| # taz.de -- Flucht aus Nigeria: Madam, bring me to Europe! | |
| > Benin City ist Nigerias Hotspot der Emigration nach Europa. Präsident | |
| > Buhari hat Alternativen zur Auswanderung auf die Agenda gesetzt. | |
| Bild: Europa ist das Ziel vieler in Nigeria – die Gefahen der Flucht werden a… | |
| Benin City taz | In Benin City hängen vor zahlreichen Einkaufszentren | |
| Werbeplakate für Sprachkurse: Italienisch, Deutsch, Spanisch, Französisch. | |
| Nirgendwo fallen sie so sehr auf wie hier in dieser Zweimillionenstadt, | |
| historisches Zentrum der Emigration. Nirgendwo sonst in Nigeria ist der | |
| Wunsch, nach Europa zu gehen, so stark wie hier. | |
| „In Europa gibt es Strom und Sicherheit“, gibt Roland Nwoha, der für die | |
| Nichtregierungsorganisation Idia Renaissance Rückkehrer betreut, die | |
| Haltung der Emigranten wieder. In keiner anderen Region Nigerias ist es so | |
| üblich, dass Freunde und Familienangehörige nach Europa aufbrechen. Wer | |
| Autos oder gar Lkws voller gebrauchter Kühlschränke und Waschmaschinen | |
| zurückschicken kann, gilt als erfolgreich. | |
| Das treibt andere an. Viele Familien sind schlichtweg stolz darauf, wenn es | |
| jemand in Europa geschafft hat und regelmäßig Geld zurückschickt. Welche | |
| Gefahren sie dafür auf sich genommen haben, hinterfragt niemand. Als das | |
| Auto mal wieder im Stau steht, ruft einer der kleinen Scheibenputzer, die | |
| für das Wischen der Autofenster ein paar Naira erwarten, den | |
| Scheibenwischer in der Hand: „Madam, bring me to Europe!“ | |
| [1][Nicht alle schaffen es.] Mitten in Benin City leben in der | |
| Notunterkunft der Hilfsorganisation Cusodow (Committee for the Support of | |
| the Dignity of Women) gerade zwei junge Mädchen mit ihren Babys. Sie sind | |
| Rückkehrerinnen aus Libyen, wo sie vergewaltigt wurden. Sie wissen nicht | |
| genau, wer die Väter ihrer Kinder sind. | |
| ## Bilder von Rettungsschiffen ändern nichts | |
| Nach dem Nachmittagsregen sitzen sie vor dem Eingang in der Sonne, die | |
| Kinder ihm Arm. Als eins anfängt zu weinen, wirkt die junge Mutter | |
| unbeholfen. Irgendwann beruhigt sich der Kleine wieder, und sie sagt: „Ich | |
| würde so gerne nach Europa gehen. Kannst du mich nicht dorthin bringen? Was | |
| soll ich schon in Nigeria machen?“ Sie grinst verlegen. | |
| 40 bis 70 Prozent der nigerianischen Libyen-Rückkehrer stammen Schätzungen | |
| zufolge aus dieser Region. Die Sehnsucht nach der Auswanderung ändert sich | |
| auch nicht, wenn die Bilder von den Rettungsschiffen im Mittelmeer über die | |
| Bildschirme in nigerianische Restaurants und Wohnzimmern flimmern. | |
| Wahrscheinlich haben die Nigerianer an Bord der Rettungsschiffe | |
| [2][„Aquarius“] und [3][„Lifeline“] hier Familie und Freunde und haben … | |
| mit Gelegenheitsjobs ihre Reisekosten in Richtung Norden angespart. | |
| Doch in der Öffentlichkeit erinnert daran nichts. Plakate werben für | |
| Kirchen, für Politiker – in sechs Monaten wird in Nigeria gewählt – und f… | |
| Schnaps. Aber keins warnt vor Menschenhändlern, die vom Migrationsbusiness | |
| profitieren und seit Jahrzehnten überwiegend junge Frauen aus Benin City | |
| nach Europa bringen und dort zur Prostitution zwingen. | |
| Dabei hat sich Gouverneur Godwin Obaseki, der seit November 2016 den | |
| Bundesstaat Edo regiert, auf die Fahnen geschrieben, den Menschenhandel zu | |
| bekämpfen. Er spricht das Thema offen an, auch mit Diplomaten und hohen | |
| Politikern wie Senatspräsident Bukola Saraki, der vor einiger Zeit zu | |
| Obaseki kam und lange blieb. | |
| ## Spezialeinheit gegen Menschenhandel | |
| Frühere Regierungen Nigerias sahen die Emigration nicht als Thema an, mit | |
| dem sie sich beschäftigen müssten. Die Regierung des 2015 gewählten | |
| Präsidenten Muhammadu Buhari hat es auf die politische Tagesordnung | |
| gesetzt. Dafür hat auch Europa gesorgt. Es sind eher internationale Sender | |
| als lokale Medien, die über Migration berichten, häufig aus der Perspektive | |
| des Nordens. | |
| In Benin City ließ Gouverneur Obaseki eine Spezialeinheit zum Kampf gegen | |
| Menschenhandel gründen. Sie feierte Mitte August ihr einjähriges Bestehen. | |
| Godwin Obaseki sei es ernst, beteuert Abieyuwa Oyemwense, die | |
| Geschäftsführerin der Spezialeinheit: „Es war dringend notwendig, die | |
| Einheit zu gründen. Die Zahl der irregulären Migration war immens. Der | |
| Gouverneur wollte den Trend beenden. Im Mai hat er das Gesetz gegen den | |
| Menschenhandel unterzeichnet.“ | |
| Ihr Büro liegt auf dem Gelände der Landesregierung, die großen Bäume | |
| erinnern mehr an einen Park. In unmittelbarer Nähe liegt der Golfplatz. Der | |
| Lärm der Innenstadt ist weit weg. Zusammen setzt sich die Einheit aus | |
| Mitarbeitern der Landesregierung, Vertretern der Nationalen Agentur zum | |
| Verbot von Menschenhandel, nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und | |
| religiösen Verbänden. | |
| In Schulen, Kirchen und Moscheen warnen ihre Mitarbeiter vor den Risiken | |
| der Migration ohne Papiere. Für Rückkehrer hat sie ein 20-stufiges | |
| Rehabilitationsprogramm eingeführt, an dem seit November rund 3.500 | |
| Menschen teilgenommen haben. Wer zurückkommt, soll über die meist | |
| traumatischen Erfahrungen der Reise sprechen können und Unterstützung bei | |
| der Berufswahl finden – bisherige Angebote einer Kurzausbildung als | |
| Frisörin oder Computerkurse halten junge Menschen kaum davon ab, einen | |
| erneuten Versuch zu wagen. | |
| ## Wieso Edo State? | |
| „Es wird ein sehr teures Projekt werden“, sagt Oyemwense über die Pläne | |
| ihrer Behörde. Wichtig sei Kapital für junge Unternehmer, die Arbeitsplätze | |
| schaffen sollen. Die Stärkung von Unternehmern und der Zugang zu Krediten | |
| gilt aktuell in zahlreichen Gesprächen als der womöglich wichtigste | |
| Baustein, um Migration einzudämmen. Soji Apampa, Geschäftsführer der | |
| Antikorruptionsorganisation Integrity, fordert noch etwas anderes: | |
| „Anstelle von Migranten sollten mehr Produkte nach Europa exportiert | |
| werden.“ | |
| Die Spezialeinheit will auch wissenschaftlich ermitteln, weshalb | |
| ausgerechnet aus Edo State so viele auswandern. „Es ist der Hotspot, aber | |
| warum? Wir sind weder in Nigeria noch in Westafrika der ärmste Staat oder | |
| der, wo die Menschen am stärksten benachteiligt sind“, so Oyemwense. Dann | |
| fügt sie hinzu: „Die Mehrheit verlässt die Region allerdings gar nicht. | |
| Viele, die besonders arm sind, würden das zwar gerne. Aber sie haben keine | |
| Möglichkeiten dazu.“ | |
| Auf die Frage, ob der Staat viel zu spät auf das Phänomen reagiere, sagt | |
| sie knapp: „Besser jetzt als gar nicht.“ Nun sei die Erkenntnis da, dass es | |
| sich um eine gravierende Herausforderung handle. | |
| Auf dem Europa-Afrika-Gipfel in der Elfenbeinküste im November äußerte sich | |
| Nigerias Präsident Buhari zu den Sklavenmärkten von Libyen, die die | |
| Weltöffentlichkeit erregten; im Juli ordnete er die sofortige Rückführung | |
| von 230 in Russland gestrandeten Nigerianern an. Offiziell heißt es, deren | |
| Reiseagentur habe nach Nigerias Aus in der Fußball-WM die Rückflüge | |
| abgesagt. Russland wird jedoch vermehrt zum Ziel für Menschenhändler. | |
| ## Erfolgsgeschichten erzhlt | |
| „Nigerianische Politiker kümmern sich mehr um Migration“, bestätigt Ketil | |
| Karlsen, Chef der EU-Delegation in Nigeria „Das heißt nicht unbedingt, dass | |
| Migration genauso wie in Europa gesehen wird. Migration sorgt außerdem | |
| nicht für das Zerbrechen einer Regierung.“ Und auch Wahlen sind damit nicht | |
| zu gewinnen oder zu verlieren. | |
| Das Sterben im Mittelmeer relativiert sich angesichts der Situation in | |
| Nigeria selbst. Bis zum 31. Mai gelangten nach Angaben des | |
| UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) 916 Nigerianer über das Mittelmeer nach | |
| Europa. Im gleichen Zeitraum, so das lokale Büro von Amnesty International, | |
| starben über 1.800 Personen durch Anschläge und gewaltsame Konflikte in | |
| Zentral- und Nordostnigeria. | |
| Vor Ort werden außerdem die Erfolgsgeschichten von jenen erzählt, die es | |
| schaffen und nach Jahren ohne Papiere eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. | |
| „Dazu tragen auch die Rücküberweisungen bei, die in einigen Teilen des | |
| Landes ein wesentlicher Teil der Wirtschaft sind“, sagt Karlsen. Laut | |
| Weltbank hat die nigerianische Diaspora vergangenes Jahr 22 Milliarden | |
| US-Dollar an Angehörige in der Heimat geschickt. | |
| ## Rapides Wachstum der Bevölkerung | |
| Karlsen verweist auf das rapide Bevölkerungswachstum in Nigeria, das heute | |
| 190 Millionen Einwohner hat – jedes Jahr werden es vier bis fünf Millionen | |
| mehr. „Wir haben den Zwang, jedes Jahr mehrere Millionen zusätzlicher Jobs | |
| zu schaffen. Es ist deshalb fundamental, mehr externe Investitionen zu | |
| haben.“ | |
| In Benin City setzt Abieyuwa Oyemwense auf Zusammenarbeit mit der EU. „Das | |
| ist nicht nur eine Angelegenheit von Edo. Das ist eine globale Krise. Wir | |
| erwarten 100 Prozent Unterstützung von Europa.“ | |
| 31 Aug 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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