# taz.de -- Kämpfe im Osten der Ukraine: Da, wo die Russen schon mal waren | |
> Die ostukrainischen Städte Slowjansk und Lyman erwarten einen Überfall | |
> Moskaus. 2014 regierten dort prorussische Kräfte, 2022 wurde Lyman kurz | |
> besetzt. | |
Bild: Pfarrer Ewgen hat Angst vor den russischen Truppen: „Sie würden mich j… | |
SLOWJANSK taz | Die Ortstafel „Ukraine“ an der Einfahrt nach Slowjansk, im | |
Osten des Landes, ist von Einschusslöchern übersät. Diese Stadt, mit | |
ursprünglich rund 110.000 Bewohner*innen, zu erobern, ist eines der | |
Hauptziele Russlands [1][bei seinen Angriffen auf den Donbass]. Weniger als | |
30 Kilometer von Slowjansk verläuft die Kriegsfront. Die Gefühle sind | |
gemischt. Die Einfamilienhäuser in der Vorstadt stehen leer, | |
Sperrholzbretter an Fenstern und Türen deuten nicht auf eine baldige | |
Rückkehr hin. | |
Slowjansk hat sich mit den Jahren zu einem Zentrum der chemischen Industrie | |
entwickelt und ist, als Autobahn- und Eisenbahnknotenpunkt, strategisch | |
wichtig. An diesem frostigen Februarmorgen scheint der Krieg, der hier neun | |
Jahre tobt, weit weg. | |
Von besonderer Bedeutung sowohl für die ukrainische als auch die russische | |
Regierung ist Slowjansk [2][aufgrund der Ereignisse im April 2014], als | |
prorussische Bewohner*innen den Sitz des ukrainischen Geheimdienstes | |
SBU besetzten. Dies war der Beginn des Kriegs im Donbass. Im Juli 2014, und | |
im Zuge des sogenannten Euro-Maidan, eine nationalistische Wendung, kämpfte | |
die ukrainische Armee die Stadt wieder frei. Ende Februar 2022 hatte | |
Russland die selbst ernannten Volksrepubliken von Donetsk und Luhansk als | |
unabhängig anerkannt; mit der Ratifikation eines Beitrittsvertrags durch | |
den russischen Föderationsrat wurden sie im Oktober von der Russischen | |
Föderation annektiert. Heute ist der Rathausplatz mit dem ukrainischen | |
blau-goldenen Wappen Trýzub. | |
Die wenigen Einwohner*innen, die in der Stadt geblieben sind, versuchen | |
wieder, so etwas wie Alltag zu leben. Was 2014 geschah scheint weit weg zu | |
sein. Valeria raucht vor ihrem Friseursalon: „Egal, wer hier regiert – ob | |
Ukrainer oder Russen – mein Geschäft schließe ich nicht!“ Die Friseurin | |
erzählt, dass die Einwohner*innen sich vor allem als | |
Slowjansker*innen fühlten. | |
## Slowjansk war immer eine multikulturelle Stadt | |
„Dieser Krieg ist ein Konflikt der Politiker. Russisch ist unsere | |
Muttersprache, wir wollen jedoch nicht von Russland gerettet werden. Aber | |
warum hat unsere Stimme bei der Regierung in Kyjiw kein Gehör gefunden, | |
bevor sie die Reformen als Folge des Euro-Maidan angefangen hat umzusetzen? | |
Slowjansk war immer eine multikulturelle Stadt mit Usbek*innen, Pol*innen, | |
Tschech*innen und Russ*innen – nicht nur Ukrainer*innen.“ | |
Nicht weit von Valerias Friseursalon befindet sich auch das | |
Zivilkrankenhaus, in dem Julia als Oberschwester arbeitet. Viele | |
Vertriebene, meistens ältere Menschen, werden dort behandelt. „In den | |
letzten Tagen ist die Lage schlimmer geworden“, sagt sie. | |
Das seien vielleicht Vorboten der angekündigten russischen Offensive rund | |
um den 24. Februar, den ersten Jahrestag des Kriegsbeginns. Hautprobleme | |
bei Patient*innen als Folge mangelnder Hygiene und langen Aufenthalten | |
in feuchten Kellern häuften sich. Der Überfall durch prorussische Kräfte im | |
April 2014 sei eine unglaublich schwierige Zeit gewesen: „Ich bin | |
Ukrainerin und fühle mich auch so. Ich möchte überhaupt nichts mit Russland | |
zu tun haben.“ Zu der Frage, ob jemand aus Slowjansk, der oder die sich mit | |
Russland verbunden fühlt, sich inzwischen darüber frei äußern darf, möchte | |
Valeria nichts antworten. „Ich bin und fühle mich Ukrainerin, mehr möchte | |
ich dazu nichts sagen.“ | |
## Das gesamte Eisenbahnnetz ist verwüstet | |
Circa 28 Kilometer nördlich von Slowjansk liegt die leicht bergige Stadt | |
Lyman. Die Stadt mit einst 20.000 Bewohner*innen ist von Wäldern | |
umgeben, die Temperatur liegt oft unter dem Gefrierpunkt. Die Feinde Kyjiws | |
hatten Lyman im vergangen Jahr besetzt und hielten sie [3][bis Ende | |
September, als sie von der ukrainischen Armee eingekesselt wurden]. Die | |
Ortschaft ist ebenfalls ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, um den Nachschub | |
für die russischen Streitkräfte sicherzustellen. | |
Die Straße, die Slowjansk und Lyman verbindet, erzählt vom Krieg: von | |
Granaten zerfetzte Bäume, eingestürzte Brücken, Schützengräben und | |
verlassene getarnte Panzer am Straßenrand. Je näher man dem Stadtzentrum | |
kommt, desto größer ist das Ausmaß der Zerstörung: Das gesamte | |
Eisenbahnnetz ist verwüstet, Hunderte von Häusern und Geschäften sind | |
niedergebrannt. Trotz Explosionen als Hintergrundmusik lassen sich noch | |
einige Bewohner*innen auf der Straße blicken. Die versuchen Wasser, | |
Kartoffeln oder wichtige Medikamente aufzutreiben. | |
Die russische Besatzung von vergangenem Mai bis Oktober verbrachte der | |
Pfarrer Ewgen im Keller der Kirche Sankt Nikolas zusammen mit einem | |
Kirchendiener. Jetzt, vier Monate später, hält Ewgen eine Messe in einer | |
winzigen unterirdischen Kapelle des Tempels ab, die einem Militärbunker | |
ähnelt. | |
## Über Lenins Kopf fliegen Raketen hinweg | |
Während draußen Detonationen die Stille zerreißen, singt eine Handvoll | |
Gemeindemitglieder in der Dunkelheit und hält kleine Kerzen, deren | |
brennendes Wachs auf die Frostbeulen tropft. „Die Russen haben mich in Ruhe | |
gelassen. Ich musste mich nur ein Mal in der Woche persönlich auf der | |
Polizeiwache melden“, erzählt der Pfarrer nach der Messe. „Aber falls sie | |
Lyman noch einmal erobern, werde ich die Stadt verlassen, denn sie würden | |
mich umbringen. [4][Die russische und die ukrainische orthodoxe Kirche | |
verstehen sich leider nicht mehr.“] | |
Vor der Kirche, in der Hauptallee, steht eine große weiße Lenin-Büste, mit | |
einem schwarzen aufgemalten Hitler-ähnlichen Schnurrbart. Um die Büste | |
herum liegt nur Schnee – auch weiß. „Über Lenins Kopf fliegen seit Monaten | |
russische und ukrainische Raketen hinweg“, erzählt Luba, eine der wenigen | |
jungen Frauen in Lyman. „Die russischen Truppen befinden sich in der | |
unmittelbaren Umgebung. Viele hier freuen sich auf sie. Das sind Leute, die | |
teilweise den Russen während der Besatzung letztes Jahres geholfen haben | |
und auf eine neue Chance hoffen. Russland möchte die Sache zu Ende | |
bringen.“ Kurz nachdem Luba den Satz beendet hat, läuft sie weg. Auf keinen | |
Fall möchte sie fotografiert werden, denn sie hat Angst, sollten die | |
russischen Truppen demnächst in die Stadt eindringen. | |
Aus dem Spanischen [5][Gemma Terés Arilla] | |
12 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Unai Aranzadi Ormaechea | |
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