# taz.de -- 10 Jahre „Wir schaffen das“: Ein Social-Media-Aufruf – zack 1… | |
> Im für Flüchtlinge zuständigen Berliner Landesamt herrschte Chaos. Als | |
> Reaktion darauf entstand die Hilfsorganisation „Moabit hilft“. Ein Blick | |
> zurück – und nach vorn. | |
Bild: Nach dem Schlange stehen am 16.09.2015 vor dem Lageso, dem Landesamt für… | |
Berlin taz | Als Angela Merkel am 31. August 2015 ihr heute legendäres „Wir | |
schaffen das“ sagte, tobte wenige Kilometer vom Bundestag entfernt das | |
Chaos. In der Turmstraße 21 im Stadtteil Moabit, wo das damals für | |
Flüchtlinge zuständige Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales | |
(Lageso) auf einem weitläufigen ehemaligen Krankenhausareal residierte, | |
[1][drängten sich seit Wochen jeden Tag und jede Nacht hunderte bis | |
tausende Flüchtlinge]. | |
Verzweifelt versuchten sie, sich registrieren zu lassen, um eine | |
Unterkunft, Geld für Essen und medizinische Versorgung zu bekommen. Sie | |
schliefen vor der Behörde, um am nächsten Tag vielleicht zu einem | |
Sachbearbeiter vorzudringen – oder auch im Park davor, weil sie obdachlos | |
waren. Das Amt war mit der seit Jahresanfang stetig steigenden Zahl von | |
Geflüchteten völlig überfordert. | |
„Die Menschen standen stundenlang in der Warteschlange, teils bei sengender | |
Hitze. Es gab kein Wasser, kein Essen, keine Krankenversorgung, niemand, | |
der ihnen sagt, wie es weitergeht“, erinnert sich Diana Henniges, die | |
Gründerin der Hilfsorganisation „Moabit hilft“. | |
Die Gruppe war 2013 gegründet worden, um die Bewohner eines neuen | |
Flüchtlingsheims in Moabit zu unterstützen. Nun rief sie über Facebook dazu | |
auf, Spenden zu bringen und in der Turmstraße helfen zu kommen. „Wir waren | |
so geschockt, dass solches Chaos mitten in der Hauptstadt möglich ist – und | |
niemand es bemerkt“, so Henniges. | |
Der Aufruf war ein Erfolg: Hunderte Menschen brachten Sachspenden oder Zeit | |
mit, die Leute von Moabit hilft begannen, die Hilfe zu koordinieren. | |
„Anfangs war es sehr chaotisch, später haben wir Catering mit täglich 2.000 | |
warmen Essen ausgegeben“, erinnert sich Henniges. Nach viel Drängen bekam | |
die Gruppe einen Platz auf dem Lageso-Gelände, erst Haus N, dann Haus D, | |
später Haus R. Sie richtete eine Kleiderausgabe, sowie Hygiene- und | |
Lebensmittelstationen ein, organisierte eine Erste-Hilfe-Station mit | |
ehrenamtlichen Ärzten, Hebammen und Pflegern. | |
Andere Freiwillige wurden je nach Fähigkeit eingesetzt, als Sprachmittler, | |
Tröster, Begleiter, Ratgeber. Wieder andere koordinierten die Hilfe mit | |
anderen neu entstandenen Gruppen wie „Nachts am Lageso“, die private | |
Unterkünfte für obdachlose Geflüchtete organisierte. „Sogar der | |
Sozialsenator hat uns manchmal angerufen, wenn er jetzt sofort 200 | |
Schlafplätze brauchte“, erinnert sich Henniges. | |
Medien aus der ganzen Welt berichteten über das „Lageso-Chaos“ und Moabit | |
hilft, [2][auch die New York Times schaute in der Turmstraße vorbei]. | |
Aufgrund der großen Aufmerksamkeit gelangte noch mehr Hilfe nach Moabit, | |
auch der Tourbus von Herbert Grönemeyer half zwischenzeitlich beim Shutteln | |
von Geflüchteten zwischen Turmstraße und Turnhallen, die zu Notunterkünften | |
umgewidmet wurden. | |
Am 7. September 2015 kam auch Hussein Al Nasir Alshiekh aus Syrien in | |
Moabit an. Heute ist er 30 Jahre alt und eingebürgert, hat in Berlin | |
studiert und arbeitet als Sozialarbeiter in einer Schule im Bezirk | |
Lichtenberg. An damals erinnert er sich so: „Es war spätabends, aber vor | |
dem Lageso war es so voll, als wäre Tag. Viele Menschen schliefen auf dem | |
Bürgersteig oder wollten schlafen. Ich ging zu einem Mann mit Weste, der | |
meinte: ‚Herzlich willkommen, du musst hier rein, wenn du es schaffst.‘“ | |
## „Die Willkommenskultur hat gut funktioniert“ | |
Zwei Monate hat es gedauert, bis Al Nasir Alshiekh registriert wurde. „Ich | |
war fast die ganze Zeit auf dem Gelände, oft auch nachts“, sagt er. In der | |
Zeit des Wartens hat er die Freiwilligen von Moabt hilft kennengelernt. | |
„Die Willkommenskultur hat gut funktioniert, es gab sehr viele Helfer“, | |
erinnert er sich. | |
Irgendwann hat er angefangen, mitzumachen, wenn er das ewige Schlangestehen | |
mal wieder satthatte. „Ich wollte mir die Zeit vertreiben und auch was | |
Sinnvolles machen.“ Er hat Wasser verteilt, andere Hilfsbedürftige | |
angesprochen und sich ihrer angenommen. „Dieses Prinzip von Moabit hilft | |
finde ich bis heute gut: Den Leuten zuhören, was sie brauchen und das | |
anzupacken. Und jeder kann mithelfen mit dem, was er oder sie kann.“ | |
Die „Lageso-Krise“ mit dem Ausnahmezustand in der Turmstraße dauerte | |
ungefähr ein Jahr. Am 1. August 2016 wurde eine neue Behörde gegründet: Das | |
Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) bekam mehr Mitarbeiter und | |
neue Räume außerhalb der Turmstraße. Die Notunterkünfte in Turnhallen | |
wurden im Laufe des Jahres 2017 wieder geschlossen. | |
Der Verein Moabit hilft wurde durch die Krise zu einer Instanz: Politiker | |
sind bis heute genervt von der „Meckerliese“, die behördliches Versagen | |
immer wieder ins grelle Licht der Öffentlichkeit zerrt. Zugleich brauchen | |
sie den Verein, der die Folgen des Systemversagens ausputzt, in dem er | |
Betroffenen zu ihren Rechten verhilft – und somit auch schlicht Armut | |
lindert. | |
Auch bei Geflüchteten ist Moabit hilft seither bekannt wie ein bunter Hund. | |
Zumal dort viele ehemalige Klienten wie Al Nasir Alshiekh weiter | |
ehrenamtlich mitarbeiten. Obwohl der Deutsch-Syrer einen Fulltime-Job und | |
wenig Zeit hat, kommt er immer wieder vorbei, übersetzt, begleitet Menschen | |
zu Ämtern – was eben so anfällt. Ihm gefällt der Zusammenhalt, das | |
Freundschaftliche innerhalb der Gruppe. „Wir sind wie eine Familie“, sagt | |
er, „aber sehr durchmischt in den Nationen. Das reflektiert auch ein | |
bisschen Berlin.“ | |
Seine Arbeit hat der Verein im Laufe der Jahre professionalisiert. Neben | |
den etwa zwei Dutzend ehemaligen Geflüchteten, die neue Geflüchtete | |
betreuen, gibt es heute neun Berater für Sozial- und Asylrecht, die von | |
Verein eine kleine Aufwandsentschädigung bekommen. „Wir haben viele | |
Fortbildungen gemacht, vor allem in Sozial- und Asylrecht. Viele von uns | |
kennen die Rechtslage heute besser als die Mitarbeiter vom LAF oder anderen | |
Behörden“, so Henniges. | |
Das bewährte sich bei der nächsten großen Krise, dem Ukraine-Krieg seit | |
2022. Wieder versagten die Behörden, wieder rockten Hunderte Bürger mit | |
Organisationen wie Moabit hilft, Schöneberg hilft oder der neu gegründeten | |
Berlin Arrival Support einen Großteil der Erstversorgung und Unterbringung | |
der Geflüchteten. | |
Immerhin: Die Politik – inzwischen regierte in Berlin Rot-Grün-Rot – hatte | |
dazu gelernt und versuchte zumindest stellenweise, die Vereine | |
einzubeziehen, indem sie etwa in Krisenstäbe und „Steuerungsrunden“ | |
eingeladen wurden. | |
## „Wir wurden nie auf Augenhöhe behandelt“ | |
Genutzt habe das nicht viel, bilanziert Henniges, denn das praktische | |
Wissen der Helfer sei bei Entscheidungen selten berücksichtigt worden. „Das | |
zieht sich durch die 10 Jahre: Wir als Zivilgesellschaft wurden nie auf | |
Augenhöhe behandelt, immer nur als Helfer in der Not benutzt.“ | |
Dabei haben Ehrenamtliche gegenüber staatlichen Stellen einen | |
entscheidenden Vorteil, der sich vor allem in Krisen-Zeiten auszahlt: | |
Bürger sind schneller. Ein Social-Media-Aufruf – zack: 500 Wasserflaschen, | |
1.000 selbst geschmierte Butterbrote und 200 Übernachtungsplätze sind zur | |
Stelle. „Wir sind die kurze Rutsche zum Elend“, sagt Henniges dazu. | |
Behördlicherseits habe sich seit 2015 nicht so viel geändert, findet sie – | |
außer dem Namen der zuständigen Stelle. In der Tat: Auch das LAF hat | |
personelle Engpässe, viele überlaste Mitarbeiter – und vor allem zu wenig | |
reguläre Heimplätze und zu viele Notunterkünfte. In den Heimen fehlen | |
Sozialarbeiter, es fehlen Unterkünfte für unbegleitete minderjährige | |
Flüchtlinge, es fehlen Schulplätze – vieles davon wurde wieder abgebaut, | |
als die Flüchtlingszahlen ab 2017 rückläufig waren. | |
Nur ist das Elend anders als 2015 nicht mehr so leicht sichtbar (zum Lageso | |
konnte jeder gehen), sondern gut versteckt hinter dem Stacheldraht von | |
Tegel. Auf dem Ex-Flughafen steht seit 2022 Deutschlands größte, teuerste | |
und vermutlich schlechteste Flüchtlingsunterkunft. „Die Menschen werden | |
dort zwischengeparkt und warten oft über Monate auf Leistungen, ihre | |
Krankenkassenkarte, einen Heimplatz oder einen Termin bei der | |
Einwanderungsbehörde“, beschreibt Henniges die Lage. | |
Und so lange die Behörden es nicht auf die Reihe kriegen, haben die Leute | |
von Moabit hilft gut zu tun. Allerdings gibt es keinen Ort mehr: Haus R auf | |
dem Lageso-Gelände ist seit Mitte Juni Geschichte. Der Mietvertrag war seit | |
Jahren ausgelaufen, die landeseigene Berliner Immobilien Management GmbH | |
(BIM) wollte den Verein erst gar nicht mehr, [3][machte dann ein zu | |
schlechtes Angebot, das die Mehrheit der Vereinsmitglieder nicht annehmen | |
wollte]. Termine für Beratungen werden jetzt telefonisch oder online unter | |
[4][moabit-hilft.com/kontakt/]online vergeben. | |
Al Nasir Alshiekh findet das schade, für ihn war Haus R wichtig, weil hier | |
Helfer und Hilfsbedürftige schnell zusammenfanden und jeder willkommen war. | |
„In Berlin gibt es viel Elend, die Stadt braucht so einen Ort.“ | |
21 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Gefluechtete-in-Berlin/!5225360 | |
[2] https://www.nytimes.com/2015/11/27/world/europe/germany-berlin-migrants-ref… | |
[3] /Fluechtlingsverein-von-Politik-genervt/!6086146 | |
[4] http://www.moabit-hilft.com/kontakt/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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