# taz.de -- Konflikt um Bergkarabach: Die zweite Front | |
> Der aserbaidschanische Präsident Alijew will totale Kontrolle über | |
> soziale Netzwerke, Trollkonten blühen. Echte Gegenöffentlichkeit entsteht | |
> nicht. | |
Bild: Chaos nach einem Angriff auf ein Wohngebiet der Stadt Ganja in Aserbaidsc… | |
Seit dem 27. September toben heftige Kämpfe um die Region Bergkarabach | |
zwischen Armenien und Aserbaidschan. Sie setzen sich in den sozialen Medien | |
fort. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew twittert: „Wir können | |
nicht weitere 30 Jahre warten. Der Konflikt muss jetzt gelöst werden.“ | |
In Aserbaidschan hat das Ministerium für Verkehr und Kommunikation den | |
Internetzugang im Land beschränkt und den Zugang zu sozialen Netzwerken wie | |
Facebook, Youtube und WhatsApp für Nutzer*innen gesperrt. Nur Twitter | |
funktioniert nach wie vor, es spielte eine wichtige Rolle für Propaganda | |
mit Blick aufs Ausland. | |
[1][Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet | |
Bergkarabach], das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik Aserbaidschan | |
zugeordnet worden war, schwelt seit über 30 Jahren. Ein Krieg Anfang der | |
1990er Jahre, in dem variierenden Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und | |
50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen vertrieben wurden, mündete | |
1994 in einen brüchigen Waffenstillstand. Das Gebiet um Bergkarabach ist | |
bis heute auf beiden Seiten hoch militarisiert. Bergkarabachs Militär hielt | |
angrenzende aserbaidschanische Gebiete besetzt. | |
Die aktuellen Beschränkungen des Internets begründet Aserbaidschans | |
Regierung „als Sicherheitsmaßnahme“, um „massive Provokationen aus Armen… | |
zu verhindern“. Um trotzdem auf blockierte Webseiten bezihungsweise soziale | |
Medien zugreifen zu können, nutzen viele User*innen VPN-Tunnel (Virtual | |
Private Network). Unterschiedliche Anbieter stellen neben kostenfreien VPN | |
auch kostenpflichtige zur Verfügung, die jede*r im Internet herunterladen | |
und auf seinem PC, Laptop, Tablet oder Smartphone installieren kann. Diese | |
Software ermöglicht es, Webfilter zu umzugehen und anonym zu surfen. | |
## „Trauer und Verlust dürfen nicht gezeigt werden“ | |
Allerdings entsteht keinerlei echte Gegenöffentlichkeit: „Trauer und | |
Verlust dürfen nicht gezeigt werden, weil das nach Meinung der Regierung | |
den Willen der Gesellschaft brechen könnte, den Krieg zu gewinnen“, erklärt | |
eine regierungskritische Journalistin aus Aserbaidschan im Gespräch mit der | |
taz. Ihr Profilbild auf ihren Accounts in den sozialen Medien hat sie von | |
einem Designer ändern lassen. Darauf steht nun: „Kein Krieg“. Das Thema | |
eines möglichen Friedensprozesses mit Armenien könne sie zurzeit nicht | |
thematisierten, das sei für sie gefährlich, sagt sie. Jede*r in | |
Aserbaidschan solle nun Soldat*in sein, fordere die Regierung – an der | |
tatsächlichen Front wie auch im Internet. | |
Auch im Netzwerk Telegram haben Aserbaidschaner*innen mehrere Kanäle neu | |
geöffnet. Doch auch sie übernehmen nicht die Funktion einer alternativen | |
Informationsquelle über Krieg und Mobilisierung – anders als derzeit in | |
Belarus, wo Telegram eine zentrale Rolle sowohl als Kommunikations- wie | |
auch auch als Koordinationsinstrument der Protestbewegung spielt. | |
## Konflikt in den sozialen Medien | |
Der Konflikt um Bergkarabach wird heute auch in allen sozialen Medien | |
zwischen armenischen und aserbaidschanischen Nutzer*innen geführt. Sowohl | |
Aserbaidschaner*innen als auch Armenier*innen haben Hashtag-Kampagnen | |
gestartet, die sich auf die aktuellen Feindseligkeiten konzentrieren: | |
Armenier*innen organisieren sich hauptsächlich unter dem Hashtag | |
#ArsakhStrong (Artsakh ist die armenische Bezeichnung für Bergkarabach) und | |
#AzerbaijanAggression, während proaserbaidschanische Konten eine Reihe von | |
Hashtags verwenden, vor allem #ArmenianAggression und | |
#KarabakhIsAzerbaijan. | |
Viele Profile sind anonym und enthalten Profilbilder mit der | |
aserbaidschanischen Flagge oder anderen nationalen Symbolen, aber keinerlei | |
biografische Informationen. Viele Konten wurden direkt nach Ausbruch der | |
neuen Gefechte auf Twitter registriert. Facebook löschte 589 | |
Facebook-Accounts, die aserbaidschanische Propaganda verbreiten, sowie 7906 | |
Seiten und 447 Instagram-Accounts. Dies ist in einer [2][vom Unternehmen | |
verbreiteten Nachricht] am 8. Oktober angegeben. | |
## Verbindungen mit russischer Trollfabrik | |
Das autokratische Regime in Baku hat früher auch Trollgruppen genutzt, um | |
gegen Oppositionelle Stimmung zu machen. Laut der aserbaidschanischen | |
Nachrichtenagentur „Turan“ hat Facebook im Jahr 2018 29.000 Trollkonten in | |
Aserbaidschan gelöscht und gesperrt. Sie sollen mit der russischen | |
Internetforschungsagentur (IRA) in Verbindung stehen, die allgemein als | |
„Trollfabrik“ bekannt ist. Laut Facebook-Chef Zuckerberg wurden | |
beispielsweise gefälschte Konten erstellt, um die Präsidentschaftswahlen | |
2016 in den USA zu stören und Desinformationen über russischsprechende | |
Bevölkerung unter anderem in Aserbaidschan zu verbreiten. | |
Unabhängige Medien in Aserbaidschan werden durch politischen und | |
wirtschaftlichen Druck zensiert. In der Rangliste der Pressefreiheit der | |
Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenze belegt Aserbaidschan Platz | |
168 von 180. [3][Journalist*innen in Aserbaidschan haben nur die Wahl]: | |
Kritisch berichten und dafür im Gefängnis landen, rechtzeitig das Land | |
verlassen – oder sich vom Regime kaufen lassen. Selbst im Ausland lässt die | |
aserbaidschanische Regierung kritische aserbaidschanische Journalist*innen | |
festnehmen oder geht juristisch gegen sie vor. [4][Im Jahr 2017 | |
verabschiedete Gesetzesänderungen] erweiterten die staatliche Kontrolle auf | |
Onlinemedien und ermöglichten die Sperrung von Websites ohne gerichtliche | |
Anordnung. | |
## Hohe Unterstützung für den Krieg | |
Die aserbaidschanische Sozialwissenschaftlerin Sevil Huseynova lebt in | |
Berlin und koordiniert die Projekte der Berliner | |
Nichtregierungsorganisation CISR, das bedeutet: Center for Independent | |
Social Research. Nach dem Ausbruch der Eskalation in Aserbaidschan | |
beobachte sie ein Höchstmaß an öffentlicher Solidarität und Unterstützung | |
für den Krieg bis zum siegreichen Ende. „Jeder erwartet von der Regierung, | |
dass sie diesmal bis zum Ende geht und nicht aufhört, bis sie die Kontrolle | |
über alle Gebiete wiedererlangt hat. Und die Kritiker der Regierung und der | |
Opposition, sowohl im Land als auch in der Diaspora, haben sich um diese | |
Idee geschart“, sagt sie gegenüber der taz. | |
Um sein Ziel zu erreichen, braucht Alijew die totale Kontrolle über die | |
sozialen Netzwerke und den öffentlichen Raum in der Republik. „Aber was | |
wird passieren, wenn Alijew sein Versprechen, Karabach zurückzubringen, | |
doch nicht einhalten kann?“, fragt Huseynova rhetorisch. „Die Reaktion der | |
Gesellschaft ist sehr schwer vorherzusagen. Es könnte jedoch eine | |
ernsthafte Enttäuschung über die Fähigkeit der Regierung zur Lösung des | |
Konflikts eintreten.“ Die könnte Folgen für die Regierung haben. Im Moment | |
scheine sie zuversichtlich. Aber sie habe einige Vorsichtsmaßnahmen | |
getroffen – zum Beispiel melde sie ziemlich wenige Todesfälle beim Militär. | |
12 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Gefechte-um-Berg-Karabach/!5717903/ | |
[2] https://about.fb.com/news/2020/10/removing-coordinated-inauthentic-behavior… | |
[3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-12/aserbaidschan-pressefreiheit-jo… | |
[4] https://freedomhouse.org/country/azerbaijan/freedom-world/2020 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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