# taz.de -- Impfstoff gegen Corona: Alle Welt wartet | |
> Während Covid-19 überall wütet, sichern die reichen Länder sich vorab | |
> Impfstoffe. Doch vielleicht gibt es eine Lösung. | |
Bild: Die Fotos stammen aus der Serie „One“. Sei zeigt Menschen mit Mundsch… | |
Der Parkplatz des Krankenhauses gleicht einer Zeltstadt. Planen schirmen | |
Patient*innen notdürftig ab, überall zieht der Wind rein. Eine Sackkarre | |
steht neben ein paar grauen Gasflaschen, die nach Baustelle aussehen. Es | |
ist die Covid-19-Station einer südafrikanischen Kleinstadt im Osten des | |
Landes. Wer hier liegt, der kämpft mit dem Leben, dem raubt Covid-19 die | |
Luft. | |
Gefilmt hat diese bizarre Szene eine junge Frau, deren Vater in der | |
provisorischen Zeltstadt starb. Das war Anfang August. Den Parkplatz | |
bezeichnet seine trauernde Tochter als Leichenschauhaus. | |
Das Video ging viral. Es zeigt ein Land, das im Gesundheitsnotstand ist, so | |
wie viele Länder momentan. | |
Seit Monaten werden [1][laut] Johns-Hopkins-Universität täglich 200.000 bis | |
300.000 neue Infektionen weltweit nachgewiesen. Über 800.000 Menschen sind | |
bisher insgesamt an dem Virus gestorben, weit mehr als durch eine starke | |
Grippeepidemie. Täglich kommen Tausende hinzu, die traurige Kurve der | |
Verstorbenen weltweit wird nicht flacher. | |
Forscher, Konzerne und Regierungen arbeiten deshalb unermüdlich an | |
Therapien und dem ersehnten Impfstoff. [2][Mehr als 170 Forschungsprojekte] | |
sind es auf der ganzen Welt. Als wäre der Impfstoff das Wettrennen zum | |
Mond, hat Russland jüngst stolz den ersten Wirkstoff zugelassen, allerdings | |
völlig unzureichend getestet. „Furchtbar“ sei dieses „russische Roulette… | |
kommentierte der Kölner Infektiologe Gerd Fätkenheuer im Kölner | |
Stadt-Anzeiger. US-Präsident Donald Trump holte nach und erteilte | |
vergangene Woche eine Notfallgenehmigung für eine auf Plasma gestützte | |
Behandlungsmethode. Ihr Nutzen: unbekannt. | |
Die Entwicklung geht so schnell wie nie. Zehntausende Menschen lassen | |
Impfstoffe an sich testen – in Großbritannien, Brasilien, den USA, China, | |
Deutschland und vielen anderen Ländern. Sechs Wirkstoffe befinden sich in | |
der finalen Phase III, dem Massentest vor einer Zulassung, darunter der | |
Stoff der Mainzer Firma BioNTech. Drei weitere sind in Phase II, mit dabei | |
das Tübinger Unternehmen CureVac. | |
Expert*innen sprechen von einer nie dagewesenen Kooperation zwischen | |
Staaten und Unternehmen, einer Reaktion in Rekordzeit. Coronatests und | |
Forschungen waren auch deshalb so schnell möglich, weil Informationen über | |
das Virus, etwa sein genetischer Bauplan, frei geteilt wurden. Die | |
Menschheit hat aus vergangenen Seuchen gelernt. Aus Ebola, Mers, Sars, der | |
Schweinegrippe und HIV. | |
Und trotzdem schimmert überall noch nationaler Egoismus durch. Baldige | |
Hilfe ist möglich, aber die entscheidende Frage über Leben und Tod in | |
vielen Ländern ist: Wer bekommt wie schnell einen Impfstoff? Diejenigen, | |
die ihn am Dringendsten brauchen? Oder die am meisten zahlen? | |
Fragt man Salim Abdool-Karim, was mehr zählt, Not oder Profit, dann lacht | |
er. Abdool-Karim ist Epidemiologe, Professor an der US-amerikanischen | |
Eliteuniversität Cornell, Südafrikaner und ein Veteran im Kampf gegen | |
tödliche Viren. An diesem Morgen im August sitzt er in seinem Büro in | |
Durban, das Interview findet per Video statt. Abdool-Karim ist an der | |
Universität stellvertretender Rektor der Forschungsabteilung. Er trägt | |
einen dunkelblauen Anzug und winkt freundlich in die Kamera. | |
Anfang der 2000er Jahre war er einer der Pioniere im Kampf gegen HIV. | |
Damals lebten mehr als 4 Millionen Menschen mit dem Virus, fast 20 Prozent | |
der Bevölkerung Südafrikas. Die meisten so arm, dass sie sich die teuren | |
Medikamente nicht leisten konnten. | |
Erst als ein Rechtsstreit zwischen der südafrikanischen Regierung und 39 | |
multinationalen Pharmakonzernen 2001 beigelegt werden konnte, wurden die | |
Medikamente günstiger. Generika, vor allem aus Asien, ersetzten nun die | |
teuren Originale. | |
Abdool-Karim kämpfte damals als Mediziner und Aktivist. Er sprach offen | |
über die Profitsucht der Konzerne. Heute sitzt er als Berater der | |
südafrikanischen Regierung im Coronakrisenstab. | |
613.000 Infizierte, überlastete Krankenhäuser und mehr als 13.000 Tote. Das | |
ist die Größenordnung der Aufgabe, die Abdool-Karim zu stemmen hat. | |
Gemeinsam mit anderen Expert:innen versucht er, das Land durch die Krise zu | |
führen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Südafrika etwas abbekommt vom | |
begehrten Impfstoff, und zwar so schnell wie möglich. | |
Denn wer in Südafrika an einem schweren Verlauf von Covid-19 erkrankt, für | |
den ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben wegen des schlechten | |
Gesundheitssystems wesentlich höher als in Deutschland oder anderen | |
EU-Staaten. Die Geschichte des viralen Videos aus Südafrika steht | |
exemplarisch für Hunderttausende Schicksale in fast allen | |
Entwicklungsländern. | |
Wer Geld hat, sichert sich einen Impfstoff. Ein wildes Wettbieten um die | |
ersten Impfstoffe ist im Gange: Die EU kauft vorab 405 Millionen Dosen | |
eines möglichen Impfstoffs beim Tübinger Hersteller CureVac, bis zu 400 | |
Millionen Dosen beim britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca, der einen | |
von der Universität Oxford entwickelten Impfstoff produzieren will. Der | |
US-amerikanische Pharmariese Pfizer und das deutsche Unternehmen BioNTech | |
zeichneten ein Abkommen mit den USA über 100 Millionen Impfdosen für 1,95 | |
Milliarden Dollar. | |
„Uns bleiben vermutlich nur die Reste“, sagt Abdool-Karim. „Die USA und | |
Europa haben bereits erste Verträge unterschrieben und sich einen Zugang | |
gesichert.“ Gewinnt also der Profit? So einfach ist die Sache nicht. Denn | |
Vorabverträge können auch Sinn ergeben. Die Frage einer gerechten | |
Verteilung und des Zugangs dazu beschäftigt auch Institutionen wie die WHO | |
und die EU-Kommission. | |
15,6 Milliarden Euro sammelte die EU-Kommission für den globalen Kampf | |
gegen das Coronavirus. Die Pandemie sei nur vorbei, wenn sie überall vorbei | |
sei, sagte Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin: „Das heißt, | |
dass jede Person auf der Welt Zugang zu Tests, Behandlungen und Impfstoffen | |
hat, egal, wo sie lebt, woher sie ist und wie sie aussieht.“ | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel so wie auch Frankreichs Präsident Emmanuel | |
Macron versicherten, der Impfstoff „sei ein globales Gut für alle | |
Menschen“. Macron verkündete: „Gesundheit kann man nicht kaufen und | |
verkaufen.“ | |
Warum die EU sich aber trotzdem exklusiv Impfstoffe sichert, erklärt die | |
EU-Kommission in einem Strategiepapier: Das an die Konzerne gezahlte Geld | |
dient als Anzahlung für spätere Impfstoffe, damit die Entwicklung, Tests | |
und Zulassung beschleunigt und parallel Produktionsstätten aufgebaut werden | |
können. So gehe alles viel schneller und davon profitiere die ganze Welt, | |
schreibt die Kommission auf Anfrage. | |
Mittlerweile verhandelt die EU-Kommission Vorverträge über Impfstoffe für | |
alle Staaten der Union gebündelt. Alle Hersteller, die so oder durch andere | |
Fördertöpfe finanziert werden, müssen versprechen, auch Entwicklungsländern | |
Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Was genau in diesen Verträgen steht, | |
wie konkret sich Pharmakonzerne zur günstigen Abgabe von Impfstoffen an | |
Entwicklungsländer verpflichten – all das ist völlig intransparent. | |
Und vor allem heißt das nicht, dass die Impfstoffe nach Bedarf verteilt | |
werden. Die EU-Kommission schreibt auf Anfrage, man wolle nicht benötigte | |
Impfdosen an Entwicklungsländer spenden. Heißt übersetzt: Erst kommen wir, | |
dann die anderen. | |
Das zeigt auch das Beispiel Gavi, eine globale Impfallianz privater | |
Geldgeber, Staaten und Organisationen wie der WHO, der Gates Stiftung und | |
der Weltbank. Gavi hat den Auftrag, den Zugang zu Impfstoffen etwa gegen | |
Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten auch für Länder des globalen Südens zu | |
sichern und hat bereits mehrere Kooperationen angekündigt, etwa mit | |
AstraZeneca. Oder in Form eines Programms mit Namen ACT-Accelerator. Es | |
sieht vor, Dosen eines Corona-Impfstoffes von Unternehmen mit öffentlichen | |
und privaten Geldern einzukaufen und dann günstiger an einkommensschwache | |
Länder abzugeben. | |
Von dieser Kooperation könnten 92 Länder profitieren. Auch Südafrika. | |
Allerdings könnten nur rund 20 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung | |
Zugang zu dem Impfstoff erhalten. Was aber immerhin für Risikogruppen und | |
medizinisches Personal ausreicht. Mehr Dosen sind in dem Programm nicht | |
vorgesehen. Und dann? Salim Abdool-Karim sagt, man müsse bei der Verteilung | |
Prioritäten setzen: Alte, Kranke und wichtiges Personal müssten zuerst | |
versorgt werden. Der Rest müsse warten. Vielleicht Jahre. Angesichts der | |
Erfahrungen Südafrikas mit HIV ist Abdool-Karims Sorge verständlich. | |
„Wir dürfen jetzt nicht die gleichen Fehler machen wie damals bei HIV“, | |
sagt eine, die ihr Leben einem Ziel gewidmet hat: dem universellen Zugang | |
zu wichtigen Medikamenten für alle Menschen. Ellen ’t Hoen heißt sie, heute | |
ist sie bei der in Amsterdam ansässigen Organisation Medicines Law & | |
Policy. Seit 30 Jahren arbeitet die Anwältin für ihr Ziel. Eines der | |
häufigsten Hindernisse für einen fairen Zugang zu Medikamenten waren in der | |
Vergangenheit die Eigentumsrechte von Pharmaunternehmen. Das | |
niederländische Königshaus verlieh ’t Hoen im Jahr 2020 für ihre Arbeit den | |
Orden von Oranien-Nassau, eine Art Bundesverdienstkreuz. | |
Anfang der Nullerjahre starben in Entwicklungsländern täglich 8.000 | |
Menschen an Aids. Seit 1999 gab es antivirale Medikamente gegen HIV, die | |
vielen das Leben hätten verlängern können. In den Industrieländern waren | |
sie erhältlich, in Entwicklungsländern lange nicht. Indien produzierte zwar | |
Generika, weil es dort noch keinen Patentschutz gab, durfte sie aber nicht | |
exportieren. Besonders Südafrika litt darunter. | |
Auch wenn HIV und Sars-Cov-2 in vielerlei Hinsicht verschieden sind und es | |
bei HIV um Therapien, nicht um Impfungen ging: Die Geschichte könnte sich | |
bei Covid-19 im Zeitraffer wiederholen, fürchtet ’t Hoen. Aber, und deshalb | |
lohnt sich der Vergleich zwischen HIV und Sars-Cov-2: ’t Hoen und ihre | |
Mitstreiter*innen haben im Kampf gegen HIV und andere Seuchen die | |
grundlegenden Strukturen für die heutige Kooperation gegen Sars-Cov-2 | |
geschaffen. | |
Darauf baut Carlos Alvarado Quesada auf, der Präsident und | |
Gesundheitsminister von Costa Rica, der zusammen mit der | |
Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai einen Technologie-und Patente-Pool | |
zur Bekämpfung von Covid-19, abgekürzt C-Tap, vorgeschlagen hat. | |
Die Idee ist radikal: Um Covid-19 zu bekämpfen, braucht es nicht nur | |
Impfdosen und die Lizenz, sie herzustellen. Es braucht auch die nötigen | |
Technologien und rechtssichere Abkommen, sie zu verwenden, dazu das Wissen | |
über Produktionsabläufe, mögliche Therapien, die Logistik, die Software und | |
natürlich das Personal, um alles zu verwalten. Bündelte man die nötigen | |
Informationen dazu weltweit und für alle, müsste alles doch viel schneller | |
gehen. | |
Bisher haben 40 Länder ihre Unterstützung angekündigt, von den | |
Industrieländern allerdings nur Norwegen, Luxemburg, Niederlande und | |
Belgien. Das könnte sich aber bald ändern: Man befinde sich noch im Aufbau, | |
Gespräche mit der Industrie und mit Industrieländern liefen. „Wir hoffen, | |
wir können bald mehr dazu sagen“, sagt ein WHO-Sprecher. | |
Dass C-Tap absolut Sinn ergibt, für Menschen und Konzerne, zeigt das | |
Beispiel HIV. Im August 2008 kamen 25.000 Menschen zur 17. | |
Welt-Aids-Konferenz in Mexiko zusammen. Prominente sangen Lieder und es gab | |
zur Eröffnung flammende Appelle, die Seuche endlich gemeinsam zu bekämpfen. | |
Die Reden erinnern an die Appelle heute bei Covid-19. | |
Am Rande der Konferenz verhandelte Ellen ’t Hoen mit den Pharmariesen der | |
Welt, mit dem Ziel, wichtige Medikamente für Menschen in | |
Entwicklungsländern bezahlbar zu machen. ’t Hoen war damals Leiterin der | |
Politikabteilung bei Ärzte ohne Grenzen. Im Jahr 2010 wurde sie erste | |
Leiterin des Medicines Patent Pool von Unitaid, einer internationalen | |
Organisation, die für bezahlbare Medikamente gegen HIV/Aids, Malaria und | |
Tuberkulose arbeitet. Der Pool ist heute eine der Grundlagen für C-Tap. | |
Erst 2011 brachte das US-Unternehmen Gilead als erstes Pharmaunternehmen | |
Patente für ein Anti-HIV-Medikament in den Pool ein. Auch weil es ein gutes | |
Geschäft war: Gilead bekam 3 bis 5 Prozent Lizenzgebühren und einen | |
riesigen Markt. Andere Pharmaunternehmen folgten, heute sind 13 Medikamente | |
gegen HIV, drei gegen Hepatitis C und eines gegen Tuberkulose in | |
Entwicklungsländern bezahlbar. | |
Vor allem aber brachten die Konzerne auch neue, bessere Wirkstoffe ein, die | |
noch nicht genehmigt waren, inklusive des Wissens über ihre Herstellung. | |
„Die Generikahersteller konnten loslegen, sobald die Wirkstoffe genehmigt | |
waren“, sagt ’t Hoen. Diese Beschleunigung rettete Leben – deshalb müsse | |
das Prinzip jetzt auch bei Covid-19 angewandt werden, sagt die Anwältin. | |
’t Hoen ist nicht gegen geistiges Eigentum. „Patente sind keine Frage der | |
Moral, ihre Verwendung schon“, sagt sie. Sie sicherte mit dem Medicines | |
Patent Pool beide Seiten ab: die Industrie, die Lizenzgebühren erhielt, und | |
die Generikahersteller, die trotz Gebühren günstig und rechtssicher | |
Medikamente herstellen konnten. Zwar ist die Zahl der Menschen, die mit HIV | |
leben, seit 2009 auf heute circa 38 Millionen angestiegen. Dafür werden 25 | |
Millionen Menschen mit Medikamenten behandelt. | |
Der Rest bekommt keine, weil die Infrastruktur fehlt oder Krieg herrscht. | |
Im Jahr 2009 bekamen nur rund 6 Millionen Menschen Medikamente, bei damals | |
33,3 Millionen Infizierten weltweit. Immer noch sterben fast 700.000 | |
Menschen jährlich an durch Aids ausgelösten Krankheiten. Das sind aber | |
immerhin rund 40 Prozent weniger als 2010. | |
Derzeit ist allerdings wegen Covid-19 vielerorts die Versorgung mit | |
Medikamenten gegen HIV, die das Virus unterdrücken, unterbrochen. Sollte | |
sich das nicht ändern, könnte eine halbe Million Menschen an Aids erkranken | |
und sterben – wegen Maßnahmen gegen Covid-19. | |
Ist der Patentpool nun ein Erfolg? ’t Hoen seufzt am Telefon. „Die Antwort | |
hängt davon ab, an welchem Wochentag Sie mich fragen. Manchmal glaube ich, | |
wir haben enorme Fortschritte gemacht. Manchmal glaube ich, wir brauchen | |
ein ganz anderes System für medizinische Entwicklungen“, sagt sie. Vor | |
allem aber hätte die Zeit gezeigt, wie man die Pharmaindustrie dazu bringt | |
zu kooperieren. | |
Aus ihrer Sicht waren es vier wichtige Punkte: Öffentlicher Druck, | |
öffentliche Gelder, die glaubhafte Drohung mit staatlichen Zwangslizenzen | |
auf die Medikamente und Barack Obama. Der ordnete das National Institute of | |
Health [3][persönlich an], seine Patente auf HIV-Mittel als Erstes | |
allgemein zugänglich zu machen. Einer der treibenden Köpfe damals im | |
Hintergrund übrigens: der HIV-Experte Anthony Fauci, der heute Donald Trump | |
im Kampf gegen Covid-19 berät und allzu oft an seinem Chef verzweifelt. | |
Paul Fehlner ist niemand, der leicht verzweifelt. Der US-Amerikaner schützt | |
Entwicklungen von Pharmaunternehmen, Patente sind sein Leben. Von 2008 bis | |
2017 war er „Chef des geistigen Eigentums“ beim schweizerischen | |
Pharmaunternehmen Novartis, heute arbeitet er in gleicher Position beim | |
US-Biotech-Unternehmen Axcella. Mit seiner Haltung zu der weltweiten | |
Kooperation ist er aber in seiner Branche eine Ausnahme. Denn Paul Fehlner | |
glaubt nicht, dass diese das Ende von Patenten und dem Schutz geistigen | |
Eigentums von Pharmakonzernen bedeute. Es gehe nur darum, das Modell des | |
geteilten Wissens sinnvoll zu gestalten. | |
Die Erfahrungen mit Medikamenten gegen HIV und Tuberkulose hätten die | |
Dynamik in der Pharmaindustrie grundlegend verändert – und Covid-19 könnte | |
den Trend noch verstärken: „Die Industrie hat eingesehen, dass Länder mit | |
schlechter Ökonomie keine Märkte für ihre teuren Medikamente sind“, sagt | |
er. Es sei denn, sie werden gegen Lizenz dort billig hergestellt. | |
Zumindest teilweise haben die Konzerne das verstanden: Indische | |
Generikahersteller produzieren das Mittel Remdesivir von Gilead Sciences, | |
das den Krankheitsverlauf von Covid-19 abmildern soll, mittlerweile unter | |
Lizenz 80 Prozent billiger für die eigene Bevölkerung. Auch AstraZeneca hat | |
Vereinbarungen mit dem indischen Serum Institute geschlossen, einem der | |
größten Impfstoffproduzenten weltweit. Es soll den in Oxford entwickelten | |
Impfstoff als Generikum für Entwicklungsländer günstig herstellen. | |
Aus diesen Einzelfällen sollte ein Prinzip werden, sagen Fehlner und ’t | |
Hoen: „Wenn eine Impfung gegen Corona in Entwicklungsländern bezahlbar | |
zugänglich ist, dann macht das einfach zusätzliche Einnahmen für die | |
Unternehmen“, sagt Fehlner. | |
Es gibt weitere Zeichen der Hoffnung: Die Bill and Melinda Gates Foundation | |
hat ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 15 Pharmakonzerne sämtliche | |
Daten zu bereits bekannten Wirkstoffen, die möglicherweise gegen Covid-19 | |
helfen, teilen. „Das ist ein enormer Fortschritt im Vergleich zur letzten | |
Pandemie, dem Sars-Ausbruch 2002“, sagt Fehlner. Auch damals verursachte | |
ein neuartiges Coronavirus ein bis dahin unbekanntes schweres akutes | |
Atemwegssyndrom, kurz Sars. Damals forschten die Pharmakonzerne jeder für | |
sich an einem Gegenmittel. | |
Für Fehlner ist die Sache einfach. Wenn wie derzeit Milliarden an | |
öffentlichen Geldern an die Pharmaindustrie gehen, dann müsse das mit | |
klaren Auflagen verknüpft sein, nach dem Motto: Alles erforschte Wissen | |
wird geteilt, fertig. Staaten zahlen die Entwicklung für die Impfstoffe, | |
zahlen für Impfdosen und Produktionsstätten, bevor die Wirkung überhaupt | |
erwiesen ist. Damit nehmen sie der Industrie die Risiken ab. | |
„Die Öffentlichkeit kann jetzt aus ihrem Investment auch Profit erwarten: | |
dass Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich früher zur Verfügung stehen, weil | |
das nötige Wissen geteilt wird“, sagt Fehlner. Diese Idee der WHO wäre | |
nicht das Ende, sondern der Beginn echten Wettbewerbs. | |
Mit der Pharmaindustrie über die Frage nach der globalen und gerechten | |
Verteilung eines möglichen Impfstoffes zu sprechen, ist kaum möglich. „Da | |
wir als Nasdaq-gelistetes Unternehmen derzeit eine Kapitalerhöhung | |
durchführen, ist es uns nach amerikanischen SEC-Regularien zu diesem | |
Zeitpunkt nicht möglich, Interviews zu führen. Sobald die Transaktion | |
abgeschlossen ist, stehen wir gerne wieder für Gespräche zur Verfügung“, | |
antwortet BioNTech, der deutsche Impfstoffhersteller und Partner des | |
Pharmariesen Pfizer auf Anfrage der taz. Eine ähnliche Antwort kommt vom | |
Tübinger Impfstoffentwickler CureVac. | |
Schließlich ist doch jemand bereit zu sprechen: Andy Powrie-Smith, Sprecher | |
von Vaccines Europe, einem Zusammenschluss der europäischen | |
Pharmaindustrie. Ein rundlicher Mann mit Brille, der sich per | |
Videointerview aus seinem Landhaus in Schottland zuschaltet, um die Sicht | |
der Konzerne zu schildern. | |
„Die Unternehmen befinden sich gerade in einer Entwicklungsphase“, sagt | |
Powrie-Smith und spricht von einer nie dagewesenen Zusammenarbeit zwischen | |
privaten Unternehmen, öffentlichen Forschungseinrichtungen und Staaten. Er | |
klingt begeistert. | |
Könnte also tatsächlich eine Verteilung gelingen, von der nicht nur die | |
G20-Staaten, sondern auch der Globale Süden profitiert? Powrie-Smith sieht | |
dabei vor allem die Regierungen in der Verantwortung: „Die Industrie | |
arbeitet an der Herstellung und an einer Produktion, die sicherstellt, dass | |
ein möglicher Impfstoff global verteilt werden kann“, sagt er. „Gerecht und | |
vor allem bezahlbar.“ | |
Die Forderung von Staaten wie Costa Rica, die Pharmaindustrie solle ihre | |
Patente und ihr Wissen in einen gemeinsamen Pool einbringen, sieht er aber | |
genauso kritisch wie ein Großteil der Industrie. „Ich halte das für Unsinn | |
und zum jetzigen Zeitpunkt auch für gefährlich“, sagt etwa Albert Bourla, | |
Chief Executive von Pfizer. „Innovationen kosten nun mal viel Geld“, | |
verteidigt Powrie-Smith die Aussage seines Kollegen. Fortschritt in der | |
Entwicklung von Medikamenten sei ein jahrelanger Prozess. Würden Firmen | |
ihre Patente für einen möglichen Covid-19 Impfstoff einfach abtreten, seien | |
die langjährig aufgebauten Strukturen in Gefahr, Investoren würden | |
abspringen. | |
Doch die Idee des Pools ist ja nicht, Patente abzutreten, sondern sie offen | |
zur Verfügung zu stellen. Nicht keinen Profit zu machen, sondern weniger. | |
Fehlner fürchtet, bei einigen Managern herrsche ein lang gehegtes | |
Misstrauen, eigene Entwicklungen einfach zu teilen. „Die Branche denkt, | |
alles, was nicht direkt für mich ist, muss gegen mich sein. Ich vermute, | |
die haben die Idee, Ideen zu teilen, nicht wirklich kapiert“, sagt er. | |
Momentan läuft eine Testreihe zu einem möglichen Corona-Impfstoff in | |
Johannesburg, die einzige auf dem afrikanischen Kontinent. Getestet wird | |
der Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca und der Universität Oxford. Erforscht | |
wird, wie die südafrikanische Bevölkerung auf den Wirkstoff reagiert, denn | |
der Wirkungsgrad hängt auch von sozialen und ökonomischen Faktoren wie | |
Einkommen und Lebensumständen ab. Auch in Brasilien läuft so eine Studie. | |
Besseren Zugang bekommen die beteiligten Länder allerdings nicht. „Durch | |
diese Studie sitzen wir immerhin mit am Tisch“, sagt Abdool-Karim. | |
Ellen ’t Hoen und Fehlner glauben, dass es für Länder wie Südafrika noch | |
nicht zu spät ist. Die Staaten müssten aber deutlich konsequenter | |
Pharmaunternehmen dazu verpflichten, öffentlich finanzierte Technologien | |
und Patente auch öffentlich zugänglich zu machen. Beide hegen die leise | |
Hoffnung, dass aus der Coronapandemie etwas Neues entstehen könnte: | |
Innovationsmodelle, die mehr auf Kooperation beruhen. Krankheiten könnten | |
so binnen Jahren, nicht Jahrzehnten besiegt werden. „In ein paar Jahren | |
sagen wir vielleicht: Corona, das war der Start eines neuen Modells in der | |
Medizinentwicklung“, sagt ’t Hoen. | |
Es sei Wahnsinn, sagt Fehlner, dass Pharmakonzerne weltweit gleichzeitig an | |
denselben Problemen forschen und die meisten ihre Ergebnisse immer noch | |
voreinander verstecken. Wie viel schneller könnten Krankheiten geheilt | |
werden, würde sich das ändern? | |
29 Aug 2020 | |
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