| # taz.de -- Geflüchtete in Berlin: Wie wir uns verändern | |
| > Der Sommer vor fünf Jahren hat Berlin nachhaltiger verändert als alle | |
| > Einwanderungswellen zuvor. Eine Bestandsaufnahme. | |
| Bild: Ein Erfolgsmodell: die syrische Konditorei Damaskus in der Sonnenallee in… | |
| Berlin taz | Es war grauenvoll, im Sommer vor fünf Jahren am Landesamt für | |
| Gesundheit und Soziales an der Moabiter Turmstraße, das damals noch für die | |
| Registrierung neu angekommener Geflüchteter zuständig war – es war | |
| furchtbar. Und es war schön. | |
| Furchtbar war es für die Menschen, die da nach oft monatelanger, teils | |
| lebensgefährlicher, manchmal zu weiten Strecken zu Fuß zurückgelegter | |
| Flucht abgekämpft, traumatisiert, müde und hungrig ankamen – und statt des | |
| Schutzes, den sie gesucht hatten, wieder unversorgt auf nacktem Boden unter | |
| freiem Himmel campieren mussten: Kinder, Schwangere, Alte, Verletzte. | |
| Über das Chaos vor der deutschen Behörde berichteten damals selbst | |
| ausländische Medien. „Lageso“, die Kurzbezeichnung des Amtes, das damals | |
| vor der Zahl der Neuankömmlinge kollabierte, wurde zum Synonym für | |
| Scheitern und Chaos. | |
| Schön war es, wie dann geholfen wurde: Berliner*innen, zunächst aus der | |
| Nachbarschaft („Moabit hilft“), bald aus der ganzen Stadt, brachten Essen, | |
| Wasser, Decken, Kleidung, Spielzeug, Rollstühle. Kirchen- und | |
| Moscheegemeinden kochten warme Mahlzeiten für die Wartenden; Hotels und | |
| Restaurants spendeten übriggebliebene Lebensmittel. Vor allem aber: | |
| Freiwillige organisierten die Unterbringung Geflüchteter, die das Amt nicht | |
| mehr leisten konnte. | |
| ## Unvergessen die Nacht am Lageso | |
| Unvergessen ein Abend, eher eine Nacht am Lageso im Sommer 2015, in der | |
| eine zarte junge Frau, das Handy ununterbrochen in Betrieb, über Facebook | |
| und über Telefonketten dafür sorgte, dass stets ein Auto nach dem anderen | |
| vorfuhr. Und die Menschen, die da teils ganze Familien aus Syrien oder | |
| Gruppen geflüchteter junger Männer aus Afghanistan einsteigen ließen, um | |
| ihnen bei sich zu Hause ein Obdach zu bieten, entsprachen nicht mehr nur | |
| den Klischees der typischen Flüchtlingsaktivist*innen – jung oder | |
| junggeblieben, rebellisch, links und in echt oder im Herzen Kreuzberger. | |
| Nein: Diese neuen Helfer*innen repräsentierten Milieus, die sich bis dahin | |
| kaum für Fragen des Asylrechts oder die Zustände in Flüchtlingsheimen | |
| interessiert hatten. | |
| Nun lernten sie sie kennen: als Kinderbetreuer in den damals eilig etwa in | |
| Turnhallen eröffneten Unterkünften, als Begleiterinnen neu angekommener | |
| Geflüchteter zum Bundesamt für Asyl oder bei anderen Behördengängen. | |
| So entstanden neue Konfrontationen und neue Koalitionen: Letztere in der | |
| Zusammenarbeit der „neuen“ mit den „alten“ Flüchtlingshelfer*innen und… | |
| allem im persönlichen Kontakt zu Schutz suchenden Menschen aus Krisen- und | |
| Kriegsgebieten. Es wuchs damals tatsächlich das Gefühl eines „Wir“, wie | |
| Angela Merkel es mit ihrem „Wir schaffen das“ umrissen hatte. | |
| Aber eben auch Konfrontationen: Nun war es nicht mehr nur der dreadbelockte | |
| Flüchtlingsaktivist im schwarzen Autonomenlook – aus Erfahrung auf Krawall | |
| gebürstet –, der Geflüchtete zu Jobcentern oder anderen Behörden | |
| begleitete. Sondern Lehrer*innen, Bankangestellte, der pensionierte | |
| Richter. Der dann bald sah, dass der Ethnologiestudent ja recht hatte: | |
| Tatsächlich wurden die Neuankömmlinge dort oft unfreundlich behandelt, | |
| schlecht oder gar nicht beraten, Recht gern mal zu ihren Ungunsten | |
| ausgelegt. Das ging doch so nicht! | |
| ## Die Geflüchteten wollen ankommen | |
| Und die Entrüstung dieser gutbürgerlichen neuen Flüchtlingshelfer zeigte | |
| Wirkung: Ämter gründeten Arbeitskreise zur schnelleren Integration der | |
| Geflüchteten, Jobcenter schufen neue Abteilungen für ihre Betreuung und | |
| stellten dafür neues Personal, oft mit eigenem Migrationshintergrund ein. | |
| Sogar die Live-Übersetzung vom Arabischen, von afrikanischen oder | |
| afghanischen Sprachen ins Deutsche per Telefon war plötzlich möglich. Neue | |
| Hilfs- und Beratungsnetzwerke entstanden, Arbeitgeberverbände, Handels- und | |
| Handwerkskammern mischten mit. Sie alle hatten eins verstanden: Die | |
| Geflüchteten wollen ankommen, wollen Deutsch lernen und arbeiten – und: Sie | |
| werden gebraucht. | |
| Das lag aber natürlich nicht nur am Einsatz der Helfer*innen. Es lag auch | |
| am durchaus selbstbewussten Auftreten vor allem der syrischen Geflüchteten, | |
| die oft aus der Mittel- und Oberschicht stammten, gut ausgebildet und | |
| wohlhabend waren, und keineswegs bereit, sich gefallen zu lassen, was | |
| früheren Flüchtlingen aus arabischen Ländern in Berlin – man kann es nicht | |
| anders formulieren – angetan worden war. | |
| Warum bitte schön sollten Englisch, Französisch oder Spanisch als | |
| Zweitsprache prima, Arabisch aber ein Problem sein? Selbstverständlich | |
| sollen ihre Kinder Deutsch lernen. Aber eben auch das Arabische nicht | |
| vergessen, so die Haltung vieler Neu-Berliner Syrer*innen. Siehe da: Seit | |
| 2015 gibt es Arabischunterricht an einigen Berliner Grundschulen. | |
| Syrische Geflüchtete gründeten in den vergangenen fünf Jahren Radiosender, | |
| Zeitschriften, Literaturcafés, Lesebühnen. Sie machten sich als | |
| Unternehmer*innen selbständig und legten auch dabei ein anderes | |
| Selbstbewusstsein an den Tag als die lange vor ihnen gekommenen | |
| palästinensischen Flüchtlinge, die damals nicht mit Deutschkursen, | |
| mehrjährigen Aufenthaltserlaubnissen und Unternehmerworkshops der IHK | |
| empfangen, sondern vom Arbeitsmarkt ferngehalten worden waren: keine | |
| verhuschten Imbissbuden, sondern prunkvolle Konditoreien eröffneten die | |
| Syrer etwa an der Sonnenallee, die sich flugs von der No-Go-Area zur | |
| Touristenattraktion mauserte. | |
| Ja, die Geflüchteten haben die Stadt verändert und werden das weiterhin | |
| tun. Sie sind schon jetzt unsere Ingenieurinnen und unsere Elektriker, | |
| unsere IT-Expertinnen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen. Und unsere | |
| Ärzte: Auch wenn das Amt, das für Geflüchtete längst nur noch bei der | |
| Anerkennung von Medizinerausbildungen zuständig ist, ihnen dabei bis heute | |
| gerne Steine in den Weg legt. Sie ahnen es – es ist das Lageso. | |
| 7 Aug 2020 | |
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| Alke Wierth | |
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