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# taz.de -- Berg-Karabach in Deutschland: „Frieden Für Artsakh“
> In Berg-Karabach fallen die Bomben. In Berlin schreien Menschen nach
> Frieden. Armenier*innen in Deutschland bleibt nur die Demo.
Bild: Damit Deutschland nicht noch weiter wegsehen kann: Demonstrant*innen in B…
Berlin taz | Über 2.000 Menschen haben sich am Samstagnachmittag am
Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin-Mitte versammelt. Sie tragen
armenische und griechische Fahnen. Auch Aramäer*innen und Jesid*innen
halten ihre Flaggen in die Höhe. Es scheint, dass der römische Meeresgott
Neptun seine Truppen anführt und dabei seinen Dreizack über die linke
Schulter wirft. Die Menschen demonstrieren für Frieden. Heute ist hier die
antitürkische Front versammelt. Wer eine Rechnung mit dem türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan offen hat oder zu haben glaubt, ist dabei.
Vom Neptunbrunnen marschieren die Demonstrant*innen über die Straße Unter
den Linden bis zum Brandenburger Tor. „Erdoğan Terrorist“, rufen sie und
„Aliyev Terrorist“. Sie fordern ein „Ende der Expansion autoritärer
Regime“. Vor allem die armenische Community ist alarmiert.
Seit Samstagmittag gilt eine [1][Feuerpause zwischen den beiden
Südkaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan] im Kampf um
Berg-Karabach. Diese war zwischen den Außenministern Armeniens und
Aserbaidschans unter der Ägide des russischen Außenministers Sergej Lawrow
in mehr als zehnstündigen Gesprächen in Moskau ausgehandelt worden. Die
Waffenruhe soll dazu genutzt werden, um Kriegsgefangene auszutauschen und
die Körper toter Soldaten an ihre Heimat zu übergeben.
Am späten Samstagnachmittag gibt es [2][Berichte, wonach die Waffenruhe
nicht gehalten hat]. Stattdessen kommt es erneut zu schweren Kämpfen.
## Der lange Krieg in der Heimat
Anusch Petrojan, die an dem Marsch teilnimmt, ist trotzdem skeptisch. „Die
Waffen werden nicht schweigen“, sagt sie. Ihre Sorgen sind begründet. Die
Chronologie dieses Konfliktes beweist das. Es gibt kein Vertrauen zwischen
den Bevölkerungen der beiden Ex-Sowjetrepubliken. Hass und Rache prägen den
Alltag.
Die 35-jährige Armenierin ist heute aus der Lutherstadt Wittenberg nach
Berlin gekommen. Die Sozialpädagogin arbeitet mit jungen Geflüchteten in
ihrer Stadt. „Wir dürfen die Traumatisierung durch Krieg und Flucht nicht
unterschätzen. Es ist grausam. Ich kämpfe jeden Tag dagegen an. Auch
deswegen bin ich hier“, sagt sie. „Durch türkische Militäraktionen würden
erneute Fluchtbewegungen verursacht“, fügt sie hinzu. Sie habe sich in den
letzten Tagen überlegt, ob sie nach Armenien zurückkehre, um bei ihrer
Familie zu sein. „Das wäre aber auch keine Lösung“, sagt sie. Sie schickt
Geld nach Hause und spendet für humanitäre Hilfe in ihr Heimatland.
Auf beiden Seiten gibt es mittlerweile zahlreiche Tote und Verletzte.
[3][Beide Länder mobilisieren weiterhin] unter den einsatzfähigen
Bewohnern. Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte
Gebiet Berg-Karabach, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik sowjetischem
Aserbaidschan zugeschlagen worden war, schwelt seit über 30 Jahren. Ein
Krieg Anfang der 1990er-Jahre, in dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge
zwischen 25.000 und 50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen
vertrieben wurden, mündete 1994 in einen Waffenstillstand, der aber immer
wieder gebrochen wird.
## Appell an die Gruppe-Minsk
Das Verhandlungsformat für eine mögliche Konfliktlösung ist nach wie vor
die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE). Seit 1992 versucht die Minsker Gruppe zu vermitteln. Ihr
gehören Russland, die USA und Frankreich an. Deswegen führen die
Demonstrant*innen auch die Flaggen dieser drei Staaten mit sich.
Eine klare politische Position, so wie in Frankreich, wünschen sich
Armenier*innen auch in Deutschland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
hatte klare Worte über Kriegsverbrechen gegen Armenien und Berg-Karabach
gefunden und die türkische Aggression verurteilt. Ein Mann hält ein großes
Plakat hoch. Darauf steht: „Wann endet die deutsch-türkische
Militärromanze?“
„Während des Ersten Weltkriegs führte die Türkei ethnische Säuberungen im
Osmanischen Reich durch. Deutschland schaute damals zu. Als die Türkei
Kurd*innen und Jesid*innen im Irak und in Syrien verfolgte, haben die
Deutschen davor die Augen verschlossen“, sagt Berivan Dasni von der
jesidischen Gemeinde Berlin. „Das alles nimmt kein Ende, weil Deutschland
weiter Waffen an das Erdoğan–Regime liefert.“
Ein Mann läuft mit einem Plakat herum, darauf steht: „Kinder sollen in der
Schule sein, nicht im Bunker“. „Frieden Für Artsakh“ (armenische
Bezeichnung für Berg-Karabach, Anm. d. Red.), rufen die Menschen.
## Der Fall Türkei
Vor 12 Jahren ist Edgar Kandratjan aus Armenien nach Deutschland gezogen.
Er arbeitet als Designer in Berlin, aber jetzt fühlt er sich hier fremd.
„Ich bin nur physisch anwesend“, sagt er. „Mein Herz und meine Seele sind
jetzt in Armenien.“ Auch sein Bruder kämpft in Berg-Karabach. „Gegen
Terroristen, die von der Türkei an die Front geschickt worden sind als
Unterstützung für das ‚aserbaidschanische Brudervolk‘“, sagt er. Es ist
unstrittig, [4][dass syrische Söldner in Berg-Karabach im Einsatz sind].
„Aber Europa beschäftigt sich nur mit sich selbst“, sagt er.
Allein aufgrund der geografischen Lage Armeniens fühlen sich viele
Armeniern*innen bedroht. Bis heute leugnet die Türkei den [5][Völkermord an
den Armenier*innen 1915] und hält die Grenze zum Nachbarn im Westen
geschlossen. An der Ostgrenze des Landes explodieren Bomben.
Wer auf der Demonstration fragt, ob Frieden anstatt Berg-Karabach
vorstellbar ist, wird beschimpft. Es gehe um die Existenz Armeniens und
nicht einfach um Nationalstolz, sagen viele Demonstrant*innen. Sie nehmen
die Rede des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew als weitere
Drohung wahr, in der er unlängst sagte, dass auch die armenische Hauptstadt
Jerewan historisch zu Aserbaidschan gehöre.
„Aserbeidschanische Soldaten sprengen armenische historischen Kirchen in
die Luft“, sagt Ani Chakarjan. Während der Kämpfe am 8. Oktober wurde die
Kathedrale Christi des Heiligen Retters aus dem 19. Jahrhundert in der
Stadt Schuschi in Berg-Karabach zweimal von Aserbaidschan unter Beschuss
genommen. Das hat die Armenier*innen als eine der ältesten christlichen
Nationen besonders betroffen gemacht. „Das ist nichts anderes als
Vandalismus“, sagt Chakarjan. „Doch wir werden siegen und nicht schweigen,
bis die Gerechtigkeit siegt“.
10 Oct 2020
## LINKS
[1] /Armenien-und-Aserbaidschan/!5719278
[2] /Armenien-und-Aserbaidschan/!5719282
[3] /Gefechte-um-Berg-Karabach/!5717903
[4] /Tuerkei-im-Berg-Karabach-Konflikt/!5719058
[5] /Jahrestag-des-Genozids-an-den-Armeniern/!5586437
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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