# taz.de -- In Kyjiw ohne Strom und Wasser: Ungleich verteilte Ausfälle | |
> Erneut hat unser Autor kein Licht und muss mit dem Eimer zur Toilette | |
> gehen. Aber ein Freund kann in seinem Haus jederzeit den Aufzug benutzen. | |
Bild: Russische Angriffe sorgen dafür, dass es in der ukrainischen Hauptstadt … | |
Ein morgendlicher Griff an den Heizkörper und ich weiß, was los ist. | |
Eiskalt. Bisher hatten wir in der Gemeinschaftswohnung immer nur keinen | |
Strom oder kein Internet, nun haben wir also keine Wärme. Abwechslung macht | |
das Leben interessant. | |
Auch der Kühlschrank gibt keinen Laut von sich. Mir schwant Schlimmes. Die | |
75-jährige Rentnerin Nadja greift zum Telefon. Wenigstens das funktioniert. | |
„Walja, guten Morgen“, sagt sie zu ihrer Freundin. „Wie geht’s? Wir hab… | |
keinen Strom.“ „Und wir haben dafür kein Wasser“ antwortet ihr Walja. | |
„Moment mal“ sagt Nadja. „Ich geh mal gucken.“ Und nach einer halben Mi… | |
ist sie wieder am Telefon. „Wir haben auch kein Wasser“, sagt sie, schon | |
mit etwas höherer Stimmlage. „Und wir, das merke ich erst jetzt, haben auch | |
keinen Strom“, antwortet ihr Walja. | |
Wieder einmal hat Russland zugeschlagen. [1][Wieder einmal ist die | |
Energieversorgung in der ganzen Ukraine in Mitleidenschaft gezogen]. Und | |
die Menschen reagieren inzwischen anders auf diese Luftschläge als noch vor | |
einigen Monaten. Damals, zu Beginn des Krieges, da war man noch | |
fassungslos, da haben viele ihre Verwandten in Russland angerufen und ihnen | |
erzählt, was wirklich los ist. Es war fast eine Enttäuschung: Es könne doch | |
nicht sein, dass Russland uns so was antut, lautete die Haltung im März. | |
Inzwischen ist die Enttäuschung einer tiefen Gewissheit gewichen, dass „die | |
Russen halt so sind; dass sie es nun mal so an sich haben, [2][ab und zu | |
mal ein paar Raketen zu ihren Nachbarn rüberzuschicken]“. Verachtung ist | |
schlimmer als Hass. Gleichzeitig denkt man bei einem Raketeneinschlag, bei | |
Strom- und Wasserausfall erst mal an sich. Man sucht seine Akkulampe, geht | |
mit einem Eimer Wasser zur Toilette, zieht sich wärmer an. Bei Regen denkt | |
man ja auch nicht über den Regen nach, sondern überlegt, wo sich momentan | |
der Schirm befindet. | |
## Die in der Innenstadt haben mehr Strom | |
Auf dem Weg in die Stadt am Vormittag bin ich froh, dass ich ein Fahrrad | |
habe. Nicht einmal die U-Bahn fährt. Gut, dass es regnet. Ist also nicht so | |
kalt heute Abend in meiner Wohnung. | |
„Nimm doch den Aufzug, ich bin im 11. Stock“, sagt mir Dmytro, ein | |
ukrainischer Bekannter und Anwalt. Er hat sich in einem Hochhaus in | |
Bahnhofsnähe einquartiert. „Was ist das Problem?“, fragt er verwundert, als | |
er merkt, dass ich zögere. „Hab ja schon einige Geschichten von Leuten | |
gehört, die im Aufzug steckengeblieben sind, als der Strom plötzlich | |
ausgefallen ist“, sage ich ihm. „Nein, nein, keine Sorge“ antwortet er. | |
„Hier bei uns gibt es immer Strom. Warum? Das ist das Geheimnis des | |
Besitzers. Wahrscheinlich weil unser Nachbar gegenüber im Ministerium ist.“ | |
Ich gehe zuerst noch mal zur Toilette, bevor ich mich in den Aufzug wage. | |
Mit den Stromausfällen hat man sich ja fast schon abgefunden. „Was ist ein | |
Strom- und Wasserausfall im Vergleich zu dem, was die an der Front erleben. | |
All die zerschossenen Wohnungen dort“, sagt sich Nadja am Abend. Nur die | |
Ungerechtigkeit stört viele. Die in der Innenstadt haben mehr Strom als die | |
Menschen in den Randgebieten. Und auch da ist es unterschiedlich. Oftmals | |
hat ein Haus Strom und das Nachbarhaus keinen. | |
Will man erkennen, ob nur das eigene Haus vom Stromausfall betroffen ist | |
oder das ganze Viertel, reicht ein Blick auf das Smartphone. Wenn kein | |
einziges WLAN angezeigt wird, heißt das, dass niemand im Viertel Strom hat. | |
Wenn dagegen mehrere Verbindungen offen sind, nur der Kontakt zum eigenen | |
Router nicht möglich ist, dann heißt das, dass wieder einmal nur man selbst | |
im Dunkeln hockt. „Ich habe gerade bei der Wohnungsverwaltung angerufen, | |
wollte Druck machen, dass sie uns auch mal Strom geben, nicht nur immer den | |
Nachbarn“, sagt Nadja. „Und wissen Sie, was die am anderen Ende der Leitung | |
gesagt haben: ‚Wir verstehen Sie so schlecht, sprechen Sie bitte etwas | |
lauter – nein, besser noch, rufen Sie bitte morgen Vormittag noch mal an‘.�… | |
Ein gutes Zeichen ist es, wenn die angezeigten WLAN-Accounts im PC immer | |
mehr werden. Das heißt, dass der Strom nah ist. Und dann gegen 22 Uhr höre | |
ich es aus der Küche – der Hahn tröpfelt. Sehr schön. Es geht aufwärts. | |
Gleichwohl ist immer noch keine Energie da – ich drehe den Lichtschalter | |
auf „on“. Denn ich will vom Licht geweckt werden, von der freudigen | |
Nachricht, dass wir wieder Anschluss haben. Und dann werde ich erst mal | |
alle Akkus in die Steckdose stecken – und diesen Text an die taz schicken. | |
Leider sind Heizung, Strom und Wasser immer noch weg – Internet läuft aber | |
inzwischen wieder. | |
17 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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