# taz.de -- Theaterstück über Deportationen: Die Toten sind Musik | |
> Vom Bremer Schlachthof aus wurden 1943 rund 300 Roma und Sinti nach | |
> Auschwitz deportiert. Ein Theaterstück erinnert daran. | |
Bild: Steht für das, was so schwer zu fassen ist: die Musik. | |
Bremen taz | Von einem „geschichtsträchtigen Ort“ zu sprechen, heißt mehr, | |
als dass dort halt mal irgendwas Wichtiges passiert ist. Es meint eine Nähe | |
zur Geschichte am Ort des Geschehens, wie nackte Zahlen sie nicht | |
herstellen können – und es geht um Gefühle, die sich nicht in Worte fassen | |
lassen, und die es darum einzukreisen gilt. | |
Am Bremer Schlachthof hinter dem Hauptbahnhof geschieht so etwas gerade. | |
Der imposante Industriebau aus Wasserturm, Kesselhaus und Magazinanlagen | |
wirkt schon architektonisch beunruhigend. Und weil die Anlage als | |
Kulturzentrum heute zu den wichtigsten Bremer Konzertlocations zählt, | |
verbinden die meisten Bremer ihren ehemaligen Schlachthof mit Lebensfreude, | |
Party und Kunstgenuss. | |
Für andere ist es ein Ort des Grauens: Anfang März 1943 wurden hier rund | |
300 Sinti und Roma aus dem Nordwesten Deutschlands zusammengepfercht, bevor | |
sie mit Zügen nach Auschwitz deportiert wurden. | |
Das Theaterstück „Drei Tage im März“ will nicht nur an verdrängte | |
Geschichte erinnern, sondern gerade auch die Widersprüchlichkeit dieser | |
Erfahrungen verhandeln. Ein bisschen bemühen muss man sich allerdings um | |
das hochinteressante Projekt, denn für das Schlachthof-Stück im Schlachthof | |
stehen nur zwei Aufführungen auf dem Plan: Die Premiere am kommenden | |
Dienstag und eine Schulaufführung am Mittwoch. | |
## Die Ignoranz der Täterkinder | |
Ein Gefühl für die Vielschichtigkeit des Stoffs vermitteln bereits die | |
Proben. Im Mittelpunkt der Handlung stehen der Rapper Romeo Gitano (Romano | |
Hanstein) und seine Managerin Jule (Sissi Zängerle). Er plant sein | |
Comeback, sie ist zwar ein Kumpeltyp, macht aber auch Druck, damit der | |
Künstler sich zusammenreißt und das Ding wirklich über die Bühne geht. | |
Ausgerechnet beim Soundcheck in der Kesselhalle rückt ihm dann die | |
Geschichte auf die Pelle: sein kurzer Ruhm in den 90ern – und dann die | |
Erinnerung an seine ermordeten Vorfahren. | |
Romeo ist Sinto, Schauspieler Romano auch. Wenn er sich auf der Bühne über | |
die Ignoranz der Täterkinder und -enkel ärgert, ist das sicher auch seine | |
eigene Wut. Romano Hanstein war lange aktiv im Zentralrat Deutscher Sinti | |
und Roma, sein Vater Ewald Hanstein hat Auschwitz überlebt und später nicht | |
nur in Bremen mit Erfolg für die Rechte seiner Minderheit gekämpft. | |
Auf Initiative der Sinti geht auch die Gedenktafel vor dem Schlachthof | |
zurück, die erst seit Mitte der 1990er-Jahre an den Völkermord erinnert. | |
Damals hörte auch Kulturzentrums-Mitarbeiter Ralf Lorenzen erstmals von der | |
Deportation über den Schlachthof. | |
Jetzt hat er das Theaterstück „Drei Tage im März“ geschrieben und | |
inszeniert es auch gemeinsam mit Dramaturgin Dany Handschuh. „Das Thema hat | |
mich nicht mehr losgelassen“, sagt Lorenzen. Tatsächlich hat er die | |
Verfolgung der Sinti in zahlreichen journalistische Arbeiten (unter anderem | |
für die taz) und als Buchautor bearbeitet. | |
Bemerkenswert an Lorenzens Stück ist die Vermittlungsarbeit zwischen den | |
Generationen – und wie einfühlsam es die unterschiedlichen kollektiven | |
Erinnerungen von Sinti und Nicht-Sinti berücksichtigt. „Das ist schlimm – | |
schlimm, schlimm, schlimm“, sagt Managerin Jule an einer Stelle, „aber die | |
Empathie wächst doch nicht mit jedem ‚schlimm‘“. Sie will und muss ihren | |
Job machen. Ignorant oder gar bösartig ist sie aber nicht. | |
## Vererbtes Trauma | |
Dass Julie nicht schlagartig und jederzeit einschwenken kann auf das | |
vererbte Trauma ihres Künstlers, sondern eben auch funktionieren muss, ist | |
total verständlich. Das Problem haben heute zwei komplette Generationen | |
Nazinachkommen. Und deshalb ist es auch so wichtig, sich damit | |
auseinanderzusetzen. | |
Auf der Schlachthofbühne wird dieser Konflikt auf drei miteinander | |
verzahnten Ebenen ausgetragen: Neben dem Dialogspiel von Hanstein und | |
Zängerle wird Schauspieler Rolf Becker aus Dokumenten vorlesen und die | |
Faktenlage vortragen. | |
Die Papiere stammen aus dem Staatsarchiv und aus dem Buch „Vom Schlachthof | |
nach Auschwitz“ von Hans Hesse und Jens Schreiber. Sie erzählen die | |
Märztage von 1943 am Beispiel des Kraftfahrers und Musikers Wilhelm | |
Schwarz, der mit seiner 11-köpfigen Familie neben dem Schlachthof wohnte. | |
Nur eine Tochter der Familie hat überlebt. | |
Und im dritten Strang ist da die Musik. Dardo Balke hat sie komponiert und | |
wird sie mit seinem Ensemble auch selbst spielen: Traditionelle Sintimusik | |
ist das, mit Violinen, Akkordeon, Gitarre und Klavier. Das klingt mitunter | |
leicht angeswingt, wird aber durchgehend wunderschön getragen von tiefer | |
Melancholie. Ein weiteres Stück wird der Chor der Oberschule Findorff | |
beisteuern, wo einige Kinder der Familie Schwarz damals zur Schule gingen. | |
## Lauschen ins Leere | |
Im Regiekonzept von Ralf Lorenzen und Danny Handschuh erscheint diese Musik | |
als das Vage, vielleicht sogar Transzendentale dieses Ortes. Das, was eben | |
so schwer zu fassen ist. Während die Band spielt, hocken Romeo und Jule | |
meist da und lauschen ins Leere. Die musikalische Tradition ist | |
Stellvertreter für die beinahe ausgelöschte Kultur der Sinti. | |
Schon bei den Proben wird deutlich, was für ein gewaltiger Balanceakt diese | |
Produktion ist: Würdevolles Erinnern mit authentisch-jugendlicher | |
Erfahrungswelt zu koppeln, ist schwierig – die Konfrontation von Showbiz | |
und Gedenken noch mehr. Auch die Opferkonkurrenz der Sinti mit Jüdinnen und | |
Juden spielt eine Rolle, wobei schließlich auch der Wahnsinn deutlich wird, | |
heute um die Aufmerksamkeit der Mehrheitsdeutschen streiten zu müssen. | |
Auch formal ist die Verbindung dokumentarischen Theaters mit der | |
Irrationalität von Gefühlen und Traumata eine Herausforderung. Aber all das | |
gehört eben zum Gedenken: damals und heute, Schuld und Verantwortung, | |
Trauer und Weitermachen. Und die Widersprüche, wie sie eben nicht nur | |
Tourmanagerin Jule in den Griff bekommen muss. Sondern jeder Einzelne. | |
Di, 19. 3., 20 Uhr, sowie Mi, 20. 3., 11 Uhr, Kulturzentrum Schlachthof, | |
Bremen | |
17 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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