ParlamentarierInnen zu hören. Alice Weidel klopft | |
derweil ungeduldig mit ihrem Stift auf den Tisch, Alexander Gauland wirkt | |
so versunken, dass ein Nickerchen nicht ausgeschlossen scheint. | |
Gegen Ende seiner Rede richtet Schäuble noch einmal den Fokus auf | |
Deutschland in der globalisierten Welt, auf die Ängste der BürgerInnen bei | |
gleichzeitiger Hingezogenheit zu festen Werten. „Den Weg einer | |
selbstbewussten Einordnung in immer weitere Zusammenhänge zu finden, mit | |
dem Ziel, dazu beizutragen, in dieser Welt unsere Zukunft zu gestalten“, | |
beschreibt er die Aufgabe, der dieses Land gerecht werden müsse. Und dann: | |
„Dass wir uns in solcher Öffnung und Einordnung noch selbst erkennen; dass | |
wir bleiben, was wir doch fühlen, das wir sind – im Guten, wie zum Beispiel | |
unserer parlamentarischen Ordnung, wie im Schlechten, das wir als nationale | |
Schicksalsgemeinschaft nicht werden abstreifen können und aus dem wir immer | |
wieder neues Gutes zu entwickeln uns bemühen –, dass wir das alles bleiben, | |
ohne uns abzuschotten und uns bequem rauszuhalten, darum geht es.“ | |
Als Schäuble um 13.37 Uhr endet, beginnt der nächste und schwierigere Teil | |
dieses Sitzungstages: die Wahl der sechs StellvertreterInnen. Für das Amt | |
haben sich Hans-Peter Friedrich von der CSU, der ehemalige | |
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, Wolfgang Kubicki von den Liberalen, die | |
Grüne Claudia Roth sowie Petra Pau von der Linke-Fraktion aufstellen | |
lassen. Alle fünf werden gewählt; Oppermann allerdings mit einem miserablen | |
Ergebnis von nur 396 Stimmen. Notwendig waren 355 Jastimmen. | |
Die AfD hat Albrecht Glaser für das Amt des Vizepräsidenten nominiert. | |
Wegen islamkritischer Äußerungen ist der 75-Jährige sehr umstritten. Im | |
ersten Wahlgang fällt er mit 115 Stimmen durch, im zweiten Wahlgang kommt | |
er auf 123 Stimmen, im dritten erhält er nur 114 Stimmen. Nun entscheidet | |
der Ältestenrat über das weitere Verfahren. Die AfD-Fraktion kann einen | |
neuen Kandidaten vorschlagen. | |
24 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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