| # taz.de -- Gedenken an Sinti- und Roma-Deportation: „… durch die Polizei a… | |
| > Vor 75 Jahren deportierte das NS-Regime viele Sinti- und Romafamilien aus | |
| > Nordwestdeutschland. Darunter waren viele Bremer Kinder. | |
| Bild: Von hier wurde Friedrich Bamberger nach Auschwitz deportiert: Schule an d… | |
| Bremen taz | Am 27. Oktober 1965 bestätigte der Schulleiter der Schule an | |
| der Fresenbergstraße in Bremen-Blumenthal eine Banalität. Ein Junge namens | |
| Friedrich Bamberger sei 22 Jahre zuvor als 14-Jährger an dieser Schule | |
| unterrichtet worden. Die „Bescheinigung“ bestätigt jedoch noch mehr: Seit | |
| dem 27. Oktober 1941 sei er an der Schule gewesen, die damals noch „Schule | |
| an der Feldstraße“ hieß. Davor hatte er die Schule Rönnebeck besucht. | |
| Eingeschult worden war Friedrich Bamberger, geboren am 29. Januar 1929, | |
| Ostern 1936 in Bremen-Oslebshausen, an der St.-Joseph-Schule. Sie gehörte | |
| zu den wenigen katholischen Schulen in Bremen und war 1929 gegründet | |
| worden. 85 Jahre später wurde sie wegen der „demografischen Entwicklung“ | |
| mit Ende des Schuljahres 2014 geschlossen. | |
| Das Einzugsgebiet der Schule erstreckte sich von Bremen-Nord bis nach | |
| Gröpelingen. In diesem Arbeiterstadtteil wohnte zu diesem Zeitpunkt die | |
| Familie Bamberger im Halmer Weg. Sie war katholisch. Da ist es | |
| naheliegend, dass die Kinder eine katholische Schule besuchten. | |
| Bis 1941. In diesem Jahr wurden sie während des Zweiten Weltkriegs | |
| „ausgebombt“, wie es damals hieß. Der Familie wurde eine Notwohnung in | |
| Blumenthal zugewiesen, und Friedrich musste die Schule wechseln. Das war | |
| keine katholische Schule mehr, denn bereits 1938 hatten die | |
| Nationalsozialisten die „Bekenntnisschulen“ zugunsten so genannter | |
| „deutscher Gemeinschaftsschulen“ aufgelöst. | |
| Die Schulbiografie des Schülers Friedrich Bamberger endet im März 1943 jäh. | |
| Auch dies geht aus der „Bescheinigung“ von 1965 hervor. Am 8. März 1943 | |
| wurde der Schüler aus dem Unterricht „durch die Polizei abgeholt“, im | |
| Auftrag des NS-Regimes. | |
| An diesem Morgen verhafteten in Bremen und Nordwestdeutschland Polizei- und | |
| Kripo-Beamte in deren Wohnungen, an ihren Arbeitsstätten und eben auch in | |
| Schulen Hunderte Sinti und Roma. | |
| „Am 8. 3. 1943 erschienen gegen 8.30 Uhr an unserem Wohnwagen zwei | |
| Schutzpolizeibeamte und erklärten uns, dass wir festgenommen seien“, sagt | |
| Jahre später der Bremer Sinto Julius Dickel, dessen Familie in der Stoteler | |
| Straße in Gröpelingen wohnte und dessen Vater auf der Werft AG-Weser | |
| beschäftigt war, in einem Ermittlungsverfahren gegen die Kripo-Beamten aus. | |
| ## Sammellager am Bremer Schlachthof | |
| Weiter schreibt er: „Wir mussten den Wohnwagen verlassen und durften nur | |
| die notwendigsten Gegenstände mitnehmen. Die beiden Polizeibeamten brachten | |
| uns zur Polizeiwache in Gröpelingen, wo wir einige Zeit warten mussten, bis | |
| die anderen Zigeuner, die ebenfalls in Gröpelingen wohnten, festgenommen | |
| und zur Wache gebracht wurden. Mein Vater wurde an seiner Arbeitsstelle | |
| festgenommen und traf dann auch an der Wache in Gröpelingen ein.“ | |
| Die Sinti und Roma wurden nach Bremen auf den Schlachthof gebracht. Die | |
| Kriminalpolizei hatte hier ein Sammellager eingerichtet, vermutlich in der | |
| Markthalle. | |
| Wo Jahre zuvor noch die SS und die SA Exerzieren geübt hatten – bei | |
| schlechtem Wetter in der Markthalle – stellte die Bremer Kriminalpolizei | |
| nun drei Transporte zur Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz | |
| zusammen. Der Bremer Hauptbahnhof wurde in diesen Tagen für kurze Zeit zum | |
| Deportationsbahnhof und Ausgangspunkt der endgültigen Vernichtung der Sinti | |
| und Roma aus ganz Nordwestdeutschland. | |
| Unter ihnen waren Friedrich Bamberger und seine Brüder: der elfjährige | |
| Hermann, der mit ihm zur Schule an der Fresenbergstraße/Feldstraße ging, | |
| und der siebenjährige Karl, der die Schule an der Lüder-Clüver-Straße | |
| besuchte. Sie alle wurden „durch die Polizei abgeholt“. | |
| Sie waren nicht die einzigen Schüler, deren Schulbesuch im März 1943 | |
| endete. Auch zur Bremer Sinti-Familie Müller gehörten viele Schüler*innen. | |
| Die Familie wohnte in Bremen-Walle, in der Stiftstraße. Die älteren | |
| Geschwister waren bereits in Lübbecke eingeschult worden. Die drei jüngeren | |
| besuchten die Schule an der Helgolander Straße. | |
| ## Viele Bremer Familien betroffen | |
| Und in Bremen-Findorff, in der Findorffstraße, in unmittelbarer Nähe des | |
| Schlachthofs, wohnte die Sinti-Familie Schwarz. Mindestens drei Kinder der | |
| Familie gingen zur Schule an der Gothaer Straße. | |
| Sinti- und Roma-Schüler*innen können auch an den Schulen am Alten Postweg | |
| in Hastedt und Am Hulsberg in der Östlichen Vorstadt nachgewiesen werden. | |
| Hier wurde im Klassenbuch vermerkt, dass der Schüler Robert S. am 23. März | |
| 1943 „verzogen“ sei, ähnlich den Eintragungen auf den Karteikarten des | |
| Einwohnermeldeamtes, dort jedoch mit dem Zusatz „Auschwitz (K.Z.-Lager)“. | |
| Noch 1954 erklärte seine ehemalige Klassenlehrerin eventuelle Fehltage des | |
| Schülers mit seinem angeblichen „Zigeunerblut“. | |
| Die Frage des Schulbesuchs von Sinti- und Roma-Schüler*innen wurde in der | |
| NS-Zeit nicht einheitlich gehandhabt. In Köln und in Hamburg wurden sie in | |
| gesonderten Klassen unterrichtet. | |
| In Hamburg-Harburg gab es ab 1939 an der Schule Maretstraße eine sogenannte | |
| Zigeuner-Sammelklasse. Im Raum Weser-Ems wurde zumindest der Versuch | |
| unternommen, Sinti-Schüler*innen vom Unterricht auszugrenzen. | |
| ## Mindestens 86 Bremer Sinti und Roma ermordet | |
| Dass in Bremen ein anderer Weg beschritten wurde, dürfte pragmatische | |
| Gründe gehabt haben und ist nicht damit zu erklären, dass die Schulbehörde | |
| sich grundsätzlich dem Versuch widersetzt hätte, Sinti- und | |
| Roma-Schüler*innen auszugrenzen. Wie hätten die über das Stadtgebiet | |
| verteilten schulpflichtigen Kinder in einer oder auch zwei Klassen | |
| zusammengefasst werden sollen? | |
| Etwa 160 Bremer Sinti und Roma wurden nach Auschwitz deportiert. Mindestens | |
| 86 wurden in dem KZ ermordet. Nahezu die Hälfte von ihnen war Kinder. Von | |
| der neunköpfigen Familie Bamberger überlebten nur zwei Kinder, von der | |
| zwölfköpfigen Familie Müller zwei Personen, von der elfköpfigen Familie | |
| Schwarz nur die 16-jährige Anna. | |
| Friedrich Bamberger starb am 3. November 1943 im Vernichtungslager | |
| Auschwitz. Er wurde nur 14 Jahre alt. Ostern 1944 wäre er „nach erfüllter | |
| Schulpflicht“ entlassen worden, „wenn er nicht 1943 nach Auschwitz | |
| deportiert worden wäre“ – wie seine erste Schule, die St.-Joseph-Schule, am | |
| 20. November 1965 dem überlebenden Bruder und der Schwester bescheinigte. | |
| 6 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Hans Hesse | |
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