| # taz.de -- Film über kolonialen Genozid: Für die Haustechnik ist Platz | |
| > Nächste Woche kommt der Film „Der vermessene Mensch“ in die deutschen | |
| > Kinos. Im Bundestag wurde er vorab präsentiert – mit einigen | |
| > Irritationen. | |
| Bild: Schauspielerin Girley Charlene Jazama auf der diesjährigen Berlinale | |
| Berlin taz | In den Gängen des Bundestags gerät Girley Charlene Jazama am | |
| Dienstagabend ins Stutzen. Die namibische Schauspielerin ist zum ersten Mal | |
| im deutschen Parlament und erhält bei der Gelegenheit eine Führung durch | |
| den Gebäudekomplex. Von der Kantine führt ein unterirdischer Flur in den | |
| Keller des Reichstags, an der Wand hängen Tafeln zur deutschen Geschichte, | |
| und hier stößt Jazama auf eine Lücke. | |
| „Steht da auch etwas zum Völkermord?“, fragt die Schauspielerin den | |
| Mitarbeiter der Grünen, der sie durch die Flure führt. „Schauen wir mal“, | |
| antwortet er. Das Grüppchen geht vorbei an der Tafel zur Märzrevolution, | |
| dann geht es weiter zur Reichsgründung, schnell folgt der Erste Weltkrieg | |
| und die Weimarer Republik. Kolonialzeit vorbei – und kein Wort zu | |
| Deutsch-Südwestafrika, zu den Herero oder den Nama. | |
| Nach „Drittem Reich“, Holocaust, Nachkriegszeit und Wiedervereinigung endet | |
| die Chronik. Der nächste Flur ist mit Fotografien von Rohren und Kabeln | |
| geschmückt. „Was ist das denn?“, fragt Jazama. „Die Haustechnik“, antw… | |
| der Grüne. „Dafür ist also Platz …“, murmelt die Schauspielerin. | |
| Das passt ins Bild: Der [1][Völkermord an den Herero und Nama] ist in | |
| Deutschland eine Leerstelle. Zwischen 1904 und 1908 töteten deutsche | |
| Soldaten auf dem Gebiet des heutigen Namibia Zehntausende Angehörige der | |
| beiden Völker. Die Vernichtung rechtfertigten sie mit vorangegangen | |
| Aufständen gegen die deutsche Kolonialmacht. Der Massenmord gilt als erster | |
| Genozid des 20. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren erhält er in | |
| Feuilletondebatten und postkolonialen Kreisen zwar vermehrte | |
| Aufmerksamkeit, außerhalb dessen ist er aber selten Thema. | |
| ## Der erste Film, der vom Völkermord handelt | |
| Der Film „Der vermessene Mensch“, der nächste Woche in die Kinos kommt, | |
| könnte daran etwas ändern. Die deutsche Produktion ist der erste Spielfilm | |
| überhaupt, der von dem Völkermord handelt. In den 1970ern war es die | |
| TV-Serie „Holocaust“, die den Deutschen jenseits von Dokus erstmals Bilder | |
| und eine eingängige Geschichte über den Genozid an den Juden lieferte – und | |
| damit eine ganz neue gesellschaftliche Diskussion auslöste. „Der vermessene | |
| Mensch“ soll dereinst auch im ZDF gesendet werden. Wenn es gut läuft, kann | |
| der Film vielleicht Annäherndes leisten. | |
| Zunächst einmal hat er aber die Schauspielerin Jazama in den Bundestag | |
| geführt. Die Namibierin, selbst eine Herero, spielt im Film in der | |
| wichtigsten Nebenrolle eines der Genozidopfer. Auf Einladung der | |
| Grünen-Fraktion, die den Film vor geladenen Gästen vorab zeigt und | |
| diskutieren lässt, ist sie am Dienstag im Parlament zu Gast. | |
| Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass der Völkermord hier Thema ist. | |
| 1904 benötigte die deutsche Regierung Geld, um zusätzliche Soldaten in den | |
| Vernichtungskrieg zu schicken. Der Reichstag diskutierte über die | |
| Mittelfreigabe und stimmte schließlich zu. Zwei Jahre später verweigerte | |
| die Mehrheit der Abgeordneten dann weiteres Geld, woraufhin der | |
| Reichskanzler das Parlament auflösen ließ. Für die Geschichtstafeln der | |
| Bundestagsflure gäbe es also genügend Stoff. | |
| Der Film könnte es schaffen, „dass wir hier eine ernsthafte Debatte darüber | |
| kriegen, was dort vor 120 Jahren passiert ist“, sagt die Grüne Katja Keul | |
| am Dienstag während der Podiumsdiskussion, die sich an die Filmvorführung | |
| anschließt – und formuliert damit den großen Konsens der Veranstaltung. | |
| Keul ist von Berufs wegen mit dem Thema befasst: Seit dem Regierungswechsel | |
| ist die Abgeordnete als Staatsministerin im Auswärtigen Amt für Afrika | |
| zuständig. In ihren Bereich fällt auch eine geplante Versöhnungserklärung. | |
| ## Nicht mehr komplett ignorant | |
| Zumindest deutsche Bundesregierungen sind dem Thema gegenüber schon seit | |
| einiger Zeit nicht mehr komplett ignorant. Ein fertiges Abkommen liegt seit | |
| zwei Jahren vor. Es sieht unter anderem eine förmliche Entschuldigung durch | |
| den Bundespräsidenten und Entwicklungshilfe in Höhe von 1,1 Milliarden Euro | |
| über 30 Jahre vor. Ratifiziert ist es aber bisher in keinem der beiden | |
| Länder. Das Problem in Kurzform: Die Bundesregierung hat das Papier | |
| vornehmlich mit der namibischen Regierung verhandelt. In ihr sind die | |
| Opfergruppen aber nur zum Teil repräsentiert und einige Vertreter der | |
| Herero und der Nama sind mit dem Ergebnis nicht zufrieden. | |
| Aus Sicht der Bundesregierung ist das eine innernamibische Angelegenheit, | |
| die dort geklärt werden muss. Keul kann zwar wie zuletzt im Dezember in | |
| Namibia Gespräche führen, im Grunde hängt sie aber in der Luft. „Durch die | |
| Frage der Erklärung sollten wir nicht zu sehr einengen“, sagt sie nun in | |
| Berlin. Zur Anerkennung des Unrechts ließe sich auch jenseits des Abkommens | |
| einiges machen. Startet der Film in Deutschland tatsächlich die erhoffte | |
| Debatte – Keul könnte es in Namibia als Zwischenerfolg präsentieren. | |
| Die Hoffnung, den Genozid als Thema zu setzen, gilt allerdings nicht nur | |
| für Deutschland. Das Panel macht deutlich: Auch wenn die Auswirkungen des | |
| Völkermords in Namibia bis heute offenkundig sind, ist er dort explizit | |
| ebenfalls selten Thema. Einen Film zu den deutschen Verbrechen gab es auch | |
| dort noch nie, was wohl an einem Bündel an Gründen liegt: der schwachen | |
| eigenen Filmindustrie, dem Desinteresse der Gesamtbevölkerung und der | |
| Verdrängung eigener Traumata. | |
| So erzählt die Schauspielerin Jazama, dass sie sich erst durch ihre | |
| Filmrolle intensiv mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt habe. | |
| Erst da habe sie von einer Tante erfahren, dass eine ihrer Ahninnen in | |
| einem Konzentrationslager saß, von einem deutschen Offizier vergewaltigt | |
| und schwanger wurde. „Ich habe realisiert, dass ich das Nebenprodukt einer | |
| Vergewaltigung bin“, sagt sie. „Meine Vorfahren hatten nie die Gelegenheit, | |
| darüber zu sprechen. | |
| ## Der Fokus liegt auf den Tätern | |
| Eine Geschichte der Opfer zeigt der Film allerdings auch nicht. Der Fokus | |
| liegt auf den Tätern. Die Hauptfigur ist ein junger deutscher Ethnologe, | |
| der sich selbst schuldig macht. | |
| Er habe sich bewusst für diese Story entschieden, sagt Regisseur Lars | |
| Kraume – und zeigt dann, dass er [2][die Schlagworte der Critical | |
| Whiteness] draufhat: Natürlich sollten Spielfilme über die Opfer folgen. | |
| Hätte er aber einen solchen Film gedreht, wäre das kulturelle Aneignung | |
| gewesen: Die Opfergeschichten müssten namibische Filmschaffende erzählen. | |
| Er wollte sie ihnen nicht wegnehmen. | |
| Trotzdem erhält der Regisseur am Dienstag aus dem Publikum zum Teil massive | |
| Kritik für die Entscheidung, sowohl von Schwarzen deutschen Filmschaffenden | |
| als auch von einer weißen Filmwissenschaftlerin. Die Vorwürfe: Er | |
| reproduziere im Film Rassismus, erzeuge Empathie für einen Täter, erzähle | |
| eine White-Savior-Geschichte. Und: Die strukturelle Benachteiligung von | |
| Schwarzen im deutschen Filmwesen habe er fortgesetzt, indem er – abgesehen | |
| von namibischen Beteiligten – nur weiße Deutsche auf entscheidende Stellen | |
| seines Teams gesetzt habe. | |
| Girley Jazama, die Schauspielerin, sagt an dieser Stelle des Panels nichts | |
| mehr. Am nächsten Tag postet sie auf Instagram aber ein Foto von sich und | |
| dem Regisseur in Berlin. „With my cool director Lars Kraume“, schreibt sie | |
| in die Beschreibung. | |
| 15 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
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