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# taz.de -- Gewerkschaft Verdi wird 20 Jahre alt: Geburtstag in schwierigen Zei…
> Die Ver.di feiert am Freitag ihr 20-jähriges Bestehen. Haben sich die
> einst hochfliegenden Hoffnungen in die Dienstleistungsgewerkschaft
> erfüllt?
Bild: „Sicherheit und Perspektive“ wünschen sich GewerkschafterInnen in St…
Berlin taz | Als die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Ver.di, im
März 2001 nach langen vorbereitenden Diskussionen schließlich aus der Taufe
gehoben wurde, herrschte unter den Delegierten des Gründungskongresses eine
gewisse Euphorie. Der Gründungsvorsitzende Frank Bsirske schwor die
Delegierten auf eine neue gewerkschaftliche Politik und Organisationskultur
ein, auf Solidarität in der Vielfalt, auf eine politische, offenere,
diskussionsfreudige Gewerkschaftsarbeit: „Die Vereinte
Dienstleistungsgewerkschaft – wegen Umbau geöffnet!“ Seine Aufforderung
wurde mit frenetischem Jubel aufgenommen.
An diesem Freitag feiert Ver.di nun – [1][coronabedingt rein digital] –
ihren 20. Geburtstag. Was ist geblieben von den hochfliegenden Hoffnungen
des Anfangs? Haben sich die Verheißungen des neuen Vorsitzenden in den
nachfolgenden 20 Jahren, in den Mühen der alltäglichen gewerkschaftlichen
Arbeit realisiert?
Als im März 2001 die Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und
Verkehr (ÖTV), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), die Deutsche
Postgewerkschaft (DPG), die IG Medien und die Deutsche
Angestellten-Gewerkschaft (DAG) fusionierten, sollte damit ein
langjähriger, schier unaufhaltsam erscheinender Niedergang der
Gründungsgewerkschaften gestoppt werden. Jetzt kam das Neue, der Aufbruch
in eine bessere, erfolgreichere Zukunft. Das war der Traum.
Mit Ver.di entstand eine gewerkschaftliche Massenorganisation mit damals
rund 2,8 Millionen Mitgliedern – eine bunte Vielfaltgewerkschaft mit weit
gefächerter Branchenzuständigkeit und über tausend unterschiedlichen
Berufen. Das alles wurde in 13 Fachbereichen zusammengefasst, die dem sich
verändernden, diffuser und durchlässiger werdenden Branchenzuschnitt
gerecht werden sollten. Ist Ver.di tatsächlich ein Erfolgsmodell
gewerkschaftlicher Politik für das 21. Jahrhundert geworden? Die Antwort
ist nicht eindeutig.
## Die alten Probleme bestehen fort
Die Multibranchengewerkschaft Ver.di hat heute mehr als 800.000
Mitglieder weniger als im Gründungsjahr 2001. Im vergangenen Jahr
verzeichnete sie zwar mehr als 123.000 Neueintritte, aber noch mehr Abgänge
– was insgesamt ein Minus von 14.000 Mitgliedern ergab.
Das allein zeigt, dass die Schwierigkeiten, welche die
Gründungsgewerkschaften in die Fusion getrieben haben, mit der
Ver.di-Gründung nicht verschwunden sind, sondern auch heute noch die Arbeit
in einem großen Teil des Ver.di-Organisationsbereichs erschweren.
Mit der Gründung von Ver.di entstand eine Multibranchengewerkschaft, welche
die Beschränkung auf fest umrissene Branchensegmente zugunsten des
übergeordneten Begriffs „Dienstleistung“ aufhob. Der Organisationsbereich
ist riesig und umfasst nach der Branchenstatistik des Statistischen
Bundesamtes von 2020 rund 20 Millionen Beschäftigte, etwa zwei Drittel
aller abhängig Beschäftigten in Deutschland.
Aber in vielen Bereichen ist die gewerkschaftliche Organisierung gering,
und ein wachsender Bereich prekärer Beschäftigung und abhängiger
freiberuflicher Tätigkeit wurde für Ver.di zu einem wichtigen
gewerkschaftspolitischen Thema.
## Am Anfang viel mit sich selbst beschäftigt
Die bei der Gründung beschlossene „Matrixorganisation“ war ein Versuch, die
unmittelbare Branchenkompetenz der in Ver.di aufgegangenen Gewerkschaften
mit einer allgemeinen, auf die Gesamtheit der abhängig Arbeitenden
bezogenen Gewerkschaftspolitk zu verbinden.
Dies führte in den ersten Jahren zu erheblichen Reibungsverlusten mit
zahllosen Gremien von Fach- und Personengruppen. Der gewerkschaftliche
Apparat beschäftige sich vorwiegend mit sich selbst, anstatt sich im
unmittelbaren Kontakt für die Interessen der Mitglieder zu engagieren,
kritisierten viele der ehrenamtlichen Gewerkschafter*innen.
Hinzu kam, dass Ver.di in erheblichem Maße sparen und Personal abbauen
musste – eine Belastung, die von den Gründungsgewerkschaften auf Ver.di
übertragen worden war.
## Der gesetzliche Mindestlohn – ein Erfolg von Ver.di
Heute, in ihrem 20. Jahr, ist Ver.di organisatorisch und finanziell
konsolidiert. Sie hat sich sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der
politischen Sphäre als glaubwürdige und durchsetzungsfähige Anwältin der
sozialen Interessen abhängig Beschäftigter etabliert.
Nichts verdeutlicht dies besser als der beharrliche Kampf um den
gesetzlichen Mindestlohn, den Ver.di und die kleine Gewerkschaft NGG
zunächst sogar innerhalb des DGB gegen die zögerlichen
Industriegewerkschaften führen mussten, die einen Bedeutungsverlust
tarifvertraglicher Lohnpolitik durch einen staatlich gesetzten Mindestlohn
befürchteten.
Ver.di war beharrlich. [2][Der bis 2019 amtierende Vorsitzende Bsirske]
versäumte kein Fernsehinterview, um auf den Skandal von „Armut trotz
Arbeit“ aufmerksam zu machen. Unermüdlich widersprach er der
Unternehmerpropaganda, ein Mindestlohn würde 2 Millionen Arbeitsplätze
vernichten.
Nach der Linkspartei machte sich schließlich auch die SPD für den
gesetzlichen Mindestlohn stark und setzte ihn in der Großen Koalition
durch: Am 16. August 2014 trat das Mindestlohngesetz in Kraft, zunächst (ab
1. Januar 2015) in der noch unbefriedigenden Höhe von 8,50 Euro. Rund 5,6
Millionen Menschen, viele davon prekär beschäftigt, profitierten davon.
Heute geht es um die Durchsetzung eines existenzsichernden Niveaus von
mindestens 12 Euro.
In dieser Kampagne manifestierte sich der branchenübergreifende
gewerkschaftspolitische Charakter von Ver.di besonders deutlich. Der
Soziologe Klaus Dörre schrieb 2019 in einem Sammelband [3][zu Frank
Bsirskes Abschied] von einer kämpferischen „Konfliktpartnerschaft“.
Hier wurde – nach mehr als 55 Jahren – anschaulich demonstriert, was
prominenten Gewerkschaftern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg beim
Wiederaufbau der Gewerkschaften vergeblich vorschwebte: Statt
selbstständiger Branchengewerkschaften wollten sie eine alle Branchen und
parteipolitische Strömungen übergreifende, politisch aktive „Organisation
des Proletariats“, eine „Allgemeine Gewerkschaft“ gründen. Mit Ver.di
entstand – für den Teilbereich des heute dominanten Dienstleistungssektors
– so etwas wie eine „Allgemeine Gewerkschaft“.
## Der Aufbau von Gegenmacht
Stärke und Schwäche liegen da dicht beieinander. Ver.di beansprucht zwar
einen riesigen Organisationsbereich, liegt aber mit ihren rund 1,94
Millionen Mitgliedern bei einem Organisationsgrad von bestenfalls 10
Prozent – und damit weit hinter den Industriegewerkschaften zurück.
[4][Die Aussichten, daran etwas zu ändern, sind eher mäßig.] Bisher hoch
organisierte Branchen wie der Druckbereich schrumpfen, zersplitterte
Betriebsstrukturen und repressive Unternehmenskulturen wie in großen Teilen
des Handels erschweren gewerkschaftliche Organisierung. Der
Mitgliederrückgang wurde bis heute nicht völlig gestoppt.
Ermutigend ist, dass die Zahl der aktiv im Beruf stehenden Mitglieder
inzwischen weitgehend stabil ist. Dem Rückgang in Krisenbereichen steht
Mitgliederzuwachs etwa im Gesundheitsbereich und bei den Kita-Beschäftigten
gegenüber – „systemrelevanten“ Bereichen, deren Bedeutung während der
Coronakrise von der Bevölkerung dankbar beklatscht wurde.
Auch der Fachbereich „Besondere Dienstleistungen“, in dem ein Sammelsurium
unterschiedlichster kleiner Branchen zusammengefasst ist, verzeichnet
Zuwachs – auch dies ein Hinweis auf die Sinnhaftigkeit einer
branchenübergreifenden gewerkschaftspolitischen Konzeption.
## „Weißer Fleck“ Amazon
Immer wieder versucht Ver.di, in bislang unerschlossenen Bereichen
gewerkschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Das ist nicht leicht: Kampagnen
wie die gegen den Schwarz-Konzern (Lidl) wurden in der ersten Ver.di-Dekade
abgebrochen. Auch die jahrelange, inzwischen internationale Kampagne
[5][für einen Tarifvertrag bei dem gewerkschaftsfeindlichen Amazon-Konzern]
zeigt, dass der Aufbau von Gewerkschaftsmacht in bisher „weißen Flecken“
einen langen Atem braucht.
Es kostet viel haupt- und ehrenamtliches Engagement und viel Geld, ohne
dass kurz- oder mittelfristig eine „Rendite“ bei Mitgliederzahl und
Beitragseinnahmen zu erwarten ist. Dennoch zeigt sich dabei, was Frank
Bsirske vor 20 Jahren verheißungsvoll angekündigte: „Etwas Neues, eine
lebendige, vielfältige, [6][streitlustige Dienstleistungsgewerkschaft] für
das 21. Jahrhundert.“
Martin Kempe, geboren 1943, gehört zu den Gründern der taz, für die er bis
1991 als Redakteur arbeitete. Von 2002 bis 2007 war er Chefredakteur der
Gewerkschaftszeitung „ver.di PUBLIK“. Seitdem arbeitet der Diplompolitologe
als freier Publizist in Hamburg.
19 Mar 2021
## LINKS
[1] https://www.verdi.de/20-jahre
[2] /Frank-Bsirske-ueber-Klimastreiks/!5621168
[3] /Verdi-Bundeskongress-in-Leipzig/!5625172
[4] /Dienstleistungsgewerkschaft-Verdi/!5625263
[5] /Streik-bei-Amazon/!5468827
[6] /Fridays-for-Future-und-Verdi/!5744990
## AUTOREN
Martin Kempe
## TAGS
Streik
Verdi
Arbeitskampf
Arbeit
Frank Bsirske
Fleischindustrie
Prekäre Arbeit
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