# taz.de -- Fachkräftemangel in Deutschland: Jenseits von Europa | |
> Ein gemeinnütziges Projekt vermittelt afrikanische | |
> Programmierer:innen, die von Ghana und Ruanda aus arbeiten. Ein | |
> Modell für die Zukunft? | |
Bild: Tharcissie Idufashe beherrscht fünf Programmiersprachen | |
KIGALI UND KÖLN taz | Es gibt Firmen, bei denen verstehen Laien auf Anhieb | |
kaum, was sie genau tun – ohne deren Arbeit aber die digitale Infrastruktur | |
im 21. Jahrhundert nicht funktionieren würde. Die Nexum AG ist so eine: Sie | |
bezeichnet sich als Digitalagentur, man könnte sie auch | |
Technologieberatungsfirma nennen. Eines der wichtigsten Geschäftsfelder von | |
Nexum besteht darin, Salesforce, eine weit verbreitete | |
Unternehmenssoftware, für Onlinehändler und Industrieunternehmen spezifisch | |
anzupassen. | |
250 Angestellte arbeiten bei Nexum, in Büros in Deutschland, der Schweiz | |
und Spanien, für Kunden wie den Lufthansa-Shop oder Mustang Jeans. Genug | |
sind das nicht. „Wir suchen händeringend Leute“, sagt Vorstand Georg Kühl. | |
39 Stellen sind derzeit auf der Website ausgeschrieben, im nächsten Jahr | |
will er 70 Mitarbeiter:innen einstellen. Doch die muss er erst mal | |
finden. | |
„Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus“, [1][warnte im August die | |
Bundesagentur für Arbeit]. 1,2 Millionen Arbeitskräfte werden derzeit in | |
Deutschland gesucht. Dabei wird es nicht bleiben. Die Geburtenrate ist | |
schon länger niedrig, die Zahl der Menschen im Erwerbsalter nimmt in diesem | |
Jahr um fast 150.000 ab, in den kommenden Jahren werde es noch „viel | |
dramatischer“, so die Bundesagentur. [2][IT zählt zu den Branchen, die von | |
dem Problem besonders geplagt sind.] | |
Und so sind bei der Nexum AG allein sechs Leute mit der Suche nach neuen | |
Mitarbeiter:innen beschäftigt. „Um überhaupt ansatzweise den Bedarf zu | |
decken, muss man strategischer und weiter denken“, sagt Georg Kühl. Nexum | |
ist deshalb mit Bildungsträgern und Hochschulen Kooperationen eingegangen, | |
innerhalb deren Studierende im Unternehmen arbeiten. 2019 eröffnete die | |
Firma in Valencia einen Standort. „Eine Zeit lang gab es viele junge | |
spanische ITler, die nach Deutschland kamen. Die wollen gern zurück. Und so | |
stellen wir sie dann da ein.“ | |
Doch auch Spanien bietet nicht genug Arbeitskräfte. In Afrika sieht das | |
schon anders aus. Jedes Jahr verlassen rund 2,2 Millionen | |
Afrikaner:innen die Universitäten des Kontinents mit einem IT- oder | |
Technik-Abschluss. Diesen Umstand nutzt das Unternehmen AmaliTech. Dessen | |
Dienstleistung: afrikanische Programmierer:innen als | |
Tele-Arbeitskräfte vermitteln. „Es war für uns klar: Das ist die nächste | |
logische Konsequenz“, sagt Georg Kühl. Im November 2020 startete die | |
Kooperation, heute arbeiten in Takoradi in Ghana 25 | |
Programmierer:innen für Nexum. | |
Seinen deutschen Sitz hat AmaliTech in einem historischen Fabrikgebäude im | |
Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Gründer Martin Hecker hat eine lange Karriere | |
in der Beraterbranche hinter sich. Mitte der 1990er Jahre heuerte er beim | |
Branchenriesen Boston Consulting Group (BCG) an. Er arbeitete in dessen | |
Büros in New York und San Francisco und leitete die Abteilung für | |
„Technology Advantage“, eine Art firmeninternen Thinktank für | |
Digitalisierung. 2016 begann er dort sein letztes Projekt. „Ich wollte für | |
die Zeit nach meinem Ausstieg etwas aufbauen“, sagt Hecker. Und dafür | |
afrikanische IT-Absolvent:innen mit Unternehmen in Europa zusammenbringen. | |
„Eine Outsourcing-Firma, mit richtigen Leistungsverträgen, keine bloße | |
Arbeitsvermittlung.“ | |
Hecker gründete ein Projektteam – pro bono, gemeinnützig. Dass dafür ein | |
eigenes Förderprogramm der Bundesregierung in Aussicht stand – „davon | |
wusste ich damals noch wirklich null“, sagt Hecker. Aber er wusste, wie man | |
IT-Firmen aufbaut. Martin Hecker wollte in jenen afrikanischen Ländern | |
aktiv sein, die die großen Techkonzerne links liegen lassen. In die großen | |
Schwellenökonomien wie Ägypten, Südafrika, Nigeria oder auch Kenia, „da | |
gehen IBM, Google und die anderen hin, das muss ich dann nicht auch noch | |
machen“. Er nahm kleinere Länder in den Blick, um auch dort „Perspektiven | |
zu schaffen“, wie er sagt. | |
Heckers Projektteam legte „einen Filter über die Daten aller Länder | |
Afrikas“. Das Ergebnis: Ghana in West- und Ruanda in Ostafrika – dort | |
ließen sich seine Ideen am besten verwirklichen. In beiden Ländern wächst | |
die Wirtschaft schnell, es gibt gutes Internet, viele Uni-Absolvent:innen | |
und vergleichsweise stabile politische Verhältnisse. | |
Seit Jahren drängen Wirtschaftsverbände hierzulande wegen des | |
Fachkräftemangels auf mehr Migration. Doch die politischen Widerstände | |
dagegen sind groß, die Hürden für ein Arbeitsvisum weiter sehr hoch. Nicht | |
nur deshalb gehen viele gut Ausgebildete lieber in englischsprachige | |
Länder. Kanada, die USA oder Australien sind laut dem jüngsten Global | |
Talent Survey als Zielland beliebter als Deutschland. | |
Hilft da die Anwerbung von Telearbeiter:innen, um freie Stellen zu | |
besetzen? Kann sie ein Weg sein, Migration für Menschen zu ersetzen, die | |
lieber in ihrem Herkunftsland bleiben wollen? Digitalisierte Telearbeit, | |
etwa in Callcentern, outgesourct in Länder wie Indien zu deutlich | |
geringeren Löhnen – das gibt es schon länger. IT-Fachleute hingegen sind so | |
gefragt, dass sie mit besseren Bedingungen rechnen können. Doch wie gerecht | |
ist es, dass das globale Lohngefälle für gleiche Arbeit bei solchen | |
Arbeitsmodellen zumindest in Teilen erhalten bleibt? | |
Hecker feilte drei Jahre an seiner Idee. 2019 gründete er AmaliTech, als | |
gemeinnützige Non-Profit-GmbH. Im Oktober des gleichen Jahres startete das | |
erste Ausbildungsprogramm in Ghana. Hecker stellte seine Tochter als | |
Marketingbeauftragte ein, und als er 2020 bei der Boston Consulting Group | |
ausstieg, nahm er AmaliTech mit. | |
Im Oktober 2021 kam Ruandas Hauptstadt Kigali als zweiter Standort hinzu. | |
Die Räumlichkeiten dort liegen in einem Bau in der 114. Straße, im Westen | |
Kigalis, nicht weit vom Universitätscampus entfernt. Seit Oktober leitet | |
Roger Uwayezu, 27 Jahre, dünn und hoch aufgeschossen, hier das | |
Trainingsprogramm von AmaliTech. Als er 1994 in Kigali geboren wurde, litt | |
das Land unter einem der schlimmsten Kriege des Kontinents. Später | |
stabilisierte der autoritär regierende Präsident Paul Kagame das Land. Ein | |
stetiger wirtschaftlicher Aufschwung setzte ein, das Land wird oft „Schweiz | |
Afrikas“ genannt. Seit 2017 ist Ruanda Teil eines von Deutschland | |
initiierten Förderprogramms im Rahmen der G20 namens „Compact with Africa“. | |
Dessen Ziel: Arbeitsplätze schaffen und so den Migrationsdruck Richtung | |
Europa reduzieren. | |
Roger Uwayezu war einer der ersten Studierenden am Kepler Campus in Kigali, | |
einem von der schwedischen Ikea-Stiftung finanzierten Projekt. Afrikanische | |
Studierende können dort den Abschluss einer privaten Non-Profit-Universität | |
aus den USA erwerben. Danach arbeitete Uwayezu als Trainer in einem Projekt | |
für weibliche Software-Entwicklerinnen. „Es war sehr ähnlich wie das, was | |
wir heute hier machen.“ Uwayezu selbst war noch nie in Europa. „Die | |
einzigen Länder, die ich kenne, sind Uganda und Kenia.“ Deutschland sei „in | |
Bezug auf die Technologie sehr fortschrittlich“, glaubt er. Viel wisse er | |
aber nicht über Deutschland. | |
Ab dem Spätsommer 2021 konnten Interessent:innen sich für den ersten | |
Durchlauf melden. Uwayezu bekam 122 Bewerbungen, 15 Kandidat:innen | |
kamen durch. Im Dezember sollen weitere 15 hinzukommen. Am 4. Oktober | |
begann das erste Trainingsprogramm. „Die meisten werden für ein | |
europäisches Unternehmen arbeiten“, sagt Uwayezu. | |
Eine von ihnen ist Tharcissie Idufashe. Sie ist 25 Jahre alt, beherrscht | |
fünf Programmiersprachen, das lockige Haar hat sie kurz geschnitten, sie | |
trägt eine rote Brille. Vier Jahre studierte sie in Kigali Informatik, bis | |
heute wohnt sie bei ihren Eltern in einem Einfamilienhaus im Bezirk | |
Kicukiro und lebt vom Taschengeld, das ihre Eltern ihr zahlen. Die Familie | |
ist Teil einer wachsenden afrikanischen Mittelschicht, in der Familien | |
selten mehr als zwei Kinder haben, diese dafür auf eine Universität | |
schicken können – und die im Afrika-Bild im Norden der Welt kaum auftaucht. | |
Mit dem Programmieren hat Idufashe schon in der Schule begonnen, später | |
besuchte sie die Akademie, an der Uwayezu beschäftigt war. Sie hat ein | |
Linked-In-Profil, einen Masterabschluss, vernetzt sich mit | |
Programmierer:innen in anderen Teilen der Welt in | |
Tech-Social-Media-Foren. Bevor sie zu AmaliTech kam, war sie Praktikantin | |
bei einem Unternehmen, das Tastaturen für verschiedene afrikanische | |
Sprachen entwickelt. | |
Idufashe ist Teil einer Generation, die davon profitiert, dass die | |
Volkswirtschaften keines anderen Kontinents so schnell wachsen wie jene | |
Afrikas. Ruanda hat sie noch nie verlassen. Über Deutschland sagt sie: „Ich | |
kenne den Fußball, ich kenne das Bier und die Würste, ich kenne auch den | |
Schwarzwald.“ Was Afrikaner:innen auf dem Weg dorthin geschieht, davon | |
hat sie schon vieles gehört. „Jeder hat seine eigenen Gründe“, sagt sie. | |
Aber: „Woher wissen sie, dass sie das, was sie wollen, in Europa auch | |
bekommen?“ | |
Es ist die Haltung vergleichsweise wohlhabender Afrikaner:innen, für die | |
eine Auswanderung keine zwingende Notwendigkeit ist, das eigene Überleben | |
zu sichern. „Illegal dort zu leben ist ein Problem. Du wirst auf der Flucht | |
sein und die Leute werden dich jeden Tag verfolgen.“ | |
So sieht Idufashe ihre eigene Zukunft eher in Afrika. Dass sie dort als | |
Frau auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt wird, glaubt sie nicht. „Ich kann | |
sagen, dass ich alles, was ein Mann kann, auch kann.“ Letztlich sei aber | |
ihr Ziel, sich selbständig zu machen, mit einer eigenen Softwarefirma: „Ich | |
würde gerne für mich selbst arbeiten, anstatt für andere.“ Die | |
Voraussetzungen dafür seien in Ruanda gut – „vor allem wegen des | |
Glasfasernetzes, das die ruandische Regierung verlegt hat. Im ganzen Land | |
investiert die Regierung stark in die Technologie, jedes Jahr werden viele | |
IT-Schulen eröffnet.“ In zehn Jahren wolle sie „ein eigenes Codesystem | |
erstellen, ohne auf die Arbeit anderer zu verweisen.“ | |
Doch erstmal wird sie ausführen, was andere vordenken. Nach dem Training | |
werden Idufashe und die anderen Teilnehmer:innen bei AmaliTech | |
angestellt. Sie arbeiten in Projektteams für deutsche Softwarefirmen, die | |
Martin Hecker als Kunden anwirbt – wie die Nexum AG von Georg Kühl. | |
Schon vor Jahren hätten Kollegen aus Marokko ihm berichtet, dass viele | |
französische Unternehmen in Nordafrika große Technik-Hubs aufbauen, sagt | |
Kühl. „Mit Französisch konnten wir uns das aber nicht vorstellen.“ Andere | |
Softwarefirmen hätten ähnliche Modelle in Vietnam oder Indien, Kühl hält | |
die erhebliche Zeitdifferenz für ein Problem. Afrikanische Länder wie Ghana | |
und Ruanda hätten da gleich mehrere Vorteile: „Die fast gleiche Zeitzone, | |
politisch stabile Verhältnisse, exzellente Ausbildungsmöglichkeiten“, und | |
eben die englische Sprache. | |
Bei einem Besuch in Ghana im Herbst 2020 sei festgelegt worden, welche | |
Arbeiten für die Kooperation von Nexum und AmaliTech genau in Frage kommen. | |
„Wir haben Bereiche gesucht, in denen wir gut online schulen können“, sagt | |
Kühl. Wie funktioniert die Zusammenarbeit über solche Entfernungen, mit so | |
unterschiedlichen kulturellen Hintergründen? Die Teams arbeiten nach einem | |
Modell namens Scrum, einem in Japan entstandenen Projektmanagement-Konzept | |
für kleine Entwicklergruppen. Das ermögliche „integratives, schnelles | |
Zusammenarbeiten“, sagt Hecker dazu. „Es war natürlich herausfordernd, aber | |
wir sind total happy damit“, sagt Kühl. | |
In Ghana und Ruanda liegt der Monatslohn für IT-Fachkräfte mit bis zu fünf | |
Jahren Berufserfahrung laut Hecker bei umgerechnet 700 bis 1.000 Euro. | |
„Beim Einstieg sind wir mit unseren Löhnen in dem Bereich, dann kommen wir | |
drüber.“ Dies seien „Marktpreise“, so Hecker. Lokale, wohlgemerkt. Bei d… | |
lokalen Lebenshaltungskosten ist es kein schlechtes Einkommen. Gleichzeitig | |
ist es deutlich weniger als IT-Absolvent:innen in Deutschland kosten. | |
Florian Haggenmiller, der bei Verdi die Fachgruppen Telekommunikation und | |
Informationstechnologie leitet, schätzt das Einstiegsjahresgehalt | |
hierzulande auf circa 30.000 Euro. | |
Wie viel trägt dieser erhebliche Lohnunterschied zu Kühls Happiness bei? | |
Kosten seien „logischerweise immer ein Faktor“, sagt der. Viel wichtiger | |
aber sei die Frage: „Bekomme ich überhaupt noch wen?“ Wie viel genau Nexum | |
mit den AmaliTech-Programmier:innen gegenüber den Kosten für vergleichbare | |
deutsche IT-ler spart, lasse sich nicht genau beziffern, sagt Kühl. „Es ist | |
sicherlich günstiger als in Europa.“ Er verweist darauf, dass Nexum | |
„bewusst Arbeitsplätze vor Ort schafft, das hat in der Entwicklungshilfe ja | |
leider jahrelang nicht so funktioniert.“ Die Beschäftigten hätten | |
„Arbeitsverträge und Karrierechancen“. | |
Hinzu komme noch etwas: Junge Mitarbeiter:innen, die Nexum in Europa | |
einstelle, „kommen nicht wegen des Mammons“, sagt Kühl. „Die interessiert | |
immer mehr: Wie stiftet man Nutzen?“ Arbeitsplätze in Afrika zu schaffen | |
sei ein solcher Nutzen. | |
„Grundsätzlich sehen wir das so, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt | |
werden muss, egal wo. Das erwarten wir von Unternehmen“, sagt der | |
Gewerkschafter Haggenmiller dazu. Es gebe im Software-Bereich ganz | |
unterschiedliche Modelle mit geografisch verteilten Beschäftigten und teils | |
sehr unterschiedlichen Konditionen. Dass AmaliTech überhaupt | |
Arbeitsverträge abschließe und Löhne über dem lokalen Niveau zahle, sei | |
„als Rahmenbedingung aber erstmal ganz gut“. In jedem Fall aber empfiehlt | |
er Beschäftigten in global vernetzten Teams, sich gemeinsam | |
gewerkschaftlich zu organisieren. „Das ist mittlerweile durchaus auch | |
international möglich.“ | |
Die Kunden wie Nexum zahlen für die Dienstleistungen von AmaliTech, welche | |
als gGmbH keine Gewinne macht. Die Einnahmen fließen in die Gehälter der | |
afrikanischen Programmier:innen und in die Kosten für die | |
Trainingsprogramme. Die werden zusätzlich vom Bundesministerium für | |
wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert. Denn Jobs schaffen in Afrika, | |
nicht nur, aber auch um irreguläre Migration einzudämmen – das war eines | |
der liebsten Themen des gerade aus dem Amt geschiedenen | |
CSU-Entwicklungsministers Gerd Müller. 2016 hatte der einen „Marshallplan | |
für Afrika“ präsentiert. Ein Teil dieses Plans ist die „Sonderinitiative | |
Ausbildung und Beschäftigung“, die wiederum den Verein Digital Skills | |
Accelerator Africa e.V. finanziert. AmaliTech ist deren Gründungsmitglied. | |
Das Geld fließt über die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. | |
Wie viel es genau ist, will Hecker nicht sagen. | |
Heckers Ex-Arbeitgeber BCG hat den Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland | |
für den IT-Bereich ausgelotet. Demzufolge fehlen heute 87.000 Fachkräfte. | |
Die Zahl werde sich „jedes Jahr erhöhen“ und könnte 2030 auf mehr als eine | |
Million fehlende Spezialist:innen im digitalen Sektor angewachsen sein. | |
Der Gewerkschafter Haggenmiller hält dieses Problem zum Teil für | |
hausgemacht. „Wir haben hier durchaus junge Fachkräfte auf dem Markt, die | |
möglicherweise gewisse Weiterqualifizierung brauchen“, sagt er. „Da tun aus | |
unserer Sicht die IT-Unternehmen zu wenig, um diese Qualifizierung hier | |
anzubieten oder auch selbst auszubilden. Das müsste eine viel größere Rolle | |
spielen.“ | |
Qualifizierung will aber auch Roger Uwayezu, der AmaliTech-Trainingsleiter, | |
anbieten. Er sagt: „Hier gibt es eine Menge Arbeiter, die keine Arbeit | |
haben.“ Deren Talente wolle man entwickeln und gleichzeitig Arbeitsplätze | |
für sie schaffen. Das helfe langfristig auch dem Tech-Sektor in Ruanda, | |
glaubt Uwayezu. „Wenn sie mit großen Unternehmen in Europa | |
zusammenarbeiten, werden sie dabei viele Dinge lernen.“ | |
Die IT-Curricula an den Universitäten in Afrika und Europa seien „sehr | |
ähnlich“, sagt AmaliTech-Gründer Hecker. Was den Studierenden in Afrika | |
fehle, seien praktische Übungen. „Das ist das Wichtigste, was wir im | |
Trainingsprogramm tun: Die Anwendung des Theoriewissens im konkreten | |
Projekt.“ Die Trainees entwickelten eigene Software-Anwendungen und | |
lernten, wie sie diese bei den Kunden präsentieren. „Softskills“, sagt | |
Hecker. | |
Das kostenlose Training dauert sechs Monate, in dieser Zeit gibt es keine | |
reguläre Entlohnung – nur „Mittagessen“. „Menschen bewerben sich auf a… | |
Mögliche“, sagt Martin Hecker, „wir müssen verhindern, dass viele nur | |
hingehen, weil sie ein bisschen Geld verdienen können“. Doch wer die | |
Ausbildung schaffe, der „kriegt auf jeden Fall ein Jobangebot“. Die | |
Teilnehmer:innen müssten während der Zeit Tests ablegen. „Wer gut ist | |
oder bedürftig, kriegt ein Stipendium.“ Am Standort Accra liege dessen Höhe | |
bei umgerechnet 80 Euro im Monat. | |
Laptop und Bildschirm werden gestellt, über das Mobilfunknetz können die | |
Teilnehmer:innen von zu Hause arbeiten. „Für Videobearbeitung würde das | |
nicht gehen, aber für Daten kommt man gut zurecht.“ In Ghana haben gleich | |
zwei Internet-Konzerne Glasfaserkabel verlegt. Schnelleres Netz gibt es in | |
Berlin auch nicht. Bei Übernahme zahlt AmaliTech – lokale – | |
Sozialleistungen und Krankenversicherung. „Viele Teilnehmer:innen haben | |
zum ersten mal feste Jobs“, sagt Hecker. Die Pandemie dürfte seinem Konzept | |
Auftrieb verliehen haben. Telearbeit hat seit Beginn der Coronakrise einen | |
ganz neuen Stellenwert erfahren. | |
AmaliTech ist so angelegt, dass die Absolvent:innen in Afrika bleiben. | |
Doch wenn längere Arbeitsbeziehungen entstehen, sollen sich die | |
Teammitglieder auch persönlich kennenlernen. „Die ersten waren schon zu | |
Besuch da“, sagt Hecker. „Wir wollten mit unserem Team im Februar nach | |
Ghana runterfahren“, sagt Nexum-Manager Kühl. „Aber wegen Corona ist das | |
nun etwas schwierig.“ | |
Telearbeiter:innen mit geringeren Löhnen aus Afrika, um deutschen | |
Fachkräftemagel zu lösen, ohne Migranten ins Land zu lassen – man kann dies | |
als Konzept sehen, das es der Wirtschaft und den konservativen Betonköpfen, | |
die von ihrer „Kein Einwanderungsland“-Lebenslüge nicht loskommen wollen, | |
gleichermaßen recht macht. Doch ein solcher Blick hält fest an der | |
Vorstellung, dass es nichts Erstrebenswerteres geben kann, als im reichen | |
Europa zu leben. Ein Irrtum. Tatsächlich gibt es viele Afrikaner:innen | |
wie Tharcissie Idufashe, die sich eine Auswanderung zwar vorstellen können, | |
aber lieber im eigenen Land bleiben wollen, nahe bei Familie und | |
Freund:innen, wenn sich ihnen dort wirtschaftliche Möglichkeiten bieten. | |
Wer also will was von wem? Die Antwort auf diese Frage wird sich in den | |
kommenden Jahren verschieben. | |
Denn die lokalen Perspektiven bieten sich zunehmend, zumindest für gut | |
Ausgebildete in Afrika: Die fünf am schnellsten wachsenden | |
Volkswirtschaften der Welt liegen in Afrika. Von 2015 bis 2020 stieg die | |
Zahl der afrikanischen Tech-Start-ups, die Risikokapital als Aufbauhilfen | |
bekamen, jedes Jahr um durchschnittlich 46 Prozent – etwa sechsmal | |
schneller als der weltweite Durchschnitt. Alle diese Firmen brauchen | |
Arbeitskräfte. Anfang Oktober kündigte Google eine Milliardeninvestition in | |
Afrika an, unter anderem ein Labor für künstliche Intelligenz in Ghana. | |
Facebook eröffnet Rechenzentren in Lagos in Nigeria und will den gesamten | |
Kontinent mit 37.000 Kilometer langen Unterwasser-Internetkabeln vernetzen. | |
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch in Afrika junge IT-Fachleute | |
nicht hoffen müssen, dass sie einen Job bekommen, sondern wählen können, | |
welchen sie nehmen. | |
Das könnte für Deutschland zum Problem werden. Schon 2001 legte die vom | |
damaligen SPD-Innenminister Otto Schily eingesetzte „Unabhängige Kommission | |
Zuwanderung“, besser bekannt als „Süssmuth-Kommission“, einen | |
Empfehlungskatalog vor. Mindestens 50.000 Menschen pro Jahr sollten als | |
Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, um die Zahl der Menschen in | |
arbeitsfähigem Alter konstant zu halten. Diese Lücke wurde von | |
Wirtschaftsforscher:innen seither als immer größer angesehen – denn | |
die Geburtenraten sinken. Doch es kommen nicht genug. | |
Es war vor allem Rita Süssmuths eigene Partei, die CDU, die einer | |
entsprechenden Öffnung skeptisch gegenüber steht – bis heute. Überlegungen | |
der neuen Ampel-Koalition, abgelehnten Asylsuchenden die Möglichkeit zu | |
geben, eine Aufenthaltserlaubnis zum Arbeiten zu beantragen, nannte Norbert | |
Röttgen, der als am liberalsten geltende Kandidat für den CDU-Vorsitz, das | |
„definitiv falsche Signal“. Es befördere die „Armuts- und | |
Wirtschaftsmigration nach Deutschland“ und wäre deshalb „ein fataler | |
Fehler“. | |
So warnt die Wirtschaftspartei CDU vor „Wirtschaftsmigration“, während die | |
Wirtschaft selbst kaum etwas dringender wünscht als neue Arbeitskräfte. Der | |
Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt vor gravierenden Folgen: | |
Durch Personalknappheiten stehen „Wachstums- und Wohlfahrtspotenziale | |
ebenso wie öffentliche Einnahmen auf dem Spiel“. Fast neun von zehn | |
Unternehmen erwarten Probleme wegen des Fachkräftemangels, rund die Hälfte | |
rechnet damit, dass sie Aufträge verlieren oder ablehnen müssen, weil | |
nötiges Personal fehlt. | |
Eigentlich hatte das 2020 in Kraft getretene Fachkräftezuwanderungsgesetz | |
dieses Problem lindern sollen. Doch weil die Union es nie wirklich wollte, | |
gestaltete sie es derart mutlos aus, dass nicht die dadurch erhofften | |
50.000 Arbeitskräfte pro Jahr mehr kommen, sondern bislang – sicher auch | |
durch Corona – weniger als zuvor: 2020 sank die Zahl der Anträge auf | |
Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bei den deutschen Behörden um | |
drei Prozent auf 42.000. Deutschland müsse Zuwanderer ins Land holen, sagt | |
der Bundesagentur-Chef Detlef Scheele, und zwar 400.000 pro Jahr: „Man kann | |
sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das | |
funktioniert nicht.“ | |
Und so könnten Menschen wie Tharcissie Idufashe oder Marie Rene Iradukunda | |
zunehmend für deutsche Firmen interessant werden. Auch Iradukunda ist eine | |
der Trainees bei AmaliTech. Sie ist 24 Jahre alt und stammt aus der Provinz | |
Kamonyi. An der Universität von Ruanda hat sie im College für Wissenschaft | |
und Technologie studiert, danach besuchte sie – ähnlich wie Idufashe – eine | |
Akademie namens „She Can Code“. Auch Iradukunda wohnt im Haus ihres Vaters | |
und lebt von seiner Unterstützung, die Mutter ist vor ein paar Jahren | |
gestorben. „Das Einzige, was ich über Deutschland weiß, ist, dass es unser | |
Land kolonisiert hat“, sagt sie. | |
An der Uni und bei She Can Code habe sie Programmieren gelernt, aber sie | |
sei sicher, dass sie bei AmaliTech viel neues lerne. „Die Technik bleibt | |
nicht stehen, sie entwickelt sich jeden Tag weiter“, sagt sie. Sie könne | |
sich vorstellen, im Technologiesektor in Ruanda zu arbeiten. „Ich weiß | |
nicht, wie hoch mein Gehalt sein wird, aber wenn ich einen Job bekomme, | |
werde ich jedes Angebot annehmen.“ | |
Etwa 250 Afrikaner:innen haben das AmaliTech-Programm in Ghana | |
durchlaufen, in Kigali läuft der erste Durchgang. Rund 150 Jobs habe | |
AmaliTech selbst geschaffen. „Nicht alle nehmen das Angebot an“, sagt | |
Hecker. Es gebe keine Verpflichtung, für einen der AmaliTech-Kunden zu | |
arbeiten. „Auch andere Firmen stellen die Teilnehmer ein oder diese machen | |
sich selbständig. Wir haben mittlerweile eine gewisse Reputation.“ Etwa 100 | |
der Absolvent:innen würde heute anderswo arbeiten. Damit neue | |
nachkommen, machen die deutschen Außenhandelskammern das Projekt bekannt, | |
Hecker stellt es auf Jobmessen in Städten wie Accra, Kumasi oder Kigali | |
vor. | |
In den nächsten fünf Jahren will er 1.000 Jobs schaffen, langfristig soll | |
es 3.000 Auszubildende geben. Welche anderen Staaten als Standorte in Frage | |
kommen, sei „eine gute Frage“, sagt er. Erst mal wolle er die Dependancen | |
in Ghana und Ruanda weiter ausbauen. „Darüber hinaus haben wir keine | |
direkten Expansionspläne. Aber wir schließen das nicht aus.“ | |
Bisher hat Martin Hecker nur in Deutschland Kunden gesucht, doch das müsse | |
nicht so bleiben. Schweiz, Österreich, Holland, Skandinavien, | |
Großbritannien – „wo man mit englischer Sprache gut was machen kann, da | |
könnten wir auch hin“, sagt er. | |
6 Dec 2021 | |
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