# taz.de -- Kafkas „Die acht Oktavhefte“ in Hamburg: Nebelhorn im Schattenr… | |
> Am Schauspielhaus unternimmt Thom Luz eine Spurensuche in Kafkas | |
> Fragmentsammlung. Er löst ihr Rätsel nicht, aber die Detektivarbeit macht | |
> Freude. | |
Bild: Ein Nebelhorn trötet immer dann laut dazwischen, wenn jemand unbedingt e… | |
Misstrauisch hätte man vor zwei Stunden schon werden müssen, darüber, wie | |
leicht hier alles scheint. Gar nicht mal nur dieses monströse Klavier, das | |
an einem Seil von der Decke baumelt und hübsch funkelt, wenn es sich ins | |
Scheinwerferlicht dreht. Direkt darunter liegt ein Mensch im Bett und | |
wartet auf sein Ende. Und das wohl auch zu Recht, weil unter dem mehrfach | |
übersetzt durch den Raum gespannten Strick eine Kerze brennt, die rauchend | |
und manchmal zischend seine Fasern wegfrisst. So lange dauert es, dass man | |
unruhig wird, weil man so viel Zeit hat, sich vorzustellen, wie einem beim | |
nächsten Zischen ein Klavier in den Rücken kracht. | |
Über so was denkt man nach und vielleicht über die symbolische Reibung | |
hoher Kunst und zertrümmerter Knochen. Was hingegen völlig in Vergessenheit | |
gerät, ist die unsichtbare Sicherung des Klaviers – die Tricktechnik also, | |
der man hier längst hoffnungslos erlegen ist. Denn wie gesagt: Misstrauisch | |
hätte man zwei Stunden vorher werden müssen. Und war es nicht geworden. | |
Es ist Kafka, den der [1][Schweizer Regisseur Thom Luz] im Hamburger | |
Schauspielhaus inszeniert. „[2][Die acht Oktavhefte]“ ist eine zunächst | |
nicht mal lose zusammenhängende Sammlung von Skizzen: für Briefe oder | |
Erzählungen, die Kafka zwischen Ende 1916 und dem Frühjahr 1918 mit | |
Bleistift notiert und nicht selten gleich wieder durchgestrichen hat. | |
Nüchtern notiert werden auch Stimmungslagen und Zustände: Angst, Einsamkeit | |
und Sterben – aber auch profanere Angelegenheiten wie Hexenschüsse oder | |
Verstopfung. | |
Zwischen diesen Miniaturen und Fragmenten macht sich Thom Luz mit | |
Musiker:innen und Schauspielensemble nun auf die Suche. Nach etwas | |
Verbindendem und Gemeinsamem vielleicht, aber so ganz genau erklären sie | |
einem eigentlich nicht mal das. | |
„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“, lautet der erste Satz des ersten | |
Notizheftes, der durch die angebotene Beweisführung sogar noch | |
irritierender wird: „Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör | |
nachprüfen.“ Das klingt rätselhaft, ist aber programmatisch für diesen | |
Abend. | |
Alles befindet sich in permanentem Umbau: In Zimmermannshosen und schwarzen | |
Kapuzenpullis eilt der Chor unentwegt durch Duri Bischoffs Bühnenbild, | |
stellt Leitern und Türen auf und schiebt Gebäudeelemente durch die Gegend. | |
Wie gestresste Gastgeber:innen zu kurz vor der Party wuseln | |
Schauspieler:innen dazwischen, scheinen Anweisungen zu geben, oder | |
gucken bestürzt drein, weil immer noch nichts fertig ist. | |
So richtig wird es das zwar auch nicht, aber das Bild verdichtet sich | |
immerhin: zu einem instabilen Raum zwischen hohen, nikotingelben Wänden mit | |
grotesk großen Fenstern, durch die man ins windschiefe Modell einer | |
abschüssigen Altstadtgasse blickt. Textfragmente flackern an den Wänden | |
auf, die mit Daniele Pintaudis Klavierspiel zu korrespondieren scheinen, | |
meist aber viel zu schnell verschwinden, um wirklich gelesen zu werden. | |
„Stille“ kann man des Öfteren in diesem Wörterkompott entdecken, aber auch | |
„Dröhnen“. Es ist schon verblüffend, wie weit sich Kafkas Text in den | |
Hintergrund zurückzieht, während er im Bühnengeschehen sogar gedruckt | |
allgegenwärtig scheint. | |
Natürlich wird er auch gesprochen. So eindringlich sogar, dass man sich | |
fast Sorgen macht, wie traumwandlerisch sicher sich die | |
Schauspieler:innen durch diese zutiefst verstörende, weil hoffnungslose | |
Nebenwelt voller Geister bewegen. | |
Ab und an senkt sich ein Nebelhorn vom Schnürboden herab, um lautstark | |
dazwischenzutröten – ganz besonders dann, wenn gerade wer ansetzt zu | |
erzählen, was er oder sie wirklich gern möchte. | |
Vielleicht ist es die Autorität selbst, nach der man ja immer sucht im | |
Kafka, für die er geradezu berüchtigt ist. Nur scheint sie hier sonderbar | |
dezent – für Nebelhorn-Verhältnisse jedenfalls. Wie das Störgeräusch wird | |
auch Musik zum Puzzleteil: in sich wiederholenden Motiven im Spiel von | |
Klavier und Trompete, aber auch in den Texten, Melodien und Atmosphären | |
französischer Chansons. Ganz besonders schön: Wie [3][Aristide Bruants „A | |
Batignolles“], mit dem der Chor hier durch die Gänge des Schauspielhauses | |
wandert, mal sphärisch leise aus den Wänden hallt. Dann singen sie es | |
plötzlich lautstark oben auf den Rängen. | |
Ja, die Lieder sind wunderschön. Auch im Schauspiel gibt es ergreifende | |
Momente subtiler Zärtlichkeit, das Bühnenbild ist eine Augenweide, lustig | |
ist es auch noch und selbst das banalste Textfragment klingt hier wie ein | |
aufs Schärfste geschliffener Aphorismus. All das sind Zutaten, mit denen | |
Thom Luz den Blick auf Textexegese wohl eher verstellt als schärft, die | |
dafür aber eine zum Schneiden dichte Atmosphäre auf die Bühne zaubern. | |
Und das ist so schön, dass man es am liebsten gleich noch mal sähe – nur um | |
sich noch etwas tiefer darin zu verlaufen und beim nächsten Mal vielleicht | |
sogar noch etwas weniger zu verstehen. | |
4 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Regisseur-ueber-Kafkas-Acht-Oktavhefte/!5914158 | |
[2] https://schauspielhaus.de/stuecke/die-acht-oktavhefte | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=GqZ0xjtRgiw | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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