| # taz.de -- Geflüchtete Jugendliche in Handschellen: Gewalt als Ultima Ratio | |
| > Die gewaltsame Umverteilung Minderjähriger aus Bremen war Thema in der | |
| > Sozialdeputation. Alles rechtens, sagt die Sozialsenatorin. | |
| Bild: Ob Handschellen mit dem Kindeswohl vereinbar sind, darüber wird in Breme… | |
| BREMEN taz | Dürfen minderjährige Geflüchtete in Handschellen gelegt | |
| werden, um sie in andere Bundesländer „umzuverteilen“? Ja, findet die | |
| Sozialbehörde: In Ausnahmefällen seien solcherlei Maßnahmen als „Ultima | |
| Ratio“ vertretbar, heißt es in einem sechsseitigen Behördenbericht, der am | |
| Donnerstag der Sozialdeputation vorgelegt wurde. | |
| Grund dafür war die [1][Veröffentlichung zweier Fälle] durch den | |
| Flüchtlingsrat und den Verein Fluchtraum. Zwei Jugendliche sollen danach | |
| von der Polizei aus ihren Betten in der Erstaufnahmeeinrichtung Steinsetzer | |
| Straße geholt, mit Handschellen gefesselt und in andere Bundesländer | |
| gebracht worden sein. Auch während der Fahrt dorthin wurden ihnen die | |
| Handschellen nicht abgenommen. | |
| „Wir agieren auf Basis der geltenden Gesetze“, verteidigte Sozialsenatorin | |
| Anja Stahmann (Grüne) die Maßnahmen am Donnerstag und widersprach damit der | |
| Auffassung des Flüchtlingsrats, nach der Zwangsmaßnahmen gegen | |
| Minderjährige ausnahmslos Kindeswohlverletzungen darstellen. | |
| Dass die zwangsweise „Verteilung“ eines Jugendlichen und die Fesselung mit | |
| Handschellen nicht im Interesse des Kindeswohls liegt, hat auch bereits im | |
| Jahr 2017 ein [2][Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und | |
| private Fürsorge (DV)] festgestellt. | |
| ## Kindeswohl geht vor Umverteilung | |
| Unter anderem heißt es dort, die Verteilung sei ausgeschlossen, wenn sich | |
| ein Minderjähriger der Umverteilung verweigere und zu befürchten sei, „dass | |
| eine Durchführung der Verteilung entgegen dieser starken Ablehnungshaltung | |
| mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen kann“. | |
| Spätestens bei einer Überführung in Handschellen und Fußfesseln oder unter | |
| Anwendung anderer Zwangsmittel durch die Polizei sei aber genau davon | |
| auszugehen. | |
| Der Bericht der Sozialbehörde schließt sich dem nicht an: Dort heißt es, | |
| die GutachterInnen des [3][DV] „verkennen die Regelungsintention des | |
| Bundesgesetzgebers, der ausdrücklich von einem mit der Zuweisung | |
| verbundenen Wechsel des Aufenthaltsortes“ des Jugendlichen spreche. | |
| Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat Bremen widerspricht: „Die Umverteilung | |
| eines Jugendlichen ist gegenüber dem Kindeswohl immer nachrangig und diesem | |
| untergeordnet – denn die Regelungsintention des Gesetzgebers ist laut | |
| Sozialgesetzbuch 8 vorrangig das Kindeswohl.“ | |
| Auch der Aussage des DV, nach der das Jugendamt bei in Obhut befindlichen | |
| Jugendlichen nur dann berechtigt sei, die Polizei mit Zwangsmaßnahmen zu | |
| beauftragen, wenn diese dem Schutz des Jugendlichen vor einer dringenden | |
| Gefahr diene, widerspricht die Sozialbehörde: Durch die Anwendung | |
| unmittelbaren Zwangs solle die Umsetzung der Umverteilung, an der der | |
| Jugendliche nicht freiwilllig mitwirke, sichergestellt werde, heißt es in | |
| dem Bericht. | |
| ## Jugendamt widerspricht sich | |
| „In den Bescheiden der beiden Jugendlichen“, sagt Oerter, „wird die | |
| Androhung unmittelbaren Zwangs allerdings damit begründet, dass ein | |
| weiterer Verbleib der Jugendlichen in der vorläufigen Inobhutnahme eine | |
| Gefährdung ihres Kindeswohls darstellen würde – das Jugendamt hat also | |
| genau das gemacht, was es abstreitet.“ Hinzu komme: „Wenn in der | |
| Erstaufnahme der Inneren Mission das Kindeswohl gefährdet ist, muss sie | |
| sofort geschlossen werden.“ Nicht nur an dieser Stelle, sagt Oerter, sei | |
| der Bericht eine „Nebelkerze“. | |
| Man halte sich, so der Bericht, an die Auffassung des | |
| Bundesfamilienministeriums. Das halte in einem Schreiben „die Anwendung von | |
| Zwangsmitteln in derartigen Fällen für grundsätzlich rechtlich zulässig, | |
| sofern sie einer strengen Verhältnimäßigkeitsprüfung Stand halte.“ | |
| In einem der taz vorliegenden Vermerk anlässlich eines Treffens der | |
| „Arbeitsgruppe Landesstellen zur Umverteilung von unbegleiteten | |
| minderjährigen Ausländern“, verfasst von Stefan Hansen vom Landesjugendamt | |
| Niedersachsen, zeigt sich allerdings kein so eindeutiges Bild: Debattiert | |
| wurde laut Hansen „kontrovers“ und ohne Einigung über „die Zulässigkeit… | |
| zwangsweisen Durchsetzung von Verteilentscheidungen“ – wobei Hansen sich | |
| der Rechtsauffassung des DV anschließt. | |
| Angesichts der Bremer Fälle stellt sich überdies die Frage, was mit der | |
| zitierten „strengen Verhältnismäßigkeit“ gemeint ist, denn bei einem der | |
| beiden Jugendlichen wurde offenbar nicht allzu streng hingeschaut: Sein | |
| Zuweisungsbescheid wurde in Nachhinein wieder aufgehoben, weil, das räumt | |
| der Bericht auch ein, „ihm nicht hinreichend rechtliches Gehör gewährt | |
| worden“ ist. | |
| „Nicht alles, was rechtlich möglich ist, muss auch pädagogisch geboten | |
| sein“, sagte in der Deputation Thomas Pörschke (Grüne). Und Sofia | |
| Leonidakis (Linke) sagte: „Wir können die Praxis aus einer grundsätzlichen | |
| Haltung nicht gutheißen, weil Zwangsmaßnahmen in der Jugendhilfe nichts zu | |
| suchen haben.“ Hier handele es sich nicht um eine juristische, sondern um | |
| eine politische Frage: „Und ich freue mich über die Debatte, die definitiv | |
| noch nicht beendet ist.“ | |
| ## Bundesländer verfahren anders | |
| Sie vermute, sagt Oerter, die seit der neuen Legislatur als „ständiger | |
| Gast“ für den Flüchtlingsrat Rederecht in der Sozialdeputation innehat, | |
| „dass die Gewaltanwendung auch innerhalb der Sozialbehörde umstritten ist.“ | |
| In der Tat sagte Stahmann, man wolle sich nun die Praxis anderer | |
| Bundesländer anschauen „und auch unsere Praxis selbst noch einmal | |
| hinterfragen.“ | |
| Eine taz-Anfrage bei den Flüchtlingsräten der Bundesländer wurde bis | |
| Redaktionsschluss nicht von allen beantwortet, die vorliegenden | |
| Rückmeldungen sind allerdings einhellig: nein, zwangsweise Umverteilungen | |
| wie jene in Bremen seien dort nicht bekannt. | |
| „Nach unseren Erkenntnissen wird in keinem anderen Bundesland diese | |
| Zwangsmaßnahme durchgeführt“, sagt Oerter. „Einige Landesjugendämter hal… | |
| diese Gewaltanwendung schlichtweg für rechtswidrig.“ | |
| 15 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kindeswohlgefaehrdung-in-Bremen/!5653928/ | |
| [2] https://www.socialnet.de/materialien/attach/358.pdf | |
| [3] https://www.deutscher-verein.de/de/mitglieder-2283.html | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schnase | |
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