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# taz.de -- Frauenhass auf TikTok: Ohne Respekt, ohne Kultur
> Junge Frauen erleben besonders viel Hass in sozialen Netzwerken wie
> TikTok. Antifeministen beleidigen systematisch alle, die ihr Weltbild
> bedrohen.
Bild: Kinderkleider mit TikTok-Logo in einem Geschäft in Tschechien
Isabell Krämer kann nicht mehr. Unter ihren Videos auf Tiktok sammeln sich
Hasskommentare, an manchen Tagen sekündlich. Sie bekommt Nachrichten, wie
„Kleine Fotze“, „Dumme Feministin“, „Du Drecksmännerhasserin“. Die
Menschen, die sie auf Tiktok angreifen, suchen Krämer auch auf Instagram
und kommentieren ihre privaten Bilder. Bei der Arbeit ist Krämer zunehmend
abgelenkt: „Es ist eine ständige emotionale Belastung“, sagt sie, „und i…
muss es mir immer wieder angucken.“
Isabell Krämer ist Mitte zwanzig und heißt in Wirklichkeit anders. Sie
wohnt in einer deutschen Großstadt und drehte bis vor Kurzem feministische
und bildungspolitische Videos, die sie auf der App Tiktok teilte. Ihr
Account hat mehrere Zehntausend Follower. Mehr möchte sie nicht preisgeben.
Aus Angst vor noch mehr Hass.
Krämer ist eine von vielen aktivistischen Tiktokerinnen in Deutschland, die
Hass erleben. Frauen, die sich im Internet politisch äußern, werden
besonders häufig von antifeministisch und frauenfeindlich eingestellten
Männern beleidigt.
Im Weltmädchenbericht 2020 der Organisation Plan International gaben 70
Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 24 in Deutschland an,
Bedrohungen, Beleidigungen und Diskriminierung in sozialen Medien zu
erfahren. Deutschland liegt damit 12 Prozent über dem internationalen
Durchschnitt. Auch auf Tiktok formieren sich rassistische, frauenfeindliche
und rechtsgerichtete Gruppen. Unterschiedlichste Hass-Gruppen eint ein
Kernthema: Antifeminismus.
## Fast 180.000 Beschwerden
Tiktok, das ist eine chinesische App, in der man sich durch kurze Videos
wischt. Die Inhalte kommen von den Nutzern selbst und können alles sein:
vom Katzenvideo bis zur Mini-Vorlesung. Zwar wird die App in Deutschland
noch verhältnismäßig wenig genutzt, aber ihre Popularität steigt.
Dass Tiktok auch ein düsterer Ort sein kann, liegt möglicherweise an einem
noch wenig beachteten Problem: Bei Beleidigungen können die Betreiber nicht
ausreichend durchgreifen. Schon über Tiktoks NetzDG-Transparenzbericht 2019
schrieb das Recherchenetzwerk Netzpolitik.org: „Die neuen Zahlen zeigen
nun, wie selten TikTok gegen Inhalte vorgeht, die Nutzer:innen gemäß dem
NetzDG als beleidigend gemeldet hatten.“
Laut Tiktok Deutschlands letztem NetzDG-Transparenzbericht gingen in der
zweiten Hälfte 2020 fast 180.000 Beschwerden von Nutzer:innen ein. Auf
19.000 davon reagierte Tiktok, indem Inhalte entfernt oder gesperrt wurden.
Nur 11 Prozent der Beschwerden hatten somit Folgen. Einer Tiktok-Sprecherin
zufolge werde jede Meldung gemäß der NetzDG überprüft und Maßnahmen
ergriffen, wenn ein Verstoß vorliege. Die Frage, wieso nur ein so geringer
Prozentsatz als Verstoß anerkannt werde, beantwortet Tiktok auf Anfrage
nicht.
Nachdem Isabell Krämer sich vor einer Weile die Tiktok-App heruntergeladen
hat, ist sie erst mal begeistert von all dem Kreativen und Lustigen, das
sie dort findet. Ihr fällt auf, dass es in Deutschland kaum Videos über
Identitätspolitik gibt. Also nimmt sie das selbst in die Hand. Ihre
Erklärvideos über Themen wie Frauenquote oder toxische Männlichkeit kommen
gut an. Aber bis sie ihren ersten Hasskommentar erhält, dauert es nicht
lange. Erst ist sie schockiert, aber sie lässt sich nicht aus der Ruhe
bringen. Mit der Zeit werden die Nachrichten aggressiver. „Wenn ich dich
sehe, schlag ich dich um“, schreibt jemand mitten in der Nacht.
## Die Folgen: Stress, Depression, Selbstabwertung
Laut der Initiative „Aufstehen gegen Hass im Netz“ gibt es mehrere Gründe,
warum Hass in sozialen Medien so verbreitet ist. Jeder kann im Internet an
öffentlichen Debatte teilnehmen. Ohne Aufwand. Außerdem kann Anonymität
Menschen enthemmen. Es kostet keine Überwindung mehr, Kontakt aufzunehmen.
Und wenn man dabei Grenzen überschreitet, gibt es keine ernsthaften
Konsequenzen. Als Opfer von Hatern und Trollen hingegen ist man der
digitalen Gewalt fast schutzlos ausgeliefert. Denn nachhaltige
Gegenstrategien gibt es nicht.
„Ich hau’ dir in die Fresse, wenn ich dich mal sehe.“ Es sind nicht die
Gewaltandrohungen, die Krämer immer mehr belasten. Es ist die Masse der
Verachtung, die Summe der kleinen, gemeinen Kommentare, die anfängt, ihr
Selbstvertrauen zu demolieren: „Ich dachte mal, ich wüsste, wofür ich
stehe. Aber diese Leute haben es tatsächlich geschafft, dass ich mir
Gedanken mache, ob ich das Problem bin.“
Stress, Depressionen und Veränderungen im Selbstbild: Das können Folgen von
Onlinehass sein. Das zeigt eine Studie des Instituts für Demokratie und
Zivilgesellschaft in Jena. Außerdem führt Hassrede im Internet dazu, dass
Betroffene sich seltener politisch äußern: Elf Prozent der Mädchen, die von
Hass im Internet betroffenen waren, gaben im letzten Weltmädchenbericht an,
die sozialen Medien deswegen weniger zu nutzen. Neun Prozent schrieben in
der Folge von Hass keine Posts mehr und fünf Prozent verließen die
jeweilige Plattform ganz.
Diese Verdrängung ist Teil eines Angriffs auf die Debattenkultur im
Internet: „Hate Speech verringert die Meinungsvielfalt im Netz und führt zu
einer Verschiebung der Wahrnehmung über die gesellschaftliche Realität,
wenn die Hater:innen in den Kommentarspalten dominieren“, sagte
Protestforscher Matthias Quent in einem Interview mit dem
Bundesbildungsministerium.
## Das rechtsextreme Logo der Reconquista Germania als Bild
Manche der Tiktok-Accounts, die Krämer angreifen, tragen das AfD-Logo,
Deutschlandflaggen oder das Zeichen von der rechtsextremen Reconquista
Germania als Profilbild. „Die schreiben mir aber nicht so explizit
Nazisachen“, sagt Krämer, „bei mir geht es immer darum, dass ich eine Frau
bin.“
Oft kommentieren sie bei Videos über die Benachteiligung von Frauen: „Das
ist Männer-Shaming.“ Damit imitieren sie die Sprache der Feminist:innen.
Und sie entwickeln gemeinsame Codes: „Woman Moment“ wird unter Videos von
Frauen kommentiert, um zu zeigen, dass das gesagte minderwertig ist.
Einmal spricht der kleine Bruder einer Freundin Krämer an: „Warum wirst du
denn auf Tiktok so fertig gemacht?“ Der Bruder ist elf. Nicht viel älter,
glaubt Krämer, sind auch einige der Hater. „Das Schriftbild ist immer
gleich: Kurze Nachrichten, viele Rechtschreibfehler, viele Kraftausdrücke.“
Ann-Kathrin Rothermel ist Politikwissenschaftlerin an der Universität
Potsdam und forscht zu antifeministischen Bewegungen im Internet, die sie
unter dem Begriff „Manosphere“ zusammenfasst. Die Manosphere sei ein
loser Zusammenschluss von Onlinegruppierungen auf verschiedenen Plattformen
und mit verschiedenen Zielgruppen. „Was sie alle vereint, ist eine
frauenfeindliche Ausrichtung“, sagt Rothermel, „die Manosphere hat eine
eigene Sprache mit sexistischen und misogynen Codes, um eine Community
aufzubauen und zu mobilisieren.“
## Selbsternannte Männerrechtsaktivisten
Laut der Wissenschaftlerin sei Tiktok als Plattform für diese Gruppen noch
kaum untersucht. Ihrer Einschätzung zufolge nutzen die Männer, die Frauen
wie Krämer auf Tiktok angreifen, die Strategien sogenannter MRAs,
selbsternannter „Männerrechtsaktivisten“, die es sich zur Aufgabe machen,
den Feminismus zu bekämpfen.
Auf Tiktok scheint es so zu funktionieren: Einzelne deutsche
Antifeminismus-Accounts haben sehr viele Follower. Manche davon bis zu
200.000. In ihren Videos passiert in der Regel nichts Verbotenes, das unter
das NetzDG fallen würde. Sie sagen in nüchternem Ton Sätze in die Kamera,
wie: „Es kann nicht sein, dass Leute hier auf Tiktok unter dem Deckmantel
Feminismus Männerhass verbreiten.“ In vielen ihrer Videos verlinken und
nennen sie die Namen feministischer Tiktokerinnen.
Das scheint eine unausgesprochene Aufforderung an die Follower zu sein:
Sofort werden die Tausenden kleinen Fan-Accounts aktiv und belagern die
Kommentarspalten der Frauen, beleidigen und bedrohen sie. Zwar löscht oder
sperrt Tiktok die einflussreichen „Anstifter“. Diese erstellen sich aber
neue Accounts, die in wenigen Tagen wieder Tausende Follower haben. Und
gerade die vielen kleinen Accounts gehen nicht einfach weg. Sie gruppieren
und organisieren sich ständig neu.
Ein Opfermythos sei das Kernstück der MRA-Philosophie, sagt Rothermel. Aus
der Sicht der „Männerrechtler“ sind nicht Frauen die Opfer einer männlich
dominierten Gesellschaft, sondern andersherum. Sie selbst sehen sich als
die Opfer einer feminisierten Welt. So werden verbale Angriffe auf Frauen
legitimiert – man wehre sich ja nur.
Die Strategie, die diese Männer auf Tiktok anwenden, nennt Rothermel
„evidence based misogyny“, belegbasierter Frauenhass: „Es werden Daten
herangezogen und uminterpretiert, um sich die eigene Welt zu belegen und
sich einen objektiveren Anstrich zu geben.“
Wenn Männerrechtler Kommentarspalten fluten, wollen sie jene, die nicht in
ihr Weltbild passen, zum Schweigen bringen – und das gelingt.
„Das fängt an, mich klein zu kriegen“, sagt Isabell Krämer. Die einzige
Lösung für sie: Die App nur noch selten öffnen, ihre Aufklärungsarbeit auf
Eis legen. Die anderen gewinnen lassen. Manchmal versucht Krämer, sich die
Leute vorzustellen, die sie im Internet verfolgen. Sie sieht pubertierende
Jungs, die im Keller ihrer Eltern irgendwo in Deutschland die Nacht
durchzocken. „Und nebenbei beleidigen sie mich, weil es ihnen Spaß macht.“
Gerade ist sie noch in einer Phase, in der das alles ziemlich beängstigend
wirkt. Aber Krämer schließt nicht aus, wieder mehr Feminismus auf Tiktok zu
erklären. Eines macht sie sich immer wieder bewusst: „Diese Leute hassen
dich für das, was du bist. Du kannst es ihnen nicht recht machen.“
2 May 2021
## AUTOREN
Emeli Glaser
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TikTok
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