| # taz.de -- Front National in Nordfrankreich: Le Pens goldene Vitrine | |
| > In Hénin-Beaumont regiert seit 2014 der Front National. Bürgermeister | |
| > Steeve Briois lächelt viel, saniert Schulen und Straßen und unterdrückt | |
| > jede Kritik. | |
| Bild: Sie treiben dem FN den Teufel aus: Marine Le Pen und Steeve Briois bei de… | |
| Mitten im Präsidentschaftswahlkampf sieht sich der Front National durch | |
| einen Film provoziert. Der belgische Regisseur Lucas Belvaux erfand für | |
| [1][Chez nous] (engl. Titel: This is our land) das Städtchen Hénard, wo die | |
| beliebte, fürsorgliche Krankenschwester Pauline lebt. Sie lässt sich von | |
| einer Frau einnehmen, die eindeutig Marine Le Pens Friseur teilt und den | |
| Bloc patriotique anführt. Um die Kommunalwahlen zu gewinnen, ernennen die | |
| Rechtspopulisten Pauline zur Kandidatin, doch die Frau geht in dem | |
| euphorischen Rassismus ihrer Patrioten unter. | |
| Was dem Front National nicht gefällt, ist die offene Anspielung Hénards auf | |
| Hénin-Beaumont, das „Lehensgut“ (Le Monde) des FN. Hier wurde Steeve | |
| Briois, Europaabgeordneter des FN, im März 2014 tatsächlich mit absoluter | |
| Mehrheit zum Bürgermeister gewählt. Das Arbeiterkind aus Nordfrankreich ist | |
| Marine Le Pens Goldjunge und seine 27.000-Einwohner-Stadt das | |
| Vorzeigeprojekt der Entdämonisierung ihrer Partei. Umso härter wehrte sich | |
| Briois gegen Chez nous: der Film sei eine „Karikatur“ und Catherine Jacob, | |
| die Pseudo Le Pen, ein „Tabaktopf“ – das meint kurzbeinig und dick. | |
| Dabei spiegelt der Film seine Realität ganz gut: Im ehemaligen Kohlerevier | |
| Pas-de-Calais sehen sich die Bewohner dem Verfall ausgeliefert, dem die | |
| Sozialisten nicht Herr werden. Jeder Sechste ist arbeitslos und empfänglich | |
| für Briois' Parolen. Bei seiner Siegesfeier beteuerte er (Le Pen hinter | |
| sich), einzig an der „Wiederbelebung“ Hénins interessiert zu sein – und | |
| sonst nichts (und niemandem). Das kommt an, meint Politologe Jean-Yves | |
| Camus. „Briois bedient meisterhaft die Erwartungen der Arbeiter des | |
| Pas-de-Calais, die sehr unter dem Abzug der Kohlebergwerke und der | |
| Schwerindustrie gelitten haben“, so der Autor von Der Front National. | |
| Die sozialistische Lücke | |
| Bis vor wenigen Jahren waren solche Industriewüsten noch klassisches | |
| Klientel der Linken. Vom Sozialisten Gérard Dalongeville, der Hénin von | |
| 2001 bis 2009 regierte, hatten die Bewohner allerdings außer Schulden und | |
| einer Scheinanstellung im Rathaus nicht viel zu erwarten. Seine Bilanz: | |
| Vier Jahre Haft wegen Veruntreuung. In diesem Abgrund der Enttäuschung | |
| fasste Briois Fuß, verteilte (teils mit Le Pen) Pamphlete gegen die | |
| Missstände und bot sich als Retter an. „Sozialistischer als die | |
| Sozialisten“, soll der Bürgermeister am Tag der Arbeit, dem ersten Mai, für | |
| sich geworben haben. | |
| Tatsächlich konnte der Rechtspopulist viel Geld für Wohltaten in die Hand | |
| nehmen, seit Teppichreinigungen nicht mehr wie unter Dalongeville 18.000 | |
| Euro kosteten. Mit Briois kamen weniger Wohnsteuer, mehr Volksfeste und | |
| Gratiskonzerte, neue Klassenräume plus Kantine und sanierte Gehwege. Das | |
| alles bei gesenkten Schulden, wie Hénins Opposition gegenüber M6 info | |
| eingestehen musste. Kein Wunder, dass die Zustimmung zur Arbeit des FN, | |
| dessen Anführer sich gern bei Suppenausgaben fotografieren lässt, ein Jahr | |
| nach Amtsantritt bei 74 Prozent lag, laut einer [2][Umfrage des IFOP]. | |
| „Wir regieren eine Stadt nicht ideologisch, sondern über die Nähe zu den | |
| Menschen“, schrieb Briois im Mai 2016 in der Gemeinderatszeitung. Auch das | |
| Bild des plumpen FN-Rassisten wollte Le Pens Werbefigur Lügen strafen. | |
| Während andere FN-Bürgermeister um Marseille herum mit Moscheeverboten für | |
| sich warben, unterschrieb Briois im März 2016 das Versprechen, eine zu | |
| bauen. Die Muslime seiner Gemeinde lud er nach dem Attentat auf Charlie | |
| Hebdo ins Rathaus ein, wo er alle dazu aufrief, Islam und Islamismus nicht | |
| zu verwechseln. | |
| Wir vor den Migranten | |
| So viel Aufgeschlossenheit konnten nicht alle Populisten ertragen. Bruno | |
| Bilde, Ratsmitglied in Hénin und Briois‘ Kommunikationschef, musste sich in | |
| der rechten Wochenzeitschrift Minute für den Moscheebau rechtfertigen: „Wir | |
| haben das Projekt gut geprüft. Es wird sicher kein Minarett und auch keinen | |
| Dom geben.“ Der Autor des Artikels mutmaßte, Briois habe eine rechtliche | |
| Demütigung vermeiden wollen, wie sie sein Kollege David Racheline in Fréjus | |
| erfahren hatte. | |
| FN-Experte Camus glaubt ebenfalls an Pragmatismus und weniger an eine | |
| ideologische Wende: „Es gibt Realisten im FN, die lieber einen Kultort für | |
| Muslime bauen, als sie in geheime Gebetsräume zu entlassen, ohne zu wissen, | |
| wer dort was predigt.“ Letztlich gelten den Bewohnern Hénins weniger die | |
| seit Generationen ansässigen Muslime als Problem, als die „Illegalos“, wie | |
| Briois sie nennt, die sich auf dem Weg nach England im Pas-de-Calais stauen | |
| und gegen die sich viel besser hetzen lässt. | |
| Als Frankreichs Innenminister letzten September den Dschungel von Calais – | |
| eine Autostunde von Hénin entfernt – auflösen und die Geflüchteten im Land | |
| verteilen ließ, wollte Briois Profil zeigen. Ohne dass je eine Umsiedlung | |
| in seine Stadt geplant war, initiierte er die [3][Charta Meine Kommune ohne | |
| Migranten]. Ihre Unterzeichner versicherten, sich mit allen legalen Mitteln | |
| gegen die Aufnahme dieser oder sonstiger Migranten wehren zu wollen. Sie | |
| seien finanziell nicht zu stemmen, islamisierten die Gesellschaft und | |
| importierten womöglich Djihadisten. | |
| Ohne Busse voll Geflüchteter, ließen sich in Hénin nur die Landesverräter | |
| rügen, die für ihre Aufnahme plädierten. Laut der Charta, die von vielen | |
| FN-Bürgermeistern übernommen wurde, sollen Vereine, die „massive | |
| Immigration zum gesellschaftlichen Ziel haben, keinerlei Subventionen mehr | |
| erhalten.“ Tatsächlich hatte Briois bereits früh seinen Erzfeind, die Ligue | |
| des Droits des Hommes (Liga der Menschenrechte), aus ihrem öffentlichen | |
| Gebäude verjagt. Es sei illegal, politische Vereine zu subventionieren – | |
| Briois forderte 36.000 Euro Miete zurück. Selbst karitative Verbände wie | |
| Secours Catholique wurden durch Privatisierung ihres Sitzes | |
| hinausgetrieben, ihre universale Nächstenliebe ging den Frontisten zu weit. | |
| Kritik erzeugt Wut | |
| Im Schatten seiner kommunalen Wiederbelebung scheint Bürgermeister Briois | |
| alte Fehden mit neuer Macht auszutragen. Das bekommen jene zu spüren, die | |
| ihn früher noch von Gewerkschaftsprotesten verjagen konnten und weiterhin | |
| zu kritisieren wagen – Sozialisten, Kommunisten, Grüne. Bei Amtsantritt | |
| hieß es von Briois, er würde „die Opposition nicht so demütigen, wie er | |
| selbst gedemütigt worden ist.“ Doch die Realität sieht anders aus. | |
| Ende März warf der französische Sender France 2 einen Blick in eine Sitzung | |
| des Gemeinderats von Hénin. In dem [4][Videobericht] sitzen zwei der sechs | |
| Oppositionellen 29 Frontisten gegenüber. Sie haben keine Chance, gegen | |
| deren Beleidigungen und die Buh-Rufe des Publikums im Rücken gehört zu | |
| werden. Marine Tondelier, Kommunalpolitikerin der Grünen (EELV), ist eine | |
| von ihnen. „Die Gemeinderatssitzungen wirken wie FN-Meetings, zu denen man | |
| hingeht, um sich wie im Zirkus zu amüsieren“, schreibt sie in ihrem gerade | |
| veröffentlichten Buch, Nouvelles du Front (Neues von der Front). | |
| Die Oppositionelle berichtet von der Repression des FN gegen jene, die | |
| „ihr“ Volk angeblich nicht vertreten. Als die Charta verabschiedet wurde, | |
| warf Aurélia Beigneux, FN-Abgeordnete für Soziales, der Opposition vor, | |
| dass sie „nur von menschlichem Leid bewegt ist, wenn es exotisch ist, nicht | |
| aber vor der eigenen Tür.“ Als Tondelier antworten wollte, scherzte der | |
| Bürgermeister: „Eine kleine Träne?“ Das Publikum applaudierte wild und | |
| schrie „Raus mit den Illegalen“ und Briois: lächelte. Häufig schaltete er | |
| ihr das Mikro ab oder schrie sie mit Beleidigungen nieder – sie gehörten in | |
| die Psychatrie, seien „kleine Nazis“, die „letzten Stalinisten | |
| Frankreichs“. | |
| David Noël, Ratsmitglied der Kommunistischen Partei in Hénin, versuchte die | |
| Rechte der Opposition im Dezember vor dem Verwaltungsgericht zu erklagen – | |
| der Prozess wird mindestens ein Jahr dauern. Derweil überziehen Briois und | |
| Bilde ihre Kritiker auf Kosten des Rathauses mit Gegenklagen. „Ihre | |
| juristische Hartnäckigkeit zielt darauf ab, ihre Gegner durch den | |
| finanziellen Druck der Prozesse zum Schweigen zu bringen“, so Noël. Er | |
| selbst sei von ihnen (erfolglos) verklagt worden, weil er angesichts von | |
| Ermittlungen gegen Briois wegen eines fragwürdigen Finanzmandats und Bildes | |
| Verwicklungen in Scheinbeschäftigungen deren Rücktritt forderte. | |
| Die Einschüchterung von Abweichlern reicht bis zu den Angestellten des | |
| Rathauses. Laut Tondelier sei eine von ihnen von Bilde zurechtgewiesen | |
| worden, weil ihr eine Karikatur Le Pens gefallen hatte. „Die sozialen | |
| Medien sind Hauptinstrument der Überwachung geworden“, schreibt die | |
| Kommunalpolitikern. Mobbing und „psychische Guerilla“ seien die üblichen | |
| Mittel, um sich jener zu entledigen, die nicht mitzögen. Der Direktor des | |
| EDV-Teams, der keine Monatsberichte über das Internetverhalten im Rathaus | |
| liefern wollte, sei von Bilde solange angeschnauzt worden, bis er sich an | |
| die Kasse der Schulkantine versetzen ließ. | |
| Die Stellen der Vertriebenen würden, so Tondelier, an Getreue vergeben – | |
| eine schleichende Unterwanderung durch Briois' „Meute“. Die Hinterbliebenen | |
| müssten fürchten, dass all ihre Äußerungen nach oben gemeldet würden. | |
| Abweichende Meinungen zuzulassen, so Politologe Camus, falle den Frontisten | |
| schwer: „Selbst unter den FN-Politikern sind einige abgetreten, weil sie | |
| nur Marionetten des allmächtigen Bürgermeisters und seiner Vertrauten | |
| waren.“ | |
| Foren des Hasses | |
| Um in ihrer totalitären Blase nicht gestört zu werden, verweigern sich die | |
| Frontisten auch jenen, die sie nicht kontrollieren können: Lokalreportern | |
| wie Pascal Wallart. Die Regionalzeitung La Voix du Nord, für die Wallart | |
| aus Hénin berichtet, enthüllte im Februar 2016 die unautorisierte | |
| Installation von acht Kameras mit Mikro im Rathaus. Drahtzieher Bilde ließ | |
| daraufhin in der Libération verkünden: „Ich lasse ihnen keine Informationen | |
| mehr zukommen, nur in Extremfällen.“ | |
| Dafür bauten er und Briois ihre propagandistischen Parallelmedien aus: Zur | |
| parteiischen Zeitung des Gemeinderats und Briois’ Statements per [5][Blog] | |
| und [6][Twitter] kam plötzlich die anonyme [7][Facebook-Seite La Voix | |
| d'Hénin] hinzu, die Stimme Hénins. In allen Medien flucht der FN auf die | |
| Lügenpresse und wirft Kritikern wie Wallart vor, „im Journalismus das zu | |
| sein, was Pornographie in der Liebe ist“ – so Briois auf seinem Blog. | |
| In den sozialen Netzwerken ist sich der FN seiner treuen Gefolgschaft | |
| sicher. Dort können sie ihren Hass rücksichtslos ausleben. Tondelier ist | |
| als Gutmensch ihre Prügelfigur schlechthin. Als sie Bilder von sich | |
| postete, wie sie Geflüchteten in Grande-Synthe Essen bringt und die Roma | |
| Hénins besucht, deren Bettelei Briois zu verbieten versucht hatte, teilte | |
| dieser die Posts mit Kommentaren wie: „Diese Politikerin bevorzugt stets | |
| das Fremde. Sie ist die Schande unserer Gemeinde.“ | |
| Dagegen sei sie bereits immun, schreibt Tondelier, nicht aber gegen | |
| Kommentatoren, die ihnen den Tod wünschten: „Ins Meer mit all den | |
| muslimischen Schweinen“, „Ihr werdet weniger lachen, wenn das französische | |
| Volk revoltiert“ oder „Ich hoffe, dass die ersten Schüsse eines | |
| Bürgerkriegs Sie abbekommen“ – das schrieb eine ältere Einwohnerin unter | |
| echtem Namen. In Hénin-Beaumont muss der Hass sich nicht verstecken. | |
| Hénins Bürgermeister wurde 2014 zum prägendsten Lokalpolitiker Frankreichs | |
| erkoren. Der Präsident der Nationalversammlung, Claude Bartolone, | |
| verweigerte die persönliche Übergabe des Preises: er wolle nicht zur | |
| Normalisierung des FN beitragen. Die hat aber längst stattgefunden, meint | |
| Jean-Yves Camus: „Was mich verblüfft, wenn ich die Situation mit 1995 | |
| vergleiche (als die Großstadt Toulon an den FN fiel – Anm. d. Red.), ist | |
| die viel weniger sichtbare Opposition. Das ist der Haupterfolg der | |
| Entdämonisierung: niemand geht mehr gegen den FN auf die Straße.“ | |
| Glaubt man Lokalreporter Wallart, hätten die Bewohner Hénins ihr | |
| politisches Bewusstsein verloren: „Sie freuen sich bloß, dass sich endlich | |
| jemand um sie kümmert.“ Bei den Departementswahlen 2015 erhielt der FN 64 | |
| Prozent der Stimmen aus Hénin-Beaumont. Repression und Hass gegen Linke und | |
| Migranten, alles scheint vergessen, wenn Briois mit einem Lächeln zum | |
| Weihnachtsmarkt einlädt. Zuletzt war der Baum größer denn je und leuchtete | |
| blau-weiß – den Farben Le Pens. | |
| 13 Apr 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=w9CQXkDwNSk | |
| [2] http://www.ifop.fr/media/poll/2961-1-study_file.pdf | |
| [3] http://www.frontnational.com/pdf/Charte-migrants.pdf | |
| [4] http://www.francetvinfo.fr/replay-magazine/france-2/complement-d-enquete/co… | |
| [5] http://briois.ublog.com/ | |
| [6] https://twitter.com/steevebriois?lang=de | |
| [7] https://www.facebook.com/voiedhenin/ | |
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| Patrick Jütte | |
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