| # taz.de -- Hafenstadt Odessa im Ukrainekrieg: Stadt im Widerstand | |
| > Odessa wird seit Kriegsbeginn attackiert. Doch die Menschen in der | |
| > Schwarzmeerstadt tun alles, um Moskaus Angriff standzuhalten. Ein | |
| > Ortsbericht. | |
| Bild: Vom Richter bis zum Friseur: Alle helfen bei der Befüllung von Sandsäck… | |
| Вы также можете прочитать этот текст [1][на р… | |
| Odessa taz | Odessas Strände sind vermint, und auf den Hauptstraßen der | |
| Stadt stehen Panzerigel, jene Stahlgestelle, die zur Panzersperre dienen. | |
| Das Denkmal des Stadtgründers, des Herzogs von Richelieu, ist durch | |
| Sandsäcke geschützt. Das Foto des berühmten Odessaer Opernhauses hinter | |
| Barrikaden ging um die Welt. | |
| All das weckt schmerzliche Erinnerungen daran, wie der Theaterplatz während | |
| der Besatzung im 2. Weltkrieg aussah. Wie fürsorgliche Eltern verpacken die | |
| Einheimischen die Dinge, die ihnen am Herzen liegen, um sie zu schützen. | |
| Hier in Odessa hat man bis zum letzten Augenblick nicht geglaubt, dass | |
| Russland die Ukraine überfallen könnte. Der überwiegende Teil der Menschen | |
| in dieser Stadt ist russischsprachig, und niemand hat je ihre Rechte | |
| verletzt. | |
| Und doch sind die Odessiten, wie die übrigen Ukrainer, am 24. Februar um 5 | |
| Uhr morgens von den Salven der feindlichen Raketen aufgewacht. Die Stadt | |
| wurde von russischen Streitkräften beschossen. So etwas hätte man sich in | |
| seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. | |
| ## Sirenen und Solidarität | |
| Seit diesem Tag sind mehr als drei Wochen vergangen. [2][Einige Menschen | |
| haben die Stadt verlassen], andere sind geblieben. Sie sind unter | |
| psychischer Dauerbelastung. Sogar mit ungeschultem Auge kann man die | |
| russischen Kriegsschiffe vor der Küste liegen sehen. Mal kommen sie näher, | |
| mal bewegen sie sich in Richtung Krim und an der gesamten Küste entlang. | |
| Jeden Tag sind in der Stadt die Sirenen zu hören. Sie warnen vor der Gefahr | |
| von Luftangriffen. Regelmäßig hört man auch Explosionen und Schüsse. Die | |
| Menschen verstecken sich in Kellern, Bunkern und Tiefgaragen. Viele haben | |
| sich diese Schutzräume bereits mit Sesseln und Decken eingerichtet. In | |
| einem Haus haben die Bewohner schon vorsichtshalber die Bilder von den | |
| Wänden genommen, damit sie bei einem Angriff nicht herunterfallen und | |
| kaputt gehen. | |
| Doch trotz der Unvorhersehbarkeit der Situation lebt die Stadt weiter. In | |
| Odessa gibt es eine der stärksten Freiwilligenbewegungen im Land. | |
| Wohltätigkeitsorganisationen haben die Arbeit unter sich aufgeteilt. Einige | |
| verteilen Essen an Flüchtlinge, andere beliefern Obdachlosen mit | |
| Lebensmitteln und alte Menschen mit Medikamenten. Wieder andere versorgen | |
| die Verteidiger der Ukraine mit allem, was sie benötigen. | |
| Das allgemeine Elend vereint auch die Geschäftswelt. Die Spitzenrestaurants | |
| und die besten Köche der Stadt kochen Essen für die Menschen, die an | |
| vorderster Front stehen. Es gibt schon Engpässe bei Lebensmitteln, man muss | |
| praktisch aus dem Untergrund versorgt werden, aber die Menschen tun alles, | |
| um dem Sieg näher zu kommen und zum [3][friedlichen früheren Leben | |
| zurückkehren] zu können. | |
| ## Tausende Kuchen | |
| Auch an den Stadtstränden wird täglich auf Hochtouren gearbeitet. Zur | |
| Verteidigung nutzen die Odessiten Sandsäcke. Alle sind damit beschäftigt, | |
| diese zu füllen, vom Richter bis zum Friseur. Schulturnhallen wurden | |
| temporär zu Werkstätten umgewandelt, in denen Tarnnetze geknüpft werden. | |
| Hier arbeiten vor allem Frauen und Kinder. Die Zoos und Klöster nehmen die | |
| Haustiere derjenigen in Obhut, die die Stadt verlassen. | |
| Kein Odessit bleibt außen vor. Man kann in irgendein kleines Café gehen, um | |
| eine Tasse Kaffee zu trinken und erfährt, dass hier außer Kaffee jetzt auch | |
| jeden Tag mehrere Tausend Kuchen für Soldaten und Flüchtlinge gebacken | |
| werden. Und diesen riesigen Backprozess organisiert ein junges Mädchen. | |
| „Wegen des Kriegs hat der Kindergarten in der Nachbarschaft die Arbeit | |
| eingestellt. Aber dort sind Menschen, die ohne Bezahlung Piroggen backen. | |
| Ich backe auch“, erzählt eine Angestellte des Cafés Darja. „Also, wir | |
| backen jetzt gemeinsam und suchen gemeinsam nach Zutaten. Bisher hatten wir | |
| an keinem einzigen Tag geschlossen. Wir arbeiten, zahlen Steuern und | |
| Kommunalabgaben, Miete und Löhne. Wir bemühen uns, so gut es geht.“ | |
| Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat sich neulich mit einem | |
| Appell an die Regionen des Landes gewandt, in denen es noch verhältnismäßig | |
| ruhig ist. Er hat darum gebeten, zur Arbeit zu gehen und die Wirtschaft des | |
| Landes anzukurbeln. Märkte, kleine Cafés, Kosmetiksalons, Postämter, | |
| Apotheken und Geschäfte haben geöffnet. Zwar mit eingeschränkten | |
| Öffnungszeiten wegen des Krieges und der Sperrstunden, aber Arbeit ist | |
| absolut notwendig. Das verstehen alle. | |
| ## Gedichte gegen Panzer | |
| Die Regale in den Lebensmittelgeschäften leeren sich, aber niemand hungert. | |
| Vor allem Getreideprodukte, Fleischkonserven und Zucker sind schwer zu | |
| bekommen. Auch Mineralwasser ohne Kohlensäure gibt es nicht mehr. Der | |
| Verkauf von Alkohol ist streng verboten. Der Wechselkurs von Dollar und | |
| Euro stieg um einige Griwni, massiv angestiegen sind die Preise für Benzin | |
| und Gas. Man kann beides auch nicht mehr an allen Tankstellen bekommen. | |
| Vor einigen Tagen haben die örtlichen Schulen beschlossen, den Unterricht | |
| wieder aufzunehmen. Schule findet jetzt online statt, mit nur drei Stunden | |
| pro Tag, und besteht vor allem aus Wiederholungen des bisherigen | |
| Unterrichtsstoffes. Aber so sehen sich Kinder und Lehrkräfte immerhin | |
| wieder. | |
| In der Stadt tauchen immer mehr patriotische Graffiti, Bilder nationaler | |
| Symbole und ukrainische Flaggen auf. „Odessa – das ist die Ukraine!“ Selb… | |
| mitten im Krieg kann man hier Musik und Gedichte hören. Die Künstler der | |
| Stadt veranstalten Konzerte, ab und zu organisiert eine Militärblaskapelle | |
| Flashmobs, um damit die Stimmung der Stadtbewohner zu heben, sagen sie. | |
| Der Feind fährt zur gleichen Zeit fort, uns mit seine Kriegsschiffen zu | |
| bedrohen, beschießt regelmäßig die touristischen Küstenstreifen, allein | |
| neunzig Granaten sind in einem Naturschutzgebiet eingeschlagen. Jeder | |
| Odessit beginnt den Tag damit, sich durch die Nachrichten zu scrollen, dann | |
| nimmt er seinen Mut zusammen und geht zur Arbeit, setzt sich an den | |
| Schreibtisch oder leistet seinen Freiwilligendienst an der | |
| Wohltätigkeitsfront. | |
| Odessa wird auch das Lächeln Gottes genannt. Und trotz der Angst, des | |
| Schmerzes und der Traurigkeit in den Augen bleibt das Lächeln im Gesicht. | |
| Bis zum endgültigen Sieg. Dann werden die Tränen fließen. Salzige, wie die | |
| Tropfen des Schwarzen Meere. Die Tränen der Freude darüber, dass der Krieg | |
| vorbei sein wird. | |
| Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
| Tatjana Milimko ist Autorin des Tagebuchs „Krieg und Frieden“, einem | |
| Projekt der [5][taz Panter Stiftung],die auch diese Reportage finanziert. | |
| 20 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tatjana Milimko | |
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