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# taz.de -- Karl Lauterbach über Covid-19: „Die Pandemie ist schrecklich“
> Kaum jemand mahnt gerade zu mehr Vorsicht als der SPD-Gesundheitsexperte.
> Ein Gespräch über Vertrauen und Kneipenbesuche im Jahr 2021
Bild: Da dürfte auch Karl Lauterbach zufrieden sein: Abstandswahrung im Berlin…
taz am wochenende: Herr Lauterbach, in der Coronakrise gelten Sie als
ewiger Mahner, als Befürworter eines strengen Lockdowns, und auch, naja,
als Spaßbremse. Wie lebt es sich damit?
Karl Lauterbach: Ich glaube nicht, dass ich [1][als Spaßbremse rüberkomme].
Sondern ich versuche, als Epidemiologe ehrlich und klar die Position zu
vertreten, die ich für richtig halte. Ich bekomme hierfür auch viel
Zustimmung. Man darf nicht unterschätzen, wie viele ältere Leute oder Leute
mit Vorerkrankungen Angst vor dieser Krankheit haben. Sie sind dankbar,
dass jemand ihre Sorgen ernst nimmt.
Die Infektionszahlen steigen nicht mehr exponentiell, auf deutschen
Intensivstationen sind Tausende Betten leer, das Wetter ist traumhaft,
vielerorts öffnen Shoppingmalls wieder...
... stimmt.
Ist die Pandemie gar nicht so schlimm, wie Sie uns glauben machen wollten?
Man sieht im Sonnenschein nicht, wie die Erkrankten leiden. Die Pandemie
ist schrecklich. Gute Freunde von mir arbeiten als Ärzte in New York, sie
erleben die schlimmsten Tage ihrer Laufbahn. [2][Covid-19] ist eine
heimtückische, widerliche Erkrankung, die die Lunge, die Nieren, das
Gefäßsystem und das Herz befällt und wahrscheinlich auch bei den schweren
Verläufen wegen der langen Beatmung kognitive Einschränkungen hinterlässt,
bis zur späteren Demenz. Wenn die Zahl der Infizierten wieder stark zunähme
in Deutschland, wäre auch unser System überfordert.
Warum sollte ein Rückfall drohen? Die Menschen haben sich bisher sehr
diszipliniert verhalten. Trauen Sie der eigenen Bevölkerung nicht?
Was heißt trauen? Die Leute verhalten sich schon jetzt anders als vor zwei
Wochen. Der Respekt und die Angst vor der Krankheit gehen zurück. Wenn ich
Unrecht habe, freue ich mich.
Der Virologe Christian Drosten warnt vor einer zweiten Welle. Können Sie
das Szenario skizzieren, das uns droht?
Die zweite Welle sähe so aus: Mit den jetzigen Maßnahmen könnten wir das
erneute exponentielle Wachstum nicht stoppen. Die vielen neuen
Infektionsherde ließen sich nicht mehr nachverfolgen, weil hierfür das
Personal fehlt und es zu viele Quellen sind. Wir müssten dann bereits
erreichte Lockerungen wieder zurücknehmen. Gleichzeitig kämen wir in eine
Situation, dass die Intensivbetten ausgelastet wären.
Auf welchen Daten basieren Ihre Annahmen?
Egal, welches Modell zur Berechnung des Verlaufs Sie heranziehen, ob nun
das von Neil Ferguson vom Imperial College London, das von Michael
Meyer-Hermann vom Helmholtz-Institut oder das von Marc Lipsitch aus
Harvard: Klar ist, wir bewegen uns auf einem schmalen Grat. Sobald eine
bestimmte Zahl an neuen Infektionen überschritten wird, steigen die Zahlen
binnen kürzester Zeit in unerträgliche Dimensionen.
Alle bisherigen Anstrengungen wären umsonst gewesen?
Komplett umsonst. Wir hätten viel Geld ausgegeben, wären aber exakt wieder
da, wo wir schon einmal waren. Die vielen Entbehrungen der letzten Wochen,
die Opfer, die wir gebracht haben, sie alle hätten zu gar nichts geführt.
Daher hätte ich den jetzigen Lockdown auch noch nicht gelockert, sondern
ich hätte ihn für ein paar weitere Wochen aufrecht erhalten.
Verstehen wir Sie richtig: Sie sagen, dass es klüger gewesen wäre, die
strengen Kontaktbeschränkungen, die den Menschen viel soziales,
wirtschaftliches und psychisches Leid gebracht haben, um weitere Wochen
auszudehnen?
Es hätte deutliche Vorteile gehabt. Das Gros der Bevölkerung hätte über
einen längeren Zeitraum mehr Freiheiten gehabt. Mit weniger Neuinfektionen
hätte die Möglichkeit bestanden, die Ansteckungen nachzuvollziehen und die
Herde auszutreten. Medizinisch, aber auch ökonomisch wäre dies die bessere
Strategie gewesen. Das alles ist jetzt leider kaum mehr möglich. Bei 1.000
neuen Fällen täglich kann man nicht alle nachvollziehen. Deswegen sitzen
wir jetzt wie das Kaninchen vor der Schlange. Und eine Rücknahme der
Lockerungen ist politisch schwer verkaufbar.
Das heißt: Merkel und die Ministerpräsidenten haben politisch versagt?
Nein, Ich will hier keine Schuldzuweisungen aussprechen. Es war eine
Entscheidung, die man im Konsens getroffen hat.
Wir haben die Chance verpasst, das Virus dauerhaft zu unterdrücken, weil
die Möbelbranche in NRW gemeckert hat?
Ich hatte schon den Eindruck, dass ein paar Lobbyisten und einzelne
Politiker da wesentlich mehr Druck gemacht haben als die Bevölkerung, die
vermutlich bereit gewesen wäre, noch ein paar Wochen länger durchzuhalten.
Deutschland hätte als einziges europäisches Land das Südkorea Europas
werden können. Diese Chance ist erstmal vertan.
Als wichtige Messlatte gilt jetzt der Reproduktionswert, der angibt, wie
viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Warum ist die Zahl wichtig?
Bei einem R-Wert über 1 ist immer Alarmstufe Rot. Wir sind dann im
exponentiellen Wachstum. Ist er dagegen unter 1, werden auch andere
Faktoren wichtig, die Zahl der Neuinfektionen etwa. Ideal wären ein R-Wert
von 0,5 und eine niedrige dreistellige Zahl täglicher Neuinfektionen,
kombiniert mit einer App zum contact tracing, einer Maskenpflicht sowie
großzügigen Tests um jeden einzelnen Verdachtsfall herum. Wir hätten dann
nicht alle unsere Freiheiten zurück, aber doch mehr Spielraum als jetzt.
Auch Virologen sagen, dass die Versorgungskapazität in den Krankenhäusern
die eigentlich entscheidende Maßzahl sein muss, an der sich Lockerungen
orientieren sollten. Ist das falsch?
Das Problem ist die Zahl der schweren Fälle. Wenn ich diese nicht beatmen
kann, sterben mir die Patienten sofort weg. Aber selbst wer beatmet wird,
ist noch lange nicht gerettet. Trotz Beatmung sterben Studien aus
Großbritannien zufolge 60 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen
der Krankenhäuser. Mit einer reinen Aufstockung der Kapazitäten ist das
Problem also mitnichten gelöst.
Man hat vielerorts den Eindruck, die Menschen hätten nicht begriffen, dass
diese Pandemie keine Sache von ein paar Wochen ist. Welche Fehler hat die
Regierung in ihrer Krisenkommunikation gemacht?
Es ist wichtig, dass wir den Ernst der Lage so beschreiben, wie er ist. Wir
müssen ehrlich und zuverlässig sein, ohne zu dramatisieren. Mein Eindruck
ist, dass der kritische Teil der Bevölkerung genau diese Art der
Kommunikation annimmt.
Wie lange wird der Ausnahmezustand dauern?
Ich rechne damit, dass uns das Virus noch das ganze nächste Jahr maßgeblich
beeinflussen wird. Ich kenne keinen ernst zu nehmenden Virologen, der sagt,
dass wir über einen zuverlässigen Impfstoff noch in diesem Jahr verfügen
werden. Ich bin geneigt, den Epidemiologen aus Harvard zu folgen, [3][die
prognostizieren], dass das Virus noch bis 2022 unser Leben bestimmen wird.
Wie wird dieses Leben aussehen?
Das Maskentragen wird unseren Alltag bestimmen, in Zusammenspiel mit
Abstandsgeboten und Handhygiene. Wir werden distanzierter miteinander
umgehen.
Was heißt das?
Schwarz sehe ich weiterhin für Großveranstaltungen, aber auch gesellige
Kneipenrunden und Kontaktsport; Dinge, an denen auch ich sehr hänge, das
wird alles nicht mehr stattfinden. Eine neue Denkart wird Einzug in unsere
Köpfe halten: Wie viel schuldet die eine Generation der anderen? Ältere und
Vorerkrankte werden sich bedroht fühlen. Und wir werden uns mit den hohen
Kosten der Pandemiebewältigung auseinanderzusetzen haben. Die Krise wird
die Gesellschaft polarisieren.
Hat die Politik selbst verstanden, dass der Ausnahmezustand möglicherweise
noch zwei weitere Jahre dauern wird? Armin Laschet, der
NRW-Ministerpräsident, will über weitere Lockerungen im Mai sprechen.
Mein Eindruck ist, dass einige Politiker das sehr gut verstehen – und
andere weniger gut. Aber die letzte Gruppe wird es durch das Virus lernen.
Sie sind der bekannteste [4][Gesundheitsexperte der SPD]. Warum hört Ihre
Partei eigentlich nicht auf Sie?
Ich glaube nicht, dass die Partei nicht auf mich hört. Hinter den Kulissen
bin ich einflussreich.
Gesundheit ist kein absolutes Gut, sondern bloß eines unter vielen. Auch
Verfassungsrichter sagen, dass Grundrechte nicht unter dem lapidaren
Hinweis „Aber für die Gesundheit ist es notwendig“ ohne Weiteres
eingeschränkt werden dürfen. Sind die Richter ignorant?
Nein. Sie setzen sich intensiv mit der Gefährlichkeit des Virus
auseinander, sie nehmen die Daten ernst. Mein Eindruck ist: Die Realität
der Pandemie frisst sich durch die Denkweise. Auf allen Seiten wird
wahrgenommen, dass es um Grundrechtseinschränkungen geht, die wir noch nie
hatten. Und die wir hoffentlich nie wieder haben werden.
Hat diese Krise auch etwas Gutes?
Viele Menschen werden begreifen, wie bedingt aller Wohlstand und alle
Gesundheit ist. Wer sich und sein Geschäftsmodell für unverwundbar hielt,
lernt nun eine gewisse Bescheidenheit. Die Erfahrung, wie viel in kürzester
Zeit verloren gehen kann, wird manche und manchen menschlicher machen.
25 Apr 2020
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!5159219&s=Spa%C3%9Fbremse+Lauterbach/
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746/
[3] https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/intermittent-social-dist…
[4] /Massnahmen-gegen-Coronavirus/!5674869&s=Lauterbach/
## AUTOREN
Ulrich Schulte
Heike Haarhoff
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