# taz.de -- Karl Lauterbach über die Coronakrise: „Für Kinder ist das drama… | |
> Der SPD-Politiker Karl Lauterbach glaubt nicht an einen normalen | |
> Schulbetrieb ab Herbst 2020. Auf Kinder werde in der Coronakrise zu wenig | |
> geachtet. | |
Bild: Karl Lauterbach ist nicht nur SPD-Abgeordneter, sondern auch Epidemiologe | |
taz: Herr Lauterbach, Sie sind Mediziner, Politiker und Vater. Wie nimmt | |
Ihre Tochter die Krise wahr? | |
Karl Lauterbach: Ich verbringe im Moment viel Zeit mit meiner 13-jährigen | |
Tochter. Was mich berührt ist, [1][wie viel Verunsicherung die Kinder | |
erleben durch diese Erkrankung.] Sie machen sich unfassbar viele Gedanken. | |
Warum ist das so? | |
Es ist die erste riesige Katastrophe, die sie erleben. Sie sind plötzlich | |
aus der Schule gerissen, sie sehen ihre Freunde nicht mehr, vielleicht | |
endet das Schuljahr, ohne dass sie jemals ihre Freunde wiedergesehen haben | |
werden. Die Kinder machen sich auch viele Sorgen um ältere Leute, die sie | |
gut kennen und die sie nicht verlieren wollen. Die Endlichkeit des Lebens | |
wird den Kindern bewusst. | |
Wird auf Kinder im Moment ausreichend Rücksicht genommen? Die Akademie für | |
Kinder- und Jugendmedizin warnt: Kinder und Jugendliche seien nicht als | |
Personen mit ebenbürtigen Rechten gesehen worden, „sondern als potenzielle | |
Virusträger.“ | |
Die Perspektive von Kindern kommt mir in den Beschlüssen von Bund und | |
Ländern in der Tat zu kurz. Sie sind aus ihrem sozialen Umfeld | |
herausgerissen, sie können sich nicht mehr mit Freunden austauschen, sich | |
nicht mehr gegenseitig unterstützen in der Bewältigung von Krisen oder bei | |
den Hausaufgaben. Für Kinder ist das dramatisch. | |
Dennoch wird öffentlich mehr darüber gestritten, welche Shoppingmall zuerst | |
wieder öffnen darf. Was läuft schief? | |
Hinter den Shoppingmalls stehen Lobbys, die sich Gehör verschaffen können. | |
Kinder haben keine starke Lobby. Wir müssen mehr über ihre sich dramatisch | |
ändernde Lebenswelt reden. Denn zugleich werden sie mit einer Krise | |
konfrontiert, die selbst uns Erwachsenen Angst macht. | |
Welche Folgen hat eine solche Krise für die Psyche? | |
Die psychologischen Folgen sind hier noch völlig unklar. Mich | |
beispielsweise hat es stark geprägt, als ich mit 14 Jahren die Studie zum | |
Club of Rome gelesen habe. Das hat mein ganzes Leben verändert. Ich war bis | |
dahin behütet aufgewachsen, und ich erinnere mich, dass die Bedrohung, die | |
Welt könne untergehen, meine Berufswünsche beeinflusst und mein ganzes | |
Leben verändert hat. Um wie viel stärker muss es auf 13-Jährige wirken, | |
wenn sie so eine Katastrophe erleben, wenn sie sehen, wie in Italien und in | |
New York die Menschen sterben? Für Kinder sind das enorm traumatisierende | |
Erlebnisse. | |
Warum tut die Politik Kindern das dann an? Sie setzt sie einerseits Bildern | |
großen Leids aus, sperrt sie aber zugleich ein, obwohl sie kaum gefährdet | |
sind. | |
[2][Die Kontaktbeschränkungen sind leider alternativlos.] Wir wissen im | |
Moment nicht, wie stark Kinder Ältere gefährden. Wir können nicht | |
ausschließen, dass sie die Verbreitung der Seuche massiv beschleunigen. | |
Baden-Württemberg hat soeben eine Studie beauftragt, die die Rolle von | |
Kindern bei der Übertragung untersuchen soll. Kommt sie zu spät? | |
Ich habe schon vor sechs Wochen angemahnt, dass wir eine Studie machen | |
müssen, wie viel Gefahr in der Infektionsverbreitung tatsächlich von | |
Kindern ausgeht. Das ist eine Wissenslücke, die auch in internationalen | |
Studien besteht. China hat auf eine solche Untersuchung keinen Wert gelegt, | |
Italien und Spanien waren in der katastrophalen Situation dazu natürlich | |
nicht in der Lage. Dass Baden-Württemberg hier nun nachbessern will, ist | |
lobenswert. Aber wir brauchen Daten für ganz Deutschland. | |
Die Kinder müssen auf ihre Freundinnen und Freunde verzichten, auf Bildung, | |
auf Spielplätze im Freien. Die tatsächlich Gefährdeten, die Alten, dürfen | |
ungehindert durch Super- und Baumärkte schlendern. Muss man den Kindern | |
nicht zumindest eine Kompensation anbieten? | |
Wir überlegen zu wenig, wie wir Schulsysteme aufbauen können, die es | |
erlauben, dass Kinder in Teilen wenigstens beschult werden. Es wäre nötig, | |
eine Kombination aus qualitativ hochwertigem Home-Unterricht und | |
Präsenzunterricht zu organisieren. | |
Wo ist das Problem? | |
Die Lehrerverbände glauben immer noch, dass die Krise bis zu den | |
Sommerferien dauert – und danach ein ganz normales Schuljahr beginnt. Diese | |
Vorstellung ist völlig naiv. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass wir | |
ein oder sogar zwei Jahre lang Schule völlig anders organisieren müssen. | |
Das muss jetzt vorbereitet werden. | |
Wie läuft das in der Praxis? | |
Schlecht. Ich habe mit Bestürzung gelesen, dass Lehrer sich zum Teil erst | |
jetzt darüber Gedanken machen, wie die Hygienekonzepte aussehen sollen. Da | |
stellt sich die Frage, was ist denn in den letzten sieben Wochen gemacht | |
worden? Wir werden nach den Sommerferien keine Klassen mit 30 Schülern | |
haben. Das ist ausgeschlossen. | |
Wie muss ein digitales Unterrichtskonzept aussehen, das den Bedürfnissen | |
von Kindern gerecht wird? | |
Es muss so sein, dass den Kindern die Aufgaben, die sie zu lösen haben, | |
erklärt werden. Richtiges Homeschooling ist Unterricht per Tablet, die | |
Kinder erleben einen Klassenverbund und einen Lehrer. Im Moment werden in | |
qualitativ völlig unakzeptabler Form Aufgaben aus einem Lehrbuch kopiert | |
und per PDF rumgeschickt. | |
Lehrerinnen und Lehrer hängen also gedanklich in den 90ern fest? | |
Viele Lehrer laden die Last bei den Eltern ab, sammeln mit Glück geschickte | |
Aufgaben ein und korrigieren sie mit Verzögerung. Ein Homeschooling, das | |
diesen Namen verdient, würde einen virtuellen Klassenraum aufbauen, der | |
dann durch den tatsächlichen Klassenraum ergänzt wird – mit kleineren | |
Gruppengrößen und entsprechenden Abständen. Es müsste auch Gelegenheiten | |
geben für Kinder, die besondere, zusätzliche Betreuung brauchen. Da muss in | |
Technologie investiert und müssen Konzepte vorbereitet werden. | |
Was müssten die Bildungsministerinnen und -minister in den Ländern tun? | |
Die Lehrer müssen jetzt mitgeteilt bekommen und verstehen: Wir werden im | |
Herbst 2020 keinen Klassenraum mit 30 Schülern erleben. Mindestens für ein | |
Jahr nicht, möglicherweise für zwei Jahre nicht. Das Angebot im | |
Homeschooling muss deutlich verbessert werden, sonst verlieren wir wichtige | |
Jahre einer ganzen Generation von Schülern. | |
Verschärfen sich Bildungsungerechtigkeiten in der Krise? | |
Natürlich. Ich bin im Moment im Nebenberuf ein Gymnasiallehrer für | |
Mathematik. Die Mutter bringt auch viel ein, sie konzentriert sich stärker | |
auf das Sprachliche. Sie macht den größten Teil, muss ich gerechterweise | |
zugeben. Aber andere Kinder haben Eltern, die das nicht anbieten können. | |
Ihre Partei, die SPD, regiert in elf Ländern mit. Warum steuert sie nicht | |
stärker gegen? | |
Ich sehe viele gute Ansätze in den von uns mitregierten Bundesländern. Aber | |
alle sind spät dran. | |
Halten Sie es mit dem vorhandenen Lehrpersonal für realistisch, dass nach | |
den Sommerferien ein entsprechendes Modell umsetzbar ist? | |
Das muss so passieren. Wir haben keine anderen Lehrer. Aber viele sind dazu | |
bereit, wenn sie Infrastruktur und Anleitung hätten. Ich glaube, dass wir | |
das hinbekommen können und müssen. Wir haben keine andere Wahl. | |
27 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
Ulrich Schulte | |
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