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# taz.de -- Gewalt in Freibädern: Panik am Beckenrand
> Nichts Neues unter der Sommersonne: Konflikte im Schwimmbad und ihre
> Dramatisierung sind ein elementarer Bestandteil der deutschen
> Krawallgeschichte.
Bild: Wenn der Schwimmerbereich zum Haifischbecken wird
Liegestühle, die durch die Luft fliegen, Gruppen, die im Laufschritt die
Badegäste aufschrecken, Drängeleien, eingeschlagene Fensterscheiben,
schließlich Messerstiche. Am Tage nach den Schlägereien dann die
dazugehörigen Schlagzeilen: „Schlacht am Badestrand“, „Krieg“ zwischen
Jugendgruppen. Szenen, wie sie dieser Tage aus einigen Sommerbädern
gemeldet werden, rufen Mahner, Warner und Apokalyptiker auf den Plan. Von
einer einzigartigen Qualität der Gewalt, von Anarchie und Sittenverfall ist
die Rede: Chaostage an deutschen Kachelbecken.
Doch diese Vorfälle und expressiven Schlagzeilen sind fast 60 Jahre alt.
Sie stammen aus Seebädern an der südenglischen Küste. Gruppen von Londoner
Jugendlichen hatten – wie schon in den Jahren zuvor – Ausfahrten an die
Küste unternommen, wobei es zu Rangeleien zwischen unterschiedlichen
subkulturellen Stilen kam.
Aufgeregt berichteten die britischen tabloids über Details der angeblich
blutgierigen, bis an die Zähne bewaffneten neuen folk devils. Rocker mit
schweren Motorrädern und in schwarzer Lederkluft standen den mit elegant
geschwungenen italienischen Motorrollern ausgestatteten und in neueste
kontinentale Mode gehüllten modernists, kurz: Mods, gegenüber. Glaubte man
einer Schlagzeile des Evening Argus aus dem Mai 1964, so wollten beide
Gruppen bei ihren kollektiven Ausflügen nach Brighton, Margate und Clacton
on See nicht nur posen, sondern: „Blut, wir wollen Blut.“ Wie neu sind also
Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen am Badestrand?
## Halbstarke und Eckensteher
Die englischen Vorkommnisse könnte man einer bizarren britischen Folklore
zurechnen, die der Historiker Clive Bloom in einem Buch mit dem sprechenden
Titel „Violent London“ als eine 2.000 Jahre währende Gewaltgeschichte
gezeichnet hat. In Deutschland hingegen, so scheint man heute zu glauben,
herrschten Ruhe und Ordnung. Doch der Kriminologe Günther Kaiser zählte
allein in den späten Fünfzigern um die 100 Großkrawalle mit jeweils mehr
als 50 Beteiligten. Schon 1956 fragte eine Emnid-Jugendstudie auf dem Titel
„Wie stark sind die Halbstarken?“ – und verhalf so einem Terminus zu neuen
Ehren, der sich auf moraltheologische Schriften um 1910 und noch weiter in
die „Eckensteher“-Literatur des Vormärz zurückführen lässt. Heute schei…
er unvermittelt wieder aktuell.
Auch die Westberliner Bäder boten damals keine reine Idylle. [1][Der
bundesdeutsche Problemfilm „Die Halbstarken“ von 1956 beginnt mit
Prügeleien im Schwimmbad,] bei denen zwei Bademeister zu Boden gehen. Sein
ostdeutsches Pendant „Die Glatzkopfbande“ legte 1963 nach. Eine allzu freie
deutsche Jugend provoziert darin im Ostseebad Usedom friedliche Badegäste,
rast mit Motorrädern über den Strand, bis schließlich nach dramatischer
Verfolgungsjagd über Todesalleen der Volkspolizeileutnant die Handschellen
zuschnappen lässt.
Beide Fiktionen waren nicht nur erfunden: „Halbstarken“-Drehbuchautor Will
Tremper wollte sein Skript einer Reportage im Milieu echter Berliner
Jugendlicher entlehnt haben. Die Glatzköpfe vom Ostseestrand schafften es
in Stasi-Akten. Protokolliert wurde dort der Sturm auf eine Polizeiwache,
wo eine zahlenmäßig der Polizei weit überlegende Meute einen Gefangenen mit
den Rufen befreien wollte: „Cheriff (sic!), gib die Kumpel frei!“ Dieser
Ruf aus dem Film erklang laut Volkspolizeikreisamt ein Jahr nach der
Uraufführung in Leipzig. Wie neu also sind die Schwimmbadkrawalle unserer
Tage?
Das Jahr 2023 hat mindestens drei Sommerlöcher. Eines ist 52 Meter lang und
knapp 2 Meter tief. Ein anderes ist 3 Meter tief, das dritte schon 72 Jahre
alt. Es handelt sich dabei um die drei Becken des Columbiabads: das
Sportbecken, das Sprungbecken sowie das sogenannte Volksbecken. Das wurde
schon 1951 mit US-Dollars aus dem Marshall-Plan vom Baumeister Bruno
Grimmek ausgehoben, vormals tätig für den Generalbauinspektor für die
Reichshauptstadt, Albert Speer. Bürgermeister Ernst Reuter hatte das
Columbia-Bad als erstes Westberliner Freibad eröffnet – stolzes Symbol für
eine Stadtplanung, die der Jugend zivilere Vergnügungen bieten wollte als
nur Zelt- und Aufmarschplätze.
Sieben Dekaden später sind nicht alle diese blau geflieste Sommerlöcher
gefüllt. Die 82-Meter-Rutsche ist gesperrt und der Sprungturm ebenso,
seitdem der TÜV in diesem Jahr die Freigabe verweigerte. Auch das gehört
zum beklagenswerten Zustand hauptstädtischer Freizeitkultur.
Seit einigen Jahren schon wird die historische Bausubstanz jedoch mit
anderen, symbolischen Inhalten gefüllt. Aus dem stolzen Columbia-Bad ist
Medien zufolge ein „Problembad“ geworden, in dem Angst und Gewalt
herrschen. Auf Wikipedia nimmt die jüngste Krawallgeschichte mehr Raum ein
als die Baugeschichte. Akribisch sind dort die „Erstürmung des Sprungturms“
von 2019, die Massenschlägerei von 100 Personen nach einer „Spritzerei mit
Wasserpistolen“ vom Juni 2022 und die darauffolgende Errichtung einer
mobilen Polizeiwache vermerkt. Und auch die jüngste Schließung nach
Arbeitsniederlegung des Personals, das „verbale Attacken, das Spucken und
Pöbeln“ beklagt, ist schon online-enzyklopädisch für die digitale Ewigkeit
verzeichnet. Ist es also mal wieder so weit? Wie bei den Halbstarken von
1956, der Glatzkopfbande von 1963 oder den Mods -&-Rocker-Krawallen
von 1964 und ihren zahlreichen Nachfolgekonflikten an Schwimmbecken, Seen
und Meeresstränden in den darauffolgenden Jahrzehnten? Oder noch viel
schlimmer?
Das Schwimmbad ist noch immer ein besonderer Ort, der sich als Symbol
eignet. Nicht mehr unbedingt als die soziale Innovation, die es einstmals
war, aber noch immer als eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne, also als
Ort der Abweichung und inverser (Kleider-)Ordnungen. Hier treffen die
leicht bekleideten Körper vulnerabler Ruhesuchender auf die trainierten
Bodys Pubertierender, die gern mal die Muskeln spielen lassen. Sicherheit
ist hier daher erstes Gebot, und die erregten Kommentare der vergangenen
Tage beruhen nicht nur auf Übertreibungen. Wenn Menschen aufgrund ihres
Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität diskriminiert werden, so ist das
ebenso wenig zu tolerieren wie physische Angriffe auf Ordnungskräfte oder
Bäderpersonal.
[2][Aber die ausschnitthafte Kolportage von Einzelfällen bietet ein höchst
selektives Bild,] das umso problematischer ist, wenn aus Gründen der
Dramatisierung eine Präzedenzlosigkeit behauptet wird, die schon ein
oberflächlicher Blick in die Pressearchive widerlegt. Kaum einer der an den
zeitgeschichtlichen Krawallen beteiligten Jugendlichen hatte damals einen
„Migrationshintergrund“. Zudem darf, wer von Gewalt durch migrantische
Jugend redet, von den rassistischen Übergriffen auf nichtdeutsch gelesene
Menschen nicht schweigen, wie sie schon zu DDR-Zeiten gegen damals so
genannte Vertragsarbeiter vorkamen und verstärkt nach 1989/90 nicht nur an
ostdeutschen Badeseen trauriger Alltag sind.
## Reporter mit Sorgenfalte
Auch heute bedienen sich viele Kommentare wieder eines Musters, das der
britische Soziologe Stanley Cohen am Beispiel der englischen
Seebadunruhen aus den Sixties schon 1972 beschrieben hat: das Erzeugen
von „moral panics“ durch selektive und übertriebene Berichterstattung.
Cohen hatte damals ein Muster der Presseberichterstattung identifiziert,
dass er „Non-Events“ nannte: Berichte über Ereignisse, die gar nicht
stattfanden. Boulevardzeitungen hatten den menschenleeren Strand auf Fotos
gezeigt und dazu getitelt: „Brighton ohne sie“. Damit wurde auch an Tagen,
an denen gar nichts passiert war, ein Ereignis ex negativo in der
Berichterstattung gehalten. Selbiges kann man heute wieder erleben, wenn
Reporter:innen mit Sorgenfalte auf der Stirn und gesenkter Stimme vor
laufender Kamera bedeutungsvoll kundtun, es seien heute zwar „nur Familien
und kleine Kinder im Bad“. Es bleibt dann der zuschauenden Fantasie
überlassen, sich vorzustellen, was der apokalyptische Normalzustand sein
könnte, der sich ausgerechnet heute leider der Berichterstattung entzieht.
Die Politik will da nicht zurückstehen. Die markige Forderung des
CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann nach „Schnellgerichten“, die „noch
am selben Abend“ Verdächtige aburteilen, zielt offenkundig auf eine
neuerdings zur AfD tendierende Wechselwählerschaft. Die aber ist schon
einen Stechschritt weiter und fordert in zahlreichen Onlinekommentaren
ethnische Schranken an der Schwimmbadkasse. Damit stellt sie sich in die
unselige Tradition des deutschen Bäderantisemitismus, der schon im 19. und
frühen 20. Jahrhundert, etwa im Seebad Borkum, dazu führte, dass ganze
Strände als „judenfrei“ gemeldet wurden.
Auch damals in Brighton zog die Berichterstattung drastische Maßnahmen nach
sich: willkürliche Festnahmen und den Einsatz einer schnellen
Eingreiftruppe der Londoner Polizei. Es folgte eine ausufernde Diskussion
über Gesetzesverschärfungen, bei der Rufe nach Prügelstrafe und
Wiedereinführung des Wehrdienstes erklangen. Gelassener sahen es die
Polizisten vor Ort. Ein krawallerfahrener Constable gab in den Akten der
Grafschaft East Sussex zu Protokoll: Ein paar Rangeleien habe es schon
gegeben, aber nichts, was sich nicht auch in den Jahrzehnten zuvor ereignet
hätte. Mittlerweile sind die englischen Krawalle, 1979 retrospektiv in
Szene gesetzt in dem Film „Quadrophenia“, ein Bestandteil der
popkulturellen Inselfolklore und über sie hinaus. 1981 ästhetisierte die
US-Band Stray Cats eine zeitgenössische Neuauflage der Ereignisse im Song
„Rumble in Brighton“.
Heute [3][treffen sich die ergrauten folk devils (Stanley Cohen) von damals
und ihre selbst erklärten Nachfolger jährlich in vollem Ornat in Brighton,]
posieren mit chromblitzenden Oldtimer-Zweirädern für touristische Selfies
und gehen hinterher gemeinsam friedlich ein pint trinken, um sich der alten
Zeiten zu erinnern, in denen mehr los war. Nicht auszuschließen, dass
dereinst das Columbia-Bad ein ähnlich retronostalgischer Treffpunkt wird,
der in die Berliner HipHop-Geschichte eingeht. Politik und manche
Medienkommentare liefern dieser Tage schon mal den dazugehörigen
Gangsta-Rap.
29 Jul 2023
## LINKS
[1] https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/jugendkulturen-in-deutschla…
[2] https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/columbiabad-in-neukoelln…
[3] https://www.rockabilly-rules.com/blog/mods-und-rockers-legendaere-kontrahen…
## AUTOREN
Bodo Mrozek
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