# taz.de -- Militärkonflikt um Berg-Karabach: Kraniche der Diaspora | |
> Die armenischstämmige Diaspora in Berlin verfolgt den Konflikt genau, | |
> sammelt Spenden, versendet Friedensbotschaften oder appelliert an | |
> Abgeordnete. | |
Bild: Am Gottesdienst der armenischen Gemeinde nehmen mehr Menschen teil als so… | |
Berlin taz | Schöner Kranich, sei willkommen. Welche Nachricht hast du uns | |
aus der Heimat gebracht?“ Schon im Korridor hört man, wie Kinderstimmen | |
laut diese Wörter wiederholen, so, als wollten sie sich ein neues Lied | |
einprägen. Sie sprechen die Worte auf Armenisch, ihrer Muttersprache. Jeden | |
Sonntag besuchen die Kinder die Armenische Schule zu Berlin, der Schule | |
werden dafür Räume im Gebäude des Bürgeramts Lichtenberg zur Verfügung | |
gestellt. „Für uns ist der Kranich das Symbol der Sehnsucht nach der | |
Heimat“, erklärt ihre Lehrerin Nvard Amirkhanyan. | |
Seit dem 27. September toben heftige Kämpfe um die Region Berg-Karabach | |
zwischen Armenien und Aserbaidschan. Der Territorialkonflikt um das heute | |
von Armenier*innen bewohnte Gebiet, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik | |
Aserbaidschan zugeordnet worden war, schwelt seit über 30 Jahren. Ein Krieg | |
Anfang der 1990er Jahre, in dem variierenden Schätzungen zufolge zwischen | |
25.000 und 50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen vertrieben | |
wurden, mündete 1994 in einen brüchigen Waffenstillstand. | |
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Berg-Karabach 1991 – wie auch | |
Aserbaidschan und Armenien – seine Unabhängigkeit als Republik erklärt, die | |
allerdings bis heute von keinem Staat der Welt und auch von der Schutzmacht | |
Armenien nicht anerkannt wird. | |
Nicht nur die Kinder, auch ihre Eltern warten sehnlichst auf gute | |
Nachrichten aus ihrer Heimat. Sie sitzen im Raum neben dem Klassenzimmer. | |
„Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, unter Bombardierung zu leben“, sagt | |
Zola Demirjian. Vor fünf Jahren ist die 47-jährige Armenierin aus Syrien | |
nach Deutschland geflohen. Ihre Verwandten haben sich hingegen für Armenien | |
entschieden. Als der Krieg in Syrien ausbrach, war Armenien eines der | |
ersten Länder, das Flüchtlinge aufnahm. Seit 2012 suchten etwa 20.000 | |
syrische Armenier*innen Schutz in der Heimat ihrer Vorfahren. | |
## Aus verschiedenen Ecken der Welt | |
Zola Demirjian bringt ihre Neffen in die Sonntagschule. Hier lernen Kinder | |
die Sprache, Geschichte und die Kultur Armeniens. Die Schule ist eine bunte | |
Mischung von Kindern, deren Eltern aus verschiedenen Ecken der Welt kommen. | |
Die armenische Diaspora ist vor allem infolge des Genozids an den Armeniern | |
im Osmanischen Reich 1915 entstanden. In Berlin erinnert daran etwa eine | |
Ökumenische Gedenkstätte auf dem Evangelischen Luisenkirchhof III in | |
Charlottenburg. Der Weg nach Deutschland war für die Überlebenden des | |
Genozids allerdings nicht der nahe liegende, denn Deutschland war während | |
des Ersten Weltkriegs im Bündnis mit dem Osmanischen Reich. Heute leben in | |
Deutschland schätzungsweise 50.000 bis 60.000 Armenier*innen, etwa 5.000 | |
von ihnen wohnen in Berlin und Brandenburg. | |
Die Kinder sind längst mit dem Unterricht fertig, sie laufen durch den | |
langen Korridor. Doch die Erwachsenen tauschen sich noch immer aus, wer was | |
aus Armenien gehört oder gelesen hat. | |
Der 56-jährige Movses Potoghljan redet sich in Rage. Vor 35 Jahren ist er | |
aus dem Libanon nach Deutschland gekommen, er wohnt mit seiner Familie in | |
Neukölln. „In meinem Auto hängt ein Kreuz am Innenspiegel“, erzählt er. | |
„Heute aber habe ich den Anhänger abgenommen, um als christlicher Armenier | |
unauffällig zu bleiben.“ Er habe Angst, dass Türken oder Aserbaidschaner | |
sein Auto beschädigen könnten. Vor allem aber will er so seine Frau und | |
sein fünfjähriges Kind schützen. In Beirut habe er das armenische Viertel | |
während des Bürgerkrieges mit der Waffe verteidigt. Wenn Potoghljan redet, | |
macht er lange Pausen. Er versucht, das Weinen zu unterdrücken, aber er | |
schafft es nicht. Tränen fließen über sein Gesicht. | |
## Humanitäre Hilfe für Arzach | |
„Wir wollen unsere Kultur und Identität als eines der ältesten christlichen | |
Völker behalten“, sagt Mikayel Minasyan (48). Er hat dafür vor zehn Jahre | |
die Sonntagschule in Berlin gegründet. Etwa 20 Schüler*innen im Alter von 5 | |
bis 22 Jahren lernen das eigenständige armenische Alphabet, das der Mönch | |
Mesrop Maschtozin in den Jahren 405–406 n. Chr. entwickelt hat. Die Schule | |
ist eins der Projekte der Organisation „Verband der Europäischen und | |
Armenischen Fachleute“, Minasyan ist deren Leiter. | |
Auf die Tagesordnung rückt in diesen Tagen die Sicherheit der Bevölkerung | |
von Arzach – so nennen Armenier*innen die Region Berg-Karabach. Minasyan | |
will humanitäre Hilfe nach Arzach senden, er hat bereits Pakete voll mit | |
Schmerztabletten, Blutstillungs- und Betäubungsmitteln an die Frontlinie | |
geschickt. Er ruft weiterhin zu Spenden auf und mobilisiert die Berliner | |
Armenier*innen. So standen am 30. September Hunderte Demonstrant*innen vor | |
dem Bundeskanzleramt, die gegen Aserbaidschan protestierten und auch gegen | |
die Türkei, die Aserbaidschan militärisch gegen Armenien unterstützt. | |
Minasyan appelliert auch an die Bundesregierung und den Bundestag, damit | |
sie eine sofortige Waffenruhe in der Region vermitteln. Die Lösung des | |
Konflikts sieht er allein darin, dass die internationale Gemeinschaft so | |
schnell wie möglich Berg-Karabach als unabhängigen Staat anerkenne. „Es | |
reicht, drumherum zu reden“, sagt Minasyan. „Wir werden siegen“, fügt er | |
auf Armenisch hinzu. | |
Genau dies ist zum Motto für viele Armenier*innen in diesem Kampf geworden. | |
Sie glauben an einen Sieg. Aber was kann das bedeuten? Die Menschen weigern | |
sich, daran zu denken, dass das Gebiet Berg-Karabach für die Armenier*innen | |
verloren gehen könnte. Reden will allerdings kaum jemand, auch nicht die | |
Männer, die sich vor der evangelische Erlöserkirche in Rummelsburg | |
versammeln und nach Antworten auf ihre Fragen suchen: Wie lässt sich | |
Erdoğan stoppen, damit er den Völkermord an den Armenier*innen nicht | |
fortsetzt? Warum hat Russland seinen Verbündeten Armenien bislang | |
alleingelassen? Und wann hört Deutschland auf, Waffen an die Türkei zu | |
liefern? | |
## Seelischer Trost | |
An diesem Sonntag Anfang Oktober sind über Hundert Menschen in die Kirche | |
gekommen, hier hält die armenische Apostolische Kirche für ihre Gemeinden | |
Gottesdienst. Es sind mehr als doppelt so viele Besucher*innen wie an | |
anderen Sonntagen, Anlass ist der neue Krieg in Berg-Karabach. Viele suchen | |
in der Rummelsburger Erlöserkirche seelischen Trost. | |
„Lasst uns um Frieden bitten“, spricht Pater Yeghishe Archimandrit | |
Avetisyan zu seiner Gemeinde. Alle erheben sich. Der Duft von Weihrauch | |
breitet sich aus. Die Gesichter sind ernster als sonst. Selbst | |
Nichtgläubige bekreuzigen sich. Alle sind hier, weil sie für die armenische | |
Front spenden wollen. | |
Angelika Esajan ist mit ihrer Tochter aus Hannover angereist. „In den | |
schwierigen Situationen im Leben betet der Mensch häufiger – ich auch“, | |
sagt sie. Aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wird an diesem Tag | |
gemeldet, dass armenische Truppen die Stadt Ganja, die zweitgrößte | |
Aserbaidschans, unter Beschuss genommen haben, Esajans Geburtsstadt. Die | |
heute 36-Jährige war vier Jahr alt, als sie mit ihrer armenischen Familien | |
aus Ganja in die DDR floh. Esajans Vater war als sowjetischer Offizier in | |
Jüterbog stationiert. | |
„Ich habe mir die Bilder aus Ganja mit gemischten Gefühlen angesehen“, sagt | |
sie. „Einerseits macht es mich unfassbar traurig – aber auf der anderen | |
Seite war Armenien dazu gezwungen. Das ist die einzige Sprache, die | |
Aserbaidschan versteht“, sagt Esajan zornig. Sie spüre auch einen Hauch von | |
Stolz. „Als uns Aserbaidschaner damals in Ganja verfolgt und schließlich | |
vertrieben haben, haben sie unser Häuser komplett übernommen“, sagt sie. | |
## „Wir wollen Frieden in Armenien“ | |
Nach der deutschen Wiedervereinigung suchte ihre Familie Asyl in | |
Deutschland. Esajan macht sich Sorgen, dass dieser erneut ausgebrochene | |
Krieg wieder viele Menschen heimatlos machen wird. „Aber das kann nicht | |
ewig dauern. Entweder alles oder nichts – darum geht es heute“, sagt sie. | |
Wirklich vorzustellen vermag sie sich nicht, dass Berg-Karabach für die | |
Armenier*innen verloren gehen könnte „Terroristen aus der Türkei sind in | |
diesem Kampf eingesetzt, und Armenien wehrt sich“, sagt sie. Bevor Esajan | |
zurück nach Hannover fährt, will sie sich mit einer Gruppe am Platz der | |
Republik treffen. Dort vor dem Reichstagsgebäude drehen Armenier*innen ein | |
kleines Video. Vor der Kamera steht Artur Abraham, früherer Box-Weltmeister | |
und der wohl bekannteste Armenier in Deutschland. | |
„Wir wollen Frieden in Armenien“, sagt der Sportler zuerst auf Armenisch, | |
dann wiederholt er es auf Deutsch. Andere tun es ihm nach. Abraham fordert | |
in seiner Friedensbotschaft, dass die Konfliktparteien sich an den | |
Verhandlungstisch setzen. „Lasst nicht noch mehr Tränen aus den Augen von | |
Müttern fallen“, sagt er, und fügt hinzu: „weder von armenischen noch | |
aserbaidschanischen“. | |
Eine andere Stimmung herrscht im Gemeindehaus in Charlottenburg. „Hay Tun“, | |
nennen Armenier*innen ihren Treffpunkt in der der Nähe vom | |
Richard-Wagner-Platz. Junge Menschen haben sich hier spontan organisiert. | |
Sie schreiben Briefe an Landtags- und Bundestagsabgeordnete, sie wenden | |
sich mit einem Appell an die Europäische Union, diese möge sich für das | |
sofortige Ende der Kampfhandlungen im Südkaukasus einsetzen. „Hay Tun“ ist | |
wie ein Bienenstock. Laut, weil viele Menschen gleichzeitig reden. Einige | |
tippen auf Laptops, andere kontrollieren den Hauseingang, gehen auf dem | |
kleinen Hof rauchen, starren in den großen Fernseher. Es läuft ein | |
armenischer Sender aus Jerewan. Satenik Melkonyan ist 32 Jahre alt, seit | |
zwei Tagen ist sie ständig hier. Nun ist es spät am Abend. Sie sieht müde | |
aus, hat aufgehört zu zählen, wie viele Tassen Kaffee sie heute getrunken | |
hat. | |
„Wie wollen gehört werden. Ich bin fest überzeugt davon, dass wir unsere | |
Arbeit nicht umsonst machen“, sagt sie. „Die Bundesregierung sollte ihre | |
Pro-Erdoğan-Politik ändern. Es ist Zeit auch für Deutschland, humanitäre | |
Werte statt wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.“ | |
Alle beschäftigt in diesen Tagen dieselbe Sorge: Ob Eltern, die | |
Großelterngeneration oder die Jugendlichen, ob religiös oder nicht. Wenige | |
Tage später stehen viele von ihnen gemeinsam am Alexanderplatz, um ihren | |
Forderungen mit einer Demo Nachdruck zu verleihen. | |
12 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
## TAGS | |
Armenien | |
Aserbaidschan | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Demo von Aserbaidschanern: Bergkarabach in Berlin | |
Aserbaidschanische und türkische Demonstrant*innen protestieren in Berlin | |
gegen die „armenische Aggression“. Dagegen protestieren Armenier*innen. | |
Konflikt um Bergkarabach: Die zweite Front | |
Der aserbaidschanische Präsident Alijew will totale Kontrolle über soziale | |
Netzwerke, Trollkonten blühen. Echte Gegenöffentlichkeit entsteht nicht. | |
Waffenstillstand in Berg-Karabach: Auf Druck aus Russland | |
Armenien und Aserbaidschan einigen sich in Moskau auf einen | |
Waffenstillstand. Der ist brüchig, die Kämpfe um Berg-Karabach gehen | |
weiter. | |
Berg-Karabach in Deutschland: „Frieden Für Artsakh“ | |
In Berg-Karabach fallen die Bomben. In Berlin schreien Menschen nach | |
Frieden. Armenier*innen in Deutschland bleibt nur die Demo. |