# taz.de -- Hessische Grüne und NSU-Aufarbeitung: Geheimhaltung als Staatsräs… | |
> Die hessischen Grünen weigern sich, die NSU-Akten offenzulegen. Wie | |
> glaubwürdig sind sie im Kampf gegen rechts? | |
Bild: Protest vor der hessischen Landesvertretung 2015 | |
FRANKFURT AM MAIN/BERLIN taz | Entscheidungen des Petitionsausschusses, | |
zumal in einem Landesparlament, haben selten Nachrichtenwert. Dort landen | |
Eingaben von BürgerInnen, die eine Idee haben, einen Verbesserungsvorschlag | |
für ein Gesetz oder ein Problem mit einer Behörde. Oft sind es | |
Kleinigkeiten. Doch das, was der Petitionsausschuss des hessischen Landtags | |
vorbereitete – und was das Parlament am Mittwochabend bestätigte, besitzt | |
eine Brisanz, die bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit blieb. | |
[1][Die schwarz-grüne Koalition in Hessen weigert sich], geheim gehaltene | |
Akten zu der Mordserie des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen | |
Untergrunds (NSU) offenzulegen. Mehr als 134.000 Menschen hatten eine | |
[2][Petition unterschrieben, in der die Veröffentlichung gefordert wird]. | |
Zu den UnterzeichnerInnen gehören auch Angehörige des im Jahr 2006 in | |
Kassel [3][vom NSU ermordeten Halit Yozgat]. In einer emotionalen | |
Landtagsdebatte blieb die schwarz-grüne Koalition bei ihrer Haltung, die | |
sie zuvor im Petitionsausschuss festgelegt hatte: Die Petition wird an die | |
Landesregierung überwiesen – „zur weiteren Bearbeitung“. | |
Was dabei herauskommen wird, erklärte CDU-Innenminister Peter Beuth in der | |
Debatte sehr offen: Eine Veröffentlichung der NSU-Akten könne es aus | |
rechtlichen Gründen nicht geben. Sicherheitsbehörden könnten ihre | |
Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen, argumentierte Beuth. „Ansonsten | |
könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere | |
gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden.“ | |
Die Grünen, die seit 2014 mit der CDU regieren, sehen das auch so. Den | |
Wunsch der PetentInnen könne er zwar nachvollziehen, sagte Fraktionschef | |
Mathias Wagner. Eine Veröffentlichung drohe aber die Arbeit des | |
Verfassungsschutzes zu erschweren oder gar zu behindern. | |
## Heikler Selbstwiderspruch für die Grünen | |
Schon vergangene Woche argumentierte Wagner nach dem Votum des | |
Petitionsausschusses, eine Veröffentlichung könne „Leib und Leben“ von | |
InformantInnen über die rechte Szene gefährden. | |
Das ist allerdings ein brüchiges Argument: Entsprechende Stellen, die für | |
InformantInnen heikel sind, könnten ja geschwärzt werden, argumentierte die | |
Opposition. Wie auch immer, die hessischen Akten zum NSU bleiben also erst | |
mal unter Verschluss. Seine Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und | |
[4][Beate Zschäpe] ermordeten in den Jahren 2000 bis 2007 9 Migranten und | |
eine Polizistin, sie verübten 43 Mordversuche und 3 Sprengstoffanschläge. | |
Und die hessischen Akten, die wohl auch das Versagen deutscher Behörden | |
dokumentieren, werden der Öffentlichkeit vorenthalten? | |
Besonders die Grünen geraten durch diese Strategie in einen heiklen | |
Selbstwiderspruch. Sie gerieren sich gerne als aufrechte KämpferInnen gegen | |
Rechtsextremismus, als Gegenpol zur AfD und als Partei der Bürgerrechte. In | |
ihrem Programm treten sie für Transparenz ein und strenge Kontrolle der | |
Nachrichtendienste. All das wird durch das hessische Vorgehen | |
konterkariert, es könnte die Glaubwürdigkeit der Partei über Hessen hinaus | |
beschädigen. | |
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach von einer „Bankrotterklärung der | |
Grünen im Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus.“ | |
## Auf Bundesebene drückt man sich | |
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ging in der turnusmäßigen | |
Pressekonferenz am Montag vorsichtig auf Distanz zu den Hessen – vermied | |
aber ausführliche Einlassungen. „Wir hätten uns auch einen anderen Weg | |
vorstellen können.“ Mehrere Nachfragen der taz zu der Causa am Donnerstag | |
ließ der Bundesvorstand lieber unbeantwortet. | |
Baerbock und ihr Co-Chef Robert Habeck wandten sich allerdings am 11. Mai | |
in einem Brief an die PetentInnen. In dem Schreiben, das der taz vorliegt, | |
vermeiden sie Kritik an den hessischen Parteifreunden – und verweisen auf | |
den Entwurf für das Bundestagswahlprogramm: Darin finde sich die Forderung | |
nach der Einrichtung einer Behörde, „in der die Aufarbeitung des | |
NSU-Komplexes durch die bislang 13 parlamentarischen | |
Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene ausgewertet und | |
Dokumente langfristig für Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und | |
die Zivilgesellschaft zugänglich gemacht werden.“ | |
Kurz: Kein Kommentar zu Hessen, aber mehr Transparenz irgendwann, | |
vielleicht. Konstantin von Notz, Innenpolitiker und stellvertretender | |
Fraktionsvorsitzender im Bundestag, wird deutlicher. „Es muss maximale | |
Transparenz hergestellt werden“, sagte er der taz. „Jeder Stein sollte | |
umgedreht werden, auch in der parlamentarischen Aufklärung.“ Das werde | |
seine Partei im Wahlprogramm und im Wahlkampf sehr deutlich machen. Während | |
in Hessen die Geheimhaltung mit dem Interesse des Staates begründet wird, | |
sieht von Notz die Sache anders herum. „Bei einem so gravierenden Fall wie | |
dem NSU-Komplex muss man sich fragen, ob dem Staatswohl mit Transparenz | |
nicht mehr gedient wäre als mit Intransparenz.“ | |
Von Notz hat noch einen anderen Punkt. „Der Rechtsstaat geht mit | |
Hinterbliebenen oft bürokratisch und kalt um.“ Das beobachte er schon | |
länger. Was etwa die Familien der Opfer des Terroranschlags vom | |
Breitscheidplatz mit deutschen Behörden erlebten, sei „verstörend und | |
krass“. Für ihn ist klar: „Wir brauchen einen empathischeren Rechtsstaat.�… | |
## Verheerende Wirkung auf migrantische Community | |
Kanzlerin Angela Merkel hatte in ihrer Gedenkrede für die NSU-Opfer 2012 | |
persönlich Aufklärung versprochen und sich bei Angehörigen der Opfer | |
entschuldigt: Die Polizei hatte jahrelang im Dunkeln getappt und sogar | |
Angehörige der Opfer verdächtigt. Medien hatten von „Dönermorden“ | |
berichtet. | |
Angesichts dessen könnte die hessische Entscheidung eine verheerende | |
Wirkung in der migrantischen Community und bei den Opferfamilien entfalten. | |
Erste Hinweise gibt es bereits. Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die | |
im NSU-Prozess Angehörige vertrat, twitterte am Donnerstagmorgen: „Ich habe | |
die Diskussion im Landtag verfolgt und es bitter bereut, dass ich Euch, | |
Grüne Hessen, mal Vertrauen geschenkt habe.“ Außerdem bedankte sie sich bei | |
PolitikerInnen von SPD und Linkspartei, die die Offenlegung forderten. | |
Ein entscheidender Grund für das Vorgehen der hessischen Grünen ist die | |
Koalitionsräson. Die CDU ist strikt gegen die Offenlegung, Regierungschef | |
[5][Volker Bouffier war in der Zeit der NSU-Mordserie Innenminister] – also | |
federführend zuständig. CDU und Grüne setzen in Hessen auf demonstrative | |
Geschlossenheit: Die führenden Köpfe sprechen sich eng und regelmäßig ab, | |
Konflikte werden intern geklärt und nicht nach außen getragen. Bouffier und | |
der wichtigste Grüne, Vizeministerpräsident Tarek Al-Wazir, duzen sich. | |
Auch gilt eine strikte Arbeitsteilung, der eine mischt sich in die Bereiche | |
des anderen nicht ein. Als Juniorpartner lassen die Grünen | |
CDU-Innenminister Peter Beuth unbehelligt seine Kreise ziehen. Die | |
Grünen-Fraktion feierte den Minister für seine vermeintlich großartige | |
Bilanz in der Kriminalitätsentwicklung in Hessen, ein halbes Jahr nach dem | |
[6][Mord an Walter Lübcke] und wenige Tage vor den [7][rassistisch | |
motivierten Morden in Hanau]. | |
## Versäumnisse als Erfolg werten | |
Ähnlich sieht es in der Flüchtlingspolitik aus: Auch aus Hessen werden | |
Flüchtlinge nach Afghanistan und Syrien abgeschoben. Gut integrierte | |
Menschen, die seit Jahren für ihren Unterhalt aufkommen oder in Ausbildung | |
sind, kurz bevor ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht zugestanden hätte, | |
müssen unter anderem ausreisen. | |
Es blieb allein den Oppositionsparteien vorbehalten, die schleppenden | |
Ermittlungen im Zusammenhang mit den Drohmails unter dem Kürzel „NSU 2.0“ | |
zu kritisieren. Und dass erst jetzt, nach zwei Jahren, unberechtigte | |
Datenabfragen von Polizeicomputern effektiv abgestellt werden sollen, gilt | |
den Grünen als Erfolg und nicht als Versäumnis. Die Grünen lassen den | |
Innenminister auch gewähren, wenn er die Präsidentin des Landeskriminalamts | |
für die Zukunft zu einer politischen Beamtin machen will und damit unter | |
Kuratel stellt, ebenso die künftigen PräsidentInnen der Polizeihochschulen. | |
Bei der Aufklärung des NSU-Terrors kam es schon früher zu politischen | |
Blamagen: Erst sollten die [8][NSU-Akten 120 Jahre lang unter Verschluss | |
bleiben], nach Kritik reduzierte die Koalition die Zeitspanne auf 30 Jahre. | |
Die Grünen enthielten sich 2014, als das Parlament einen | |
NSU-Untersuchungsausschuss einsetzte. Fraktionschef Wagner sprach sechs | |
Jahre später von einem „Fehler, aus dem wir gelernt haben“. | |
Teile der Basis ärgerten sich über das defensive Vorgehen in der Sache. Der | |
innenpolitische Sprecher der Fraktion, Jürgen Frömmrich, wurde bei der | |
KandidatInnenaufstellung für die Landtagswahl 2018 abgestraft und auf der | |
Liste nach hinten durchgereicht. Doch dank des sensationell guten | |
Wahlergebnisses zog er in den neuen Landtag ein und rückte zum | |
Fraktionsgeschäftsführer auf. | |
20 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
Ulrich Schulte | |
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