# taz.de -- Jurist über israelische Regierung: „Gewaltenteilung ist bedroht�… | |
> Die neue Regierungskoalition in Israel steht. Adam Shinar sorgt sich um | |
> geplante Rechtsreformen. Liberale Werte stehen auf dem Spiel. | |
Bild: Schon wieder zurück: Benjamin Netanjahu wird Korruption vorgeworfen | |
taz: Herr Shinar, wie besorgt sind Sie angesichts der [1][neuen Regierung | |
in Israel]? | |
Adam Shinar: Sehr. Wir werden eine Eskalation in den besetzten Gebieten | |
erleben, die Legalisierung von Außenposten, eine Verschärfung der | |
Besatzung, die noch brutaler werden dürfte. Und mir als Juraprofessor – | |
aber auch als einfachem Israeli – machen natürlich auch besonders die | |
geplanten juristischen Reformen Sorgen. | |
Eine dieser heftig umstrittenen Reformen soll die Einführung der | |
sogenannten Außerkraftsetzungsklausel sein. | |
Ja, sie würde es dem israelischen Parlament ermöglichen, das Oberste | |
Gericht zu überstimmen, wenn dieses ein Gesetz als verfassungswidrig | |
zurückweist. Wenn also das Oberste Gericht ein Gesetz aufhebt, weil es | |
gegen eines der Menschenrechte verstößt, das in den Grundgesetzen verankert | |
ist, kann die Knesset über diese Entscheidung hinweggehen und das Gesetz | |
verabschieden. Das heißt, der Schutz der Menschenrechte wird vollständig | |
vom Willen der Mehrheit abhängig sein. | |
Gerade in Israel ist das problematisch, weil es hier ohnehin ein sehr | |
schwaches System der Kontrolle und Gegenkontrolle gibt. Wir haben kein | |
föderales System. Wir haben nicht zwei Häuser des Parlaments, sondern nur | |
eins. Wir sind nicht dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte | |
unterstellt. Es gibt einzig die Instanz des Obersten Gerichts, das die | |
Entscheidungen des Parlaments überprüft. Die Schwächung des Gerichts | |
bedeutet, dass die Gesetzgebung – also die Regierung, die die Gesetzgebung | |
am Ende kontrolliert – die absolute Macht hat. Das ist ein sehr, sehr | |
ernstes Problem. | |
Viele sprechen davon, dass [2][Israel damit auf dem Weg ist], zu einem | |
Staat à la Ungarn oder Polen zu werden. | |
Polen und Ungarn sind gute Beispiele für das, was hier passieren könnte: | |
nämlich die Aushebelung der Gewaltenteilung, wie unter Viktor Orbán und | |
Jarosław Kaczyński. Damit kann die Fidesz-Partei in Ungarn machen, was sie | |
will. | |
So haben sie zum Beispiel das Rentenalter der Richter gesenkt. Auf diese | |
Weise wurden sie all die älteren Richter los, die der vorherigen | |
Grundordnung verpflichtet waren. Und nachdem sie diese Richter losgeworden | |
waren, ernannten sie ihre eigenen Richter, die im Grunde genommen jede | |
Politik, die sie wollten, absegneten. Sie haben die Kultur- und | |
Medienlandschaft verändert und öffentliche Institutionen zu | |
Orbán-Institutionen gemacht. Legitimiert wird dies, hier wie dort, damit: | |
Wir haben die Mehrheit. In Israel ist derzeit die Rede davon, dass | |
möglicherweise der staatliche Fernsehsender Channel 11 – ein Sender, der | |
angeblich die Rechte nicht ausreichend repräsentiert – geschlossen wird. | |
Itamar Ben-Gvir, der wegen Unterstützung einer rechtsterroristischen | |
Organisation verurteilt wurde, soll als Minister für Nationale Sicherheit | |
politische Kontrolle über die Polizei bekommen. | |
Ja, das bläst ins selbe Horn, die Polizei soll dem Minister für Nationale | |
Sicherheit untergeordnet werden. Das Gesetz dazu muss noch verabschiedet | |
werden, aber niemand zweifelt daran, dass es durchkommt. Der Gesetzentwurf | |
ist sehr vage formuliert, wohl mit Absicht, um Kritik abzuwehren. Aber im | |
Prinzip könnte es ein Instrument sein, um politische Feinde des Ministers | |
herauszufiltern und gegen die einen vorzugehen und gegen die anderen nicht. | |
Ben-Gvir könnte damit beispielsweise entscheiden, dass Ermittlungen gegen | |
Siedlergewalt oder Korruption nicht priorisiert werden sollten. | |
Stattdessen könnte er entscheiden – ein Extremfall, aber möglich –, es | |
dürfen keine Demonstrationen mehr in der Nähe der Balfour-Straße | |
veranstaltet werden, dort, wo die großen Anti-Netanjahu-Demonstrationen | |
seit zwei Jahren stattgefunden haben. Die Polizei wäre, wenn politisch | |
kontrolliert, nicht mehr in der Lage, den Menschen ohne Unterschied der | |
Hautfarbe, der Religion, des Geschlechts zu dienen – und es besteht ein | |
sehr ernstes Risiko, dass die Polizei nicht mehr so unabhängig ist wie | |
bisher. | |
Immer wieder kommt unter Kritiker*innen der neuen Regierung das Wort | |
„Theokratie“ auf. Ist das übertrieben? | |
Wer weiß, ob das übertrieben ist. Ich meine, Israel hatte schon immer Züge | |
einer Theokratie, weil viele Aspekte in Israel religiös geregelt sind. | |
Eheschließungen und Scheidungen zum Beispiel – in Israel gibt es ja keine | |
zivilen Ehen. Öffentliche Verkehrsmittel fahren hier fast nicht am | |
Schabbat. Wer in religiösen Schulen die Tora studiert, ist vom Armeedienst | |
befreit. Es gibt keine klare Trennung zwischen Religion und Staat. | |
Jetzt mit der neuen Regierung gibt es Diskussionen über | |
Geschlechtertrennung auf öffentlichen Plätzen und bei öffentlichen | |
Veranstaltungen. All diese Dinge gab es auf die eine oder andere Weise | |
bereits in Israel, aber sie werden wohl ausgeweitet. Noch sind die | |
Säkularen in der israelischen Gesellschaft in der Mehrheit, aber sie haben | |
nicht mehr viel politische Macht: Die Mehrheit in der Regierungskoalition | |
sind Religiöse. Zum ersten Mal in Israels Geschichte. | |
Was werden die Folgen sein? | |
Die neue Koalition ist von religiösen und nationalen Interessen | |
angetrieben und das wird wohl Einfluss auf die Erziehungs- und die | |
Schulpolitik haben, auf die Einwanderungspolitik, also auf die Frage, wer | |
als Jude akzeptiert wird und einwandern darf. Ich glaube, dass wir weiter, | |
ob Mann oder Frau, in kurzen Shorts durch Tel Aviv laufen dürfen, wir | |
nähern uns nicht einem Gottesstaat wie in Iran an und sind wohl weit davon | |
entfernt, dass Frauen eine religiöse Kopfbedeckung tragen müssen. Aber es | |
wird auf andere Weise schwierig werden. | |
Die politische Macht der Säkularen wird sehr stark eingeschränkt sein. | |
Gelder werden nun eher in Richtung Siedler und für religiöse Programme | |
geleitet werden als in liberale Programme. Liberale Werte werden darunter | |
sicher leiden und weniger gedeihen. In vielerlei Hinsicht wird sich mein | |
eigenes Leben wahrscheinlich nicht allzu sehr verändern, aber um meine | |
Kinder und die Erziehung, die sie in den Schulen bekommen werden, mache ich | |
mir durchaus Sorgen. | |
Viele Kritiker*innen spielen mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. | |
Sie auch? | |
Wir sprechen manchmal darüber. Aber ich habe noch keine rote Linie, an der | |
ich sage: Ich gehe. Zumal es sich ja eher so abspielt, dass es eher eine | |
Menge von kleinen Dingen gibt, die sich summieren, aber bei denen es schwer | |
ist, eine rote Linie zu bestimmen. Es ist wie mit dem Frosch, den man in | |
einem Aquarium auf die Heizung stellt. Man spürt, dass es wärmer wird, aber | |
es ist nicht schrecklich. Und wenn man merkt, dass das Wasser kocht, ist es | |
zu spät. Wann merkt man, dass es nicht mehr nur warm ist, sondern sehr | |
heiß? Ich weiß es nicht. | |
22 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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