# taz.de -- Grüne und Ökonomie: Der geregelte Markt soll's regeln | |
> Die Grünen richten ihre Wirtschaftspolitik neu aus. Sie wollen die | |
> Schuldenbremse lockern und setzen auf die sozial-ökologische | |
> Marktwirtschaft. | |
Bild: Stellen sich auf dem Parteitag wieder zur Wahl: Annalena Baerbock und Rob… | |
BERLIN taz | Die Grünen werden auf ihrem Bundesparteitag weitreichende | |
Neuerungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik beschließen. So wollen sie | |
einen milliardenschweren Fonds für Investitionen des Bundes einrichten und | |
dafür die Schuldenbremse lockern. „Der Investitionsbedarf ist enorm“, sagte | |
Parteichef Robert Habeck am Dienstag der taz. „Wir können die | |
Konjunkturschwäche nutzen, um die Wirtschaft umzubauen.“ | |
In einer Phase mit Negativzinsen habe der Staat einmalig günstige | |
Investitionsbedingungen, betonte Habeck. „Auch unsere europäischen Partner | |
warten darauf, dass Deutschland endlich ernsthaft investiert.“ Ein | |
[1][Leitantrag des Bundesvorstands] für den Parteitag in Bielefeld schlägt | |
vor, die Schuldenbremse für den Bund so zu ändern, dass sie zu den | |
Maastricht-Kriterien der EU passt. | |
Jene erlauben ein jährliches Defizit von einem Prozent des | |
Bruttoinlandsprodukts (BIP), wenn die Schuldenquote eines Staats unter 60 | |
Prozent des BIP liegt. Deutschland liegt knapp unter dieser Marke. Die | |
Grünen wollten nun eine „verbindliche Investitionsregel“ einführen, sagte | |
Habeck. „So gewinnen wir einen Spielraum von bis zu 35 Milliarden Euro für | |
einen Bundesinvestitionsfonds.“ Der Staat könne so „antizyklisch gegen die | |
Konjunkturschwäche investieren und die notwendigen Maßnahmen zum | |
Klimaschutz voran bringen.“ | |
Die grüne Idee würde die deutsche Finanzpolitik umkrempeln. Die | |
Schuldenbremse, die die große Koalition im Jahr 2009 beschloss, ist bisher | |
deutlich restriktiver: Danach darf der Staat sich nur mit 0,35 Prozent der | |
Wirtschaftskraft neu verschulden und die Länder dürfen es gar nicht – | |
Ausnahmen kann es etwa in Wirtschaftskrisen geben. Die Grünen wollen ihren | |
Investitionsfonds ebenfalls im Grundgesetz verankern. | |
## Weg von der Schwarzen Null | |
Deutschland müsse aufhören, sich an das Symbol der Schwarzen Null zu | |
klammern, forderte Habeck. „Wir müssen die ökonomischen Fragen mit den | |
demokratischen zusammen sehen.“ Kündigungen, Kurzarbeit und | |
Arbeitslosigkeit träfen die Demokratie in einem labilen Zustand. „Wenn wir | |
das laufen lassen, haben wir vielleicht eine schwarze Null im Haushalt, | |
landen aber in einem schwarzen Loch.“ | |
Der Vorschlag der Grünen ist aus mehreren Gründen elegant: Sie wissen, wie | |
teuer ihre übrigen Vorschläge sind. Sie plädieren für zusätzliche | |
öffentliche Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Euro pro Jahr, etwa für | |
den Ausbau der Bahn oder eines Ladesäulennetzes für Elektroautos. Auch ihre | |
Sozialpolitik ist kostspielig: Allein die sanktionsfreie Grundsicherung, | |
die nach ihrem Willen Hartz IV ersetzen soll, schlüge mit 30 Milliarden | |
Euro im Jahr zu Buche. Die Liste ließe sich fortsetzen. | |
Die Grünen brauchen also viel Geld, um ihre Pläne zu verwirklichen. Sie | |
sind aber vorsichtig geworden, wenn es um Steuererhöhungen geht, um dem | |
Staat mehr Einnahmen zu verschaffen. Schließlich sind sie im Wahlkampf 2013 | |
mit einem Konzept gescheitert, dass moderate Belastungen für | |
Besserverdiener vorsah. Dass Aufbohren der Schuldenbremse bringt Geld ohne | |
lästige Steuererhöhungen. „Gerade im Falle eines bevorstehenden Abschwungs | |
halten wir diese Möglichkeit für sinnvoller als etwa pauschale | |
Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen“, heißt es im Leitantrag der | |
Grünen-Spitze. | |
Die Idee ist dabei keineswegs radikal – und anschlussfähig an den | |
Mainstream. Internationale Ökonomen, vor allem jene im angelsächsischen | |
Raum, kritisieren seit Langem die deutsche Sparpolitik. Selbst bei den fünf | |
Wirtschaftsweisen, die Anfang November ihr Jahresgutachten vorstellten, ist | |
die Diskussion angekommen. Für die Ökonomin Isabel Schnabel ist die | |
Schuldenbremse mit Blick auf Investitionen „ein Hemmschuh“. Mehrheitlich | |
sehen die eher marktliberalen Wirtschaftsweisen, die die Bundesregierung | |
beraten, allerdings keinen Reformbedarf. | |
## „Grüne Revolution“ mit den Märkten | |
Die Grünen-Spitze bekennt sich in ihrem Leitantrag klar zur | |
Marktwirtschaft. „Märkte können (…) eine grüne Revolution entfachen, die | |
unsere Vorstellungskraft auf die Probe stellen wird“, heißt es darin. Als | |
Ziel nennt sie eine „sozial-ökologische Neubegründung der Marktwirtschaft.�… | |
Eine solche sei das Gegenmodell zu einem ungeregeltem Kapitalismus und | |
einem autoritären Staatskapitalismus. | |
Manchen in der Partei geht das Lob der Marktwirtschaft gegen den Strich. | |
Die Grüne Jugend weist in einem Änderungsantrag darauf hin, dass der | |
Wohlstand vieler im Kapitalismus auf der Zerstörung der Lebensgrundlagen | |
und der Armut vieler anderer beruhe. Ihre Forderung: Die Grünen müssten ein | |
„sozial-ökologisches Wirtschaftssystem entwickeln“. Ein anderes | |
Wirtschaftssystem? Die Neigung zu böser Kapitalismuskritik dürfte im | |
Grünen-Vorstand überschaubar sein. Sie passt nicht zum Versuch von Habeck | |
und seiner Co-Chefin Annalena Baerbock, die bürgerliche Mitte zu gewinnen. | |
Nichts desto Trotz: Überall finden sich in dem Leitantrag der Grünen-Spitze | |
ordnungspolitische Regeln, die die Wirtschaft ökologisch ausrichten sollen. | |
So fordern die Grünen etwa europäische Klimazölle, die auf Importe | |
aufgeschlagen werden müssten. „Die Politik darf sich nicht auf die | |
Zuschauerrolle beschränken“, sagte Katharina Dröge, die | |
wirtschaftspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Es sei nötig, die | |
Monopolmacht internationaler Konzerne zu begrenzen und das Wettbewerbsrecht | |
weiterzuentwickeln. | |
In der Sozialpolitik rücken die Grünen ein Stückchen nach links. Die | |
Grünen-Spitze fordert als „Sofortmaßnahme eine Erhöhung des Mindestlohns | |
auf 12 Euro“. Er solle vor Armut schützen und den Zusammenhalt in der | |
Gesellschaft stärken. Derzeit liegt der Mindestlohn bei 9,19 Euro. Die Höhe | |
wird von einer unabhängigen Kommission festgesetzt, in der VertreterInnen | |
von Gewerkschaften, Arbeitgebern und aus der Wissenschaft sitzen. | |
## Kampfabstimmung beim Mindestlohn | |
Bei dem Thema könne es eine Kampfabstimmung geben, kündigte Habeck an. Der | |
Grund: Der Vorstand möchte die Zielmarke von 12 Euro schnell politisch | |
festlegen. Danach soll wieder die Kommission übernehmen. | |
Widerspruch kommt von Markus Kurth, dem Arbeitsmarkt- und Rentenexperten | |
der Bundestagsfraktion. „Eine politische Festlegung würde die | |
Mindestlohnkommission schwächen oder sogar existenziell gefährden“, sagte | |
er. Stattdessen wirbt Kurth für die Formulierung, dass der Mindestlohn bei | |
zwölf Euro liegen „müsste“. Außerdem möchte er die Kommission „reform… | |
und ihren Entscheidungsspielraum stärken“. | |
Der Dissens besteht also nicht im Ziel, sondern im Weg dorthin. Ein | |
Alleinstellungsmerkmal ist ein Mindestlohn von 12 Euro ohnehin nicht mehr. | |
Er wird seit Längerem auch von SPD und Linkspartei gefordert. Die Grünen, | |
die die „führende Kraft der linken Mitte“ sein wollen, schließen sich also | |
verspätet dem Mainstream links der Mitte an. | |
Der Bundesparteitag findet von Freitag bis Sonntag in Bielefeld statt. | |
Neben inhaltlichen Abstimmungen wird auch der Bundesvorstand neu gewählt. | |
Die Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock, seit gut eineinhalb Jahren im | |
Amt, stellen sich erneut zur Wahl. [2][„Wir haben noch lange nicht | |
fertig“], schreibt Baerbock in ihrer Bewerbung. Sie wollten das „Ausgreifen | |
in die Breite der Gesellschaft als Bündnispartei“ ausbauen. Ihre | |
Bestätigung im Amt gilt als sicher. | |
12 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://antraege.gruene.de/44bdk/Anders_Wirtschaften_fuer_nachhaltigen_Wohl… | |
[2] https://antraege.gruene.de/44bdk/Annalena_Baerbock-45922 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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