| # taz.de -- Identitätspolitik versus Klassenkampf: Etablierter Kampfbegriff | |
| > In der Linken wird mal wieder eine Spaltung herbeigeredet. Dabei gehören | |
| > Verteilungs- und Anerkennungspolitik seit jeher zusammen. | |
| Bild: Black-Lives-Matter-Demo auf dem Berliner Alexanderplatz im Juni | |
| Es gibt diesen zynischen Running Gag, dass die Linke sich hervorragend | |
| selbst spalten kann. Dass das linke Projekt nicht vorankommt, weil sich die | |
| Bewegung in Splittergruppen und Lager zerteilt. Da mag etwas dran sein. | |
| Aber manche Spaltungen gibt es, andere werden herbeigeredet. Zum Beispiel, | |
| weil man sich bestimmte Teilbereiche linker Politik gerne wegwünschen will. | |
| So eine Spaltung wollen einige Zeitungstexte in den vergangenen Wochen | |
| wieder identifiziert haben. Zwischen denen, die etwas namens | |
| Identitätspolitik befürworten, und denen, die es ablehnen. Dass es zum | |
| Bruch komme zwischen jüngeren Linken, denen Antirassismus und Feminismus | |
| wichtig seien, und der älteren Generation mit ihrer Politik der | |
| ökonomischen Machtverhältnisse („Klasse“). [1][Derlei Thesen sind in der | |
| taz zu finden] und [2][woanders]. Das Problem: Je öfter man das behauptet, | |
| desto eher trägt man genau zu einer Spaltung bei. | |
| Der Begriff Identitätspolitik taucht ab den 90er Jahren als identity | |
| politics im englischsprachigen Diskurs auf; in akademischen Texten als | |
| wertfreier oder affirmativer Überbegriff für soziale Bewegungen von | |
| Minderheiten und für sozialwissenschaftliche Disziplinen, die aus ihnen | |
| hervorgehen. African-American Studies, Women’s Studies und Queer Studies | |
| sind zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte alt und mittlerweile in | |
| einem begrenzten akademischen Rahmen anerkannt. Das macht einen Überbegriff | |
| nötig für den Gegenstand, den sie alle beforschen: identity politics. | |
| Parallel etabliert sich derselbe Begriff aber noch mit einer völlig anderen | |
| Bedeutung und Intention. Konservative sehen in identity politics | |
| Partikularinteressen mit zersetzender Wirkung auf die Gesellschaft. | |
| US-Konservative – die sich den größten Teil der 90er Jahre in der | |
| Opposition befinden –, aber auch einige Linke veröffentlichen | |
| [3][Warnschriften etwa gegen Quoten und Multikulturalismus]. | |
| ## Sorge um die nationale Einheit | |
| Identity politics wird zum Kampfbegriff. Die Konservativen behaupten, die | |
| Förderung diskriminierter Gruppen werde in deren Bevorzugung umkippen. Sie | |
| warnen, dass Identität – vor allem racial, aber auch gendered – das | |
| universelle „Amerikanersein“ als Grundlage für Politik ablösen und so die | |
| nationale Einheit der USA gefährden könnte. Eine Einheit, die man sich als | |
| weiß-männlich dominiert vorstellte. | |
| Wer nicht um nationale Einheit besorgt war, fand einen anderen Vorwurf. | |
| Linke sahen in Identitätspolitik etwas, das die traditionelle linke | |
| Verteilungspolitik verdrängte. Der Fokus auf gender und race und auf | |
| Anerkennung ginge zulasten der Kategorie class und von Eigentumsfragen. | |
| Ende der 90er wehrt sich Nancy Fraser, eine hierzulande oft rezipierte | |
| linke US-Philosophin, gegen diese „falschen Gegensätze“. Fraser | |
| argumentiert, dass sich [4][Verteilungspolitik und Anerkennungspolitik | |
| nicht ausschließen,] und schlägt Teilhabe als verbindenden analytischen | |
| Begriff vor. In dem Moment, da für einen afroamerikanischen | |
| Wall-Street-Banker kein Taxi anhalte, müsse man „jenseits der Verteilung | |
| von Rechten und Gütern denken und kulturelle Wertesysteme untersuchen“. | |
| Eigentlich war dieser Vermittlungsversuch nie nötig. Selbstverständlich | |
| ging es der antirassistischen US-Bürgerrechtsbewegung um Anerkennung und um | |
| Verteilungsfragen zu Kapital, Wohnraum, Bildung und Gesundheit; und | |
| natürlich ging es Frauenbewegungen jenseits wie diesseits des Atlantiks um | |
| Anerkennung und um finanzielle Autonomie. | |
| Und dennoch kehrten die „falschen Gegensätze“ in den folgenden Jahrzehnten | |
| immer wieder. Hier „echte linke Politik“ mit Drecksarbeit und | |
| Besitzverhältnissen und da Identitätspolitik mit ihren Quoten und | |
| Schreibweisen sowie ihrer Repräsentation in den Medien – auch in | |
| Deutschland, wo besonders in den letzten Jahren wiederholt | |
| Verteilungspolitik und Anerkennungspolitik als gegensätzlich behauptet | |
| worden sind oder die Belange von Frauen, queeren Menschen oder nichtweißen | |
| Gruppen als Widerspruch zu den Bedürfnissen des „kleinen Mannes“, also | |
| ungefähr des weißen Nichtakademikers auf dem Land. | |
| ## Ein rechtes Feindbild | |
| Das ist ein Phänomen der AfD-Ära. Der Rechtspopulismus konstruiert ein | |
| Feindbild „urbaner Elite“ – und serviert dieses seiner Zielgruppe. Schaut | |
| her, sie studieren, sie verachten die kleinen Leute, und sie reden über | |
| Gender. Und diese Taktik findet Widerhall. | |
| Im November machte Ex-SPD-Chef [5][Sigmar Gabriel in einer Rede ein] | |
| „Überhandnehmen von Themen wie Schwulenrechte, Gleichstellungsrechte, | |
| Migration“ für die Misere seiner Partei verantwortlich: „Die Arbeiterpartei | |
| Deutschlands ist derzeit die AfD.“ | |
| Es sind nie die eigenen Versäumnisse, es ist die Identitätspolitik, die die | |
| Rechten stärkt. Für manchen ist sie schon dasselbe wie rechte Politik. „Die | |
| einen sagen, man wisse nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen | |
| bekämpfen alte weiße Männer“, [6][sagte der grüne Tübinger | |
| Oberbürgermeister Boris Palmer] voriges Jahr, nachdem er sich online | |
| darüber echauffiert hatte, dass die Deutsche Bahn bei den Fotomodellen für | |
| ihre Werbung auf Diversität achtet. „Und gemeinsam haben die | |
| Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht, uns zu spalten.“ | |
| [7][Neulich stand in der taz]: „Mit einer Biografie als schwuler, urbaner | |
| Migrant lässt sich auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital generieren | |
| als mit einem Dasein als Normalo in Eisenhüttenstadt.“ Dieser Satz ergibt | |
| nur Sinn, wenn man die Setzung übernimmt, dass hier zwei sauber getrennte | |
| Angelegenheiten zueinander in Konkurrenz stünden. In Wahrheit existieren | |
| Sexismus, Rassismus und die Heteronorm überall da, wo sich auch | |
| Klassenfragen stellen: in Berlin wie in Eisenhüttenstadt, Gelsenkirchen | |
| oder Neustadt an der Weinstraße. | |
| Auch gibt es längst Denkangebote, die einen Blick auf all diese Dimensionen | |
| gleichzeitig möglich machen. Frasers Begriff der Teilhabe ist eines. Ein | |
| anderes ist das [8][Konzept der multiplen Krise], das annimmt, dass sich | |
| Finanzkrise, Nationalismus, Klima, Rassismus und Sexismus wechselseitig | |
| bedingen. Identitätspolitik als wertneutraler Begriff spielt im | |
| deutschsprachigen Diskurs quasi keine Rolle. In den Sozialwissenschaften | |
| ist statt von Identität üblicherweise die Rede von sozialer Positionierung. | |
| Von den beiden Varianten des englischen identity politics hat sich in | |
| Deutschland nur die eine etabliert: der Kampfbegriff. Das ganze Wortfeld | |
| ist geprägt von Angriff und Verteidigung. | |
| ## Feindbild im eigenen Lager | |
| Wer einer Spaltung entgegenwirken will, wer eine wirkliche Debatte möchte, | |
| verzichtet besser auf einen Begriff, der nur dazu in der Lage ist, zu | |
| spalten und lächerlich zu machen. Es sei denn, genau das wäre die | |
| Intention: ein Feindbild im eigenen Lager zu schaffen. Man packt ein Paket | |
| aus Gendersternchen, Quoten- und Repräsentationsforderungen, Antirassismus, | |
| Diversityprogrammen und ein paar mehr oder weniger gut gelungenen Witzen | |
| über alte weiße Männer. Man klebt das Etikett „Identitätspolitik“ drauf… | |
| assoziiert alles, was drinsteckt, mit Sprechverboten, mit Begriffen wie | |
| Zensur und Diktatur und macht es obendrein für das Ende linker | |
| Verteilungspolitik verantwortlich. | |
| Das ist eine Taktik, die – egal ob mit Absicht oder nicht – Kritik am | |
| patriarchalen und kolonialen Status quo unsagbar macht, die Menschen | |
| verleumdet; die einen Großteil von dem diskreditiert, was heute das Projekt | |
| soziale Gerechtigkeit ausmacht. Wozu diese Taktik hingegen nicht taugt: | |
| zeitgemäße Klassen- und Verteilungspolitik zu entwerfen. | |
| Ansätze wie Gender-Mainstreaming, kritisches Weißsein oder Queer-Theorie | |
| führen zum Nachdenken über Privilegien [9][und zur Frage, wer spricht]. Das | |
| ist aber nicht dasselbe wie ein Sprechverbot. Das zu behaupten, ist eher | |
| Selbstschutz, weil diese Fragen etwas Hässliches offenlegen, das nicht vom | |
| individuellen Selbstbild jeder*jedes Einzelnen zu trennen ist. | |
| Unbestreitbar gibt es jeweils verdaulichere und radikalere Auslegungen, ob | |
| nun von Antirassismus oder von Feminismus, queerer Politik oder | |
| Klassenkampf. | |
| Zerwürfnisse über einzelne Forderungen und Thesen wird es immer geben. In | |
| den Kernpunkten der Analyse mag sich die Mehrheit zwar mittlerweile einig | |
| sein: dass Diskriminierung existiert, und zwar strukturell, und dass sie | |
| nicht durch Abwarten weggeht. Dennoch sorgen konkrete Forderungen für | |
| Streit und setzen Fliehkräfte frei. Das liegt in der Natur des politischen | |
| Prozesses und ist aus der Debatte über die Gleichstellung von Frauen | |
| altbekannt – spätestens seit [10][eine Aktivistin 1968 eine Tomate] in | |
| Richtung der männlichen Genossen warf, weil diese ein Desinteresse an | |
| Frauenfragen zur Schau stellten. Warum sollte es bei der Debatte über die | |
| Gleichstellung Schwarzer Menschen und People of Color anders sein? | |
| „Black Lives Matter“ oder #MeToo sind nichts Überraschendes, sie sind | |
| Momente in einem Prozess, der seit Jahrzehnten im Gang ist, der | |
| patriarchale und koloniale Gewissheiten herausfordert – und der Teil linker | |
| Politik ist, weil: Welcher denn sonst? Wer das nicht anerkennen mag und | |
| stattdessen linke Themen gegeneinander ausspielt, handelt fahrlässig. Oder | |
| mit Absicht. | |
| 31 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /taz-Kolumne-ueber-Polizei/!5691333 | |
| [2] https://www.zeit.de/2020/27/taz-polizei-debatte-streit-kolumnistin-hengameh… | |
| [3] https://www.nytimes.com/1995/11/19/books/the-politics-of-identity.html | |
| [4] https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/12624/ssoar-1998-fra… | |
| [5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=34996 | |
| [6] /Kommentar-Tuebinger-OB-Boris-Palmer/!5587804 | |
| [7] /Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446 | |
| [8] /Vor-dem-Klimastreik/!5640907 | |
| [9] /taz-Debatte-ueber-Muell-Kolumne/!5690982 | |
| [10] /Podcast-Passierte-Tomaten/!5534058 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
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