| # taz.de -- Finanzpolitik unter Christian Lindner: Koalitionsvertrag ohne Preis… | |
| > Die Ampel wird sich ums Geld streiten, denn da bleibt das Bündnis vage. | |
| > Und FDP-Chef Lindner ist als Finanzminister eine komplette Fehlbesetzung. | |
| Bild: Vielleicht verzichtet Christian Lindner ja künftig auf rote Linien | |
| Wie lange hält die Ampel? Diese Frage beschäftigt nicht nur das Publikum, | |
| sondern auch die Koalitionäre. Der künftige Kanzler Scholz und FDP-Chef | |
| Lindner betonen stets, dass sie auf mehrere Amtszeiten zielen. Die Ampel | |
| soll kein Experiment sein, sondern eine strategische Option auf Dauer. | |
| Das ist vernünftig. In den nächsten Landtagswahlen würden die Ampelparteien | |
| abgestraft, wenn die Bundesregierung wie eine chaotische Notlösung wirkte. | |
| Bleibt nur ein Problem: [1][der Koalitionsvertrag]. Er wird für sehr viel | |
| Ampelärger sorgen, obwohl es zunächst so scheint, als würde er halten, was | |
| der Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verspricht. Unter anderem soll es mehr | |
| Ökostrom, mehr Bahn, mehr E-Autos, mehr Wohnungen, mehr Bafög und eine | |
| Grundsicherung für Kinder geben. | |
| Doch leider fehlen die Preisschilder. Nirgends wird erwähnt, wie viel die | |
| einzelnen Maßnahmen kosten sollen. Das muss noch ausgefochten werden. In | |
| Wahrheit hat sich die Ampel gar nicht auf ein endgültiges Programm geeinigt | |
| – sondern den Streit nur verschoben. Im Text stehen Ziele, aber keine Wege. | |
| Unklar ist auch, wo das nötige Geld herkommen soll. Natürlich finden sich | |
| Andeutungen im Text, aber sie sind zwischen den Zeilen versteckt und meist | |
| allein für Finanzexperten verständlich. Die Ampel verkündet permanent, dass | |
| sie miteinander „auf Augenhöhe“ regieren will, aber die WählerInnen sind | |
| von diesem Versprechen ausgeschlossen. | |
| Da Preisschilder fehlen, ist es einfach, Unwahrheiten zu verbreiten. Eine | |
| erste Kostprobe gab Lindner gleich beim Start ab, als er bei der | |
| Präsentation des Koalitionsvertrags seine Sicht darlegte: Ziel sei es, „die | |
| breite Mitte zu entlasten“. Das ist Unsinn. Die „Mitte“ kommt in dem Papi… | |
| nirgends vor und wird auch nicht profitieren. Stattdessen werden vor allem | |
| die Unternehmer entlastet, die ihre Steuerlast drücken können und damit | |
| Milliarden geschenkt bekommen. | |
| Für die Firmen gibt es 2022 und 2023 eine „Superabschreibung“, wenn sie in | |
| „Klimaschutz“ oder „digitale Wirtschaftsgüter“ investieren. Beide Begr… | |
| sind so dehnbar, dass es den Betrieben nicht schwerfallen wird, fast alle | |
| Anschaffungen abzusetzen. | |
| Die FDP hat also „geliefert“ und ihre Klientel bedient. Das Deutsche | |
| Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass [2][dieses Geschenk | |
| bis zu 40 Milliarden Euro kosten könnte]. | |
| Eine Gegenfinanzierung gibt es nicht. Die FDP hat Steuererhöhungen strikt | |
| ausgeschlossen und dies auch durchgesetzt. SPD und Grüne wollten eigentlich | |
| eine Vermögenssteuer von 1 Prozent einführen sowie die Spitzensätze bei der | |
| Einkommenssteuer erhöhen, um die unteren Schichten zu entlasten. Davon ist | |
| nichts übrig. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Steuererhöhungen | |
| sowieso unmöglich gewesen wären, weil der Bundesrat zustimmen muss – wo die | |
| Union eine Vetomacht hat. | |
| Wenn aber Steuererhöhungen von vornherein ausgeschlossen sind, ist es von | |
| Grünen und SPD erst recht fahrlässig, die Unternehmen mit | |
| Milliardengeschenken zu beglücken. Dieses Geld wird für andere | |
| Ampelprojekte schmerzhaft fehlen. Zunächst wirkt es kurios, dass die FDP | |
| ihre Klientel beschenkt, ohne eine Gegenfinanzierung zu bieten. Denn die | |
| Liberalen gerieren sich stets als Hüter der Schuldenbremse, die für eine | |
| schwarze Null sorgen. Als der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde, pries | |
| sich Lindner hemmungslos als „Anwalt solider Finanzen“. Das war die zweite | |
| Lüge. Der FDP sind ausgeglichene Haushalte egal, solange die Reichen | |
| beschenkt werden. | |
| Während also die Einnahmen durch Steuergeschenke sinken, sollen die | |
| Staatsausgaben deutlich steigen. Das geplante „Jahrzehnt der Investitionen“ | |
| (Scholz) wird nämlich sehr teuer, wie die Ampel selbst zugibt. Wo das Geld | |
| herkommt, wollte Grünen-Chef Habeck lieber nicht erläutern, als das Papier | |
| vorgestellt wurde. Knapp sagte er nur: „Wir wissen genau, wie wir es | |
| bezahlen.“ | |
| ## Unklare Finanzierung | |
| Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass die Ampel vor allem auf vier Tricks | |
| setzt, um die nötigen Milliarden herbeizuschaufeln. Erstens: Die | |
| Coronaschulden von derzeit 371 Milliarden Euro werden nicht bis 2042 | |
| getilgt, wie es die Schuldenbremse bisher vorsah. Stattdessen wird der | |
| Zeitraum bis 2058 gestreckt. Pro Jahr muss also deutlich weniger | |
| zurückgezahlt werden. | |
| Zweitens: Im Jahr 2021 wurden nicht alle Coronakredite aufgebraucht, sodass | |
| die restlichen Milliarden nun in einen „Klima- und Transaktionsfonds“ | |
| fließen. Nächstes Jahr soll dieser Trick wiederholt werden – indem die | |
| Ampel wegen der Pandemie auch für 2022 eine „außergewöhnliche Notsituation… | |
| ausruft. Diese Milliarden könnten dann erneut zum Teil in den Klimaschutz | |
| fließen. | |
| Drittens: Die Kriterien der Schuldenbremse werden verändert, damit der | |
| Staat auch im regulären Betrieb mehr Kredite aufnehmen kann. Die Details | |
| sind aber zu kompliziert, um sie hier zu erklären. | |
| Viertens: Es entstehen Schattenhaushalte. Nicht der Staat nimmt die Kredite | |
| auf, sondern öffentliche Unternehmen verschulden sich, um zu investieren. | |
| Ein gutes Beispiel ist die Deutsche Bahn: Bis 2030 soll sie doppelt so | |
| viele Personen befördern wie heute und nach einem „Deutschlandtakt“ fahren, | |
| was für die wichtigsten Verbindungen einen Zug pro halbe Stunde bedeutet. | |
| Gleichzeitig sollen mehr Städte einen ICE-Anschluss erhalten und diverse | |
| Strecken neu eröffnet werden. Diese Ziele sind alle richtig – und kosten | |
| Milliarden. Also soll sich die Bahn verschulden. | |
| Kredite sind auch nötig, um die geplanten 100.000 öffentlich geförderten | |
| Wohnungen pro Jahr zu bauen. Diese Schulden sollen unter anderem bei der | |
| Bundesanstalt für Immobilienaufgaben landen. | |
| ## Signal an die FDP-Basis | |
| Ähnlich dürfte es bei den Ladestationen für E-Autos laufen. Derzeit gibt es | |
| in Deutschland knapp 50.000 Ladesäulen, wie die Bundesnetzagentur meldet. | |
| Es werden aber eine Million davon gebraucht, wenn bis 2030 etwa 15 | |
| Millionen E-Autos auf den Straßen rollen sollen. Die nötigen Ladesäulen | |
| werden jedoch kaum privat entstehen, weil sich ein Henne-Ei-Problem ergibt: | |
| Ladesäulen lohnen sich nur, wenn dort E-Autos tanken. E-Autos werden aber | |
| nur gekauft, wenn die Ladesäulen schon existieren. Also dürfte mal wieder | |
| der Staat einspringen und Ladesäulen errichten – mit einem eigenen | |
| Unternehmen. | |
| Diese Schattenhaushalte machen viele Liberale nervös, die dem Staat | |
| misstrauen und eine Lizenz zum Gelddrucken wittern. Daher war es | |
| folgerichtig, dass Christian Lindner unbedingt Finanzminister werden | |
| wollte. Er muss seiner Basis signalisieren, dass er die Ausgaben | |
| kontrolliert. Schon vor der Wahl zog er „rote Linien“ und kündigte an, dass | |
| er „öfter Nein sagen“ werde, wenn SPD und Grüne mit ihren Wünschen komme… | |
| Konflikte sind also programmiert – zumal ja die Preisschilder fehlen. Als | |
| Finanzminister wäre ein leiser Stratege und Moderator gefragt, doch Lindner | |
| hat einen starken Geltungsdrang und neigt zum Autoritären. Außerdem ist er | |
| schnell gekränkt, wenn sein Image leidet. Die Persiflage [3][„Alle 11 | |
| Sekunden verliebt sich ein Liberaler in sich selbst“ des NDR-Satiremagazins | |
| Extra 3] war ja nur deswegen so lustig, weil sie absolut zutrifft. Dieses | |
| enorme Selbstbewusstsein ist aber nicht durch irgendeine | |
| Regierungserfahrung gestützt. Lindner war noch nie Minister. Damit diese | |
| fehlende Kompetenz nicht auffällt, dürfte er noch mehr „rote Linien“ | |
| ziehen. | |
| Für die Ampel ist es zudem eine Bürde, dass Lindner aus Nordrhein-Westfalen | |
| stammt. Denn die NRW-Liberalen haben allesamt den Eindruck, dass | |
| Koalitionen stets so funktionieren, wie sie es unter Armin Laschet erlebt | |
| haben, der ab 2017 in Düsseldorf regiert hat und dann 2021 als | |
| CDU-Kanzlerkandidat gescheitert ist. In NRW hatte Laschet kaum eigene | |
| Pläne, sondern machte gern, was die FDP vorschlug. Laschet wollte nicht so | |
| sehr regieren, sondern auch feiern. In der Sendung „Maischberger“ [4][hat | |
| er kürzlich erzählt], was er als Ministerpräsident so schön fand: „Man ist | |
| Regierungschef eines großen Landes, aber man ist auch Repräsentant dieses | |
| Landes, trifft sehr viele Menschen im Ehrenamt, hat viele festliche | |
| Ereignisse, wo der Ministerpräsident gefragt ist.“ | |
| ## Lindner macht sich angreifbar | |
| Laschets Gute-Laune-Programm hat bei der FDP den Eindruck hinterlassen, | |
| dass Regieren heißt, dass die Liberalen zu 100 Prozent bestimmen – obwohl | |
| sie bei der Bundestagswahl nur 11,5 Prozent erzielten. Dieses autoritäre | |
| Gehabe erzeugt bei vielen Wählern momentan den Eindruck, dass sich die | |
| Liberalen beim Ampelvertrag durchgesetzt hätten. | |
| Für die Liberalen kann es jedoch gefährlich werden, dass Lindner so | |
| unbedingt Finanzminister werden wollte. Das Amt ist heikel. Selbst [5][ein | |
| gewiefter Politiker wie Olaf Scholz] kam mehrfach in Bedrängnis, weil nicht | |
| zu überblicken ist, was in den nachgeordneten Behörden schiefläuft. | |
| Besonders krisenanfällig ist die Bankenaufsicht Bafin, die unter anderem | |
| [6][beim Wirecard-Skandal durchgängig gepennt hat]. Schwierig ist auch der | |
| Zoll, weil er nebenher für Schwarzarbeit und Geldwäsche zuständig ist. Die | |
| Steuerkriminalität ist ebenfalls ein Problem, über das ein Finanzminister | |
| eventuell stolpern kann. Es wirkt gewagt, dass sich Regierungsneuling | |
| Lindner dieses Amt zumutet. | |
| Für den neuen Finanzminister könnte auch gefährlich werden, dass er | |
| ausgerechnet Scholz beerbt, der das Haus fest im Griff hatte. Durch diese | |
| langjährigen Kontakte wird Scholz auch als Kanzler bestens informiert sein, | |
| was im Finanzministerium passiert – und was schiefläuft. Das macht Lindner | |
| angreifbar und erpressbar. | |
| Aber vielleicht lernt Lindner ja dazu und verzichtet künftig darauf, | |
| ständig rote Linien zu formulieren. Dann kann die Ampel halten. | |
| 29 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.tagesschau.de/koalitionsvertrag-147.pdf | |
| [2] https://www.diw.de/de/diw_01.c.828068.de/publikationen/diw_aktuell/2021_007… | |
| [3] https://www.facebook.com/extra3/posts/alle-11-minuten-verliebt-sich-ein-lib… | |
| [4] https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/videos/armin-laschet-… | |
| [5] /Deutschland-in-der-Coronakrise/!5812732 | |
| [6] /Insolvenz-von-Wirecard/!5695767 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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