Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Internationale Filmfestspiele Venedig: Alles in Kasten
> Lidokino 9: Das Beben um die Berlinale-Leitung ist auch bei den
> Filmfestspielen in Venedig Thema. Auf der Leinwand wird postkoloniale
> Theorie unbeholfen bebildert.
Bild: Aunjanue Ellis und Jon Bernthal im Film „Origin“ von Ava DuVernay
Die Berlinale scheint den Filmfestspielen von Venedig dieser Tage ein wenig
die Schau zu stehlen. Unfreiwillig, weil das Berliner Festival nichts für
die Pressemitteilungen aus dem Haus von Kulturstaatsministerin Claudia Roth
kann. Nach der [1][Meldung, dass auf die 2019 eingeführte Doppelspitze der
Leitung wieder das Intendanten-Einpersonenmodell von früher folgen soll],
hatte sich Chatrian auf der Seite des Festivals persönlich zu Wort gemeldet
und klargestellt, dass er, da er nicht für diese Position vorgesehen ist,
sich vom Festival zurückziehen wird.
Ein Debakel für die Kulturstaatsministerin Claudia Roth: Auf die
öffentliche Beschädigung Chatrians folgte am Mittwoch ein offener Brief,
den bis jetzt über 400 Filmschaffende unterzeichnet haben, darunter
Regiestars wie Martin Scorsese, Paul Schrader, Claire Denis, Radu Jude,
Joanna Hogg und Christian Petzold ebenso wie die gerade [2][in Venedig im
Wettbewerb vertretenen Bertrand Bonello] und Ryūsuke Hamaguchi.
Sie „protestieren gegen das schädliche, unprofessionelle und unmoralische
Verhalten von Staatsministerin Claudia Roth, die den von uns sehr
geschätzten künstlerischen Leiter Carlo Chatrian trotz Versprechungen,
seinen Vertrag zu verlängern, zum Rücktritt gezwungen hat.“
## Historische Phänomene zusammenfassen
Derweil nimmt sich der Wettbewerb von Venedig gleichfalls aktueller, wenn
auch anderer Fragen an. So bebildert der Spielfilm „Origin“ der
[3][US-amerikanischen Regisseurin Ava DuVernay] das 2020 erschienene
Sachbuch „Kaste“ der Autorin Isabel Wilkerson, worin diese so verschiedene
historische Phänomene wie die Sklaverei, das indische Kastenwesen und den
Holocaust unter dem Begriff der Kaste zusammenzudenken versucht.
Sie sieht darin, so lautet eine wiederkehrende Botschaft des Films, eine
Alternative zum Begriff des Rassismus. Als Handlungsvehikel dient
Wilkersons persönliches Schicksal; binnen kurzer Zeit starben ihr Ehemann,
ihre Mutter und eine ihr sehr nahe Cousine. Aunjanue Ellis-Taylor
verkörpert Wilkerson, wie sie zwischen diesen Schlägen zu ihrem Thema
recherchiert und dafür etwa nach Deutschland und Indien reist.
Eine Geschichte gelingt DuVernay damit allerdings nicht. Stattdessen baut
sie zwischen die heutige Handlung kurze historische Episoden aus
NS-Deutschland, den segregierten USA und Indien ein, unterlegt mit
Wilkersons theoretischen Ausführungen und sanfter Kammermusik von Arvo
Pärt.
Dabei schneidet DuVernay Szenen mit auf Holzbetten angeketteten Sklaven
einerseits und KZ-Insassen bei der Zwangsrasur andererseits so übergangslos
aneinander, dass man kaum umhinkann, darin eine Suggestion zu erkennen:
Seht her, wie sich die Dinge gleichen. Eine Relativierung des Holocaust
muss das Drehbuch keiner Figur mehr in den Mund legen. Die Bilder tun das
ihre. Als wäre das nicht genug, bleibt am Ende die Frage, ob der Film nicht
bloß ein gut zweistündiger Reklamestreifen für Wilkersons Buch ist – und
wozu man diesen eigentlich braucht.
7 Sep 2023
## LINKS
[1] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5954776
[2] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5955099
[3] /Regisseurin-ueber-Martin-Luther-King/!5019773
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Claudia Roth
Carlo Chatrian
Kolumne Lidokino
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Schwerpunkt Berlinale
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
Surrealismus
Holocaust
Schwerpunkt Berlinale
Martin Luther King
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pedro Almodóvar gewinnt Goldenen Löwen: Im Zweifel für Bewährtes
Solide Wahl in einem Jahrgang mit wenigen Höhepunkten: Die 81.
Filmfestspiele von Venedig enden mit dem Goldenen Löwen für Altmeister
Pedro Almodóvar.
Kulturstaatsministerin in der Defensive: Roth verteidigt Berlinale-Kurs
Der künstlerische Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, kündigt seinen
Ausstieg an. Claudia Roth zeigt sich überrascht über den Rückzug.
Preisverleihung Filmfestspiele Venedig: Ein Herz für Monster
Bei den 80. Filmfestspielen von Venedig gewinnt der Favorit „Poor Things“
von Yorgos Lanthimos in einem Wettbewerb mit kaum ernsthafter Konkurrenz.
Internationale Filmfestspiele Venedig: Die eigene Identität tauschen
Lidokino 10: Lachen mit Dalí und Franz Rogowski als Jenischer. Das Komische
läuft bei den Filmfestspielen von Venedig hauptsächlich außer Konkurrenz.
Historikerstreit 2.0: Konjunkturen der Erinnerung
Ein Sammelband beleuchtet die blinden Flecken der postkolonialen Theorie.
Er zeigt, warum die Präzedenzlosigkeit der Shoah gut begründet ist.
Die Berlinale-DirektorInnen im Interview: „Berlin ist eine politische Stadt“
Die Berlinale hat eine neue Leitung. Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian
im Gespräch über „dunkle Filme“ und die NS-Vergangenheit von Alfred Bauer.
Berlinale Special über Martin Luther King: Die eigene Haut riskieren
Eine Frage der Gewalt und des richtigen Kalküls – Ava DuVernays Film
„Selma“ über Martin Luther King ist spannend und aktuell.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.