| # taz.de -- Europäische Kulturhauptstadt: Kai der Opfer | |
| > Das schöne Novi Sad ist Europäische Kulturhauptstadt 2022. Die serbischen | |
| > Ausrichter kehren unschöne Seiten der Stadt aber lieber unter den | |
| > Teppich. | |
| Bild: Novi Sad liegt im Norden Serbiens an der Donau | |
| Novi Sad taz | Von den [1][Osmanen] wurde sie im 17. Jahrhundert verwüstet, | |
| von den Habsburgern im 18. Jahrhundert. 1849 wurde sie von der ungarischen | |
| Armee bombardiert, nach 1945 fand ein großer Bevölkerungsaustausch statt | |
| (Deutsche raus, Bosnier und Kroaten rein). Und 1999 bekam sie von der Nato | |
| die Brücken über die Donau zerschossen – Novi Sad, die zweitgrößte Stadt | |
| Serbiens, hat schon einiges mitgemacht. | |
| Man sieht es ihr aber überhaupt nicht an. Im Gegenteil, für ihr Alter und | |
| mit ihrer Vorgeschichte an der Peripherie Europas hat sich die | |
| [2][Europäische Kulturhauptstadt 2022] mit ihren gerade mal 350.000 | |
| Einwohnern aus 21 Nationen sehr gut gehalten. | |
| 1748 hatte Maria Theresia ihr den lateinischen Namen „Neoplanta“ gegeben. | |
| Die Einwohner sollten den Namen in ihre jeweiligen Sprachen übersetzen: | |
| Novi Sad (serbisch), Neusatz (deutsch) und Újvidék (ungarisch) heißt die | |
| neue Pflanze in der Pannonischen Tiefebene seitdem. Die entzückende | |
| Innenstadt mit ihren zweistöckigen Stadthäusern und Villen, den | |
| römisch-katholischen, griechisch- und serbisch-orthodoxen Kirchen und | |
| Kathedralen, Synagogen, Bauhaus-Bauten, Plätzen, Parks und Promenaden am | |
| kilometerlangen Donauufer – beim Spazieren durch die Stadt gewinnt man den | |
| Eindruck, hier sei in den letzten Jahrhunderten mit jedem Neuzuzug ein | |
| immer noch großartigeres Theater-, Kultur-, Verwaltungs-, Kirchen- oder | |
| Wohngebäude errichtet und in Schuss gehalten worden. Einiges davon ist in | |
| den letzten Jahren von der EU im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms | |
| finanziert worden, die die Stadt auch wegen ihres Rufs, multikulturelle | |
| Vorzeigestadt zu sein, ausgewählt hat. | |
| Und so lassen die verantwortlichen Ausrichter in Novi Sad denn auch in | |
| dieser Hinsicht nichts liegen: „multikulturelle Synergien“ sehen sie in den | |
| Donaubrücken, die völlig überraschend als Symbol für die Verbindung von | |
| Nationen, Religionen und Geschlechtern vermarktet werden. Es wird das | |
| „beste Ethno-Festival in Europa“ („Tamburitza“) und das „größte und… | |
| Musikfestival Europas“ („Exit“) geboten. Neben den immer hier | |
| stattfindenden Laternen-, Oktober-, Guglhupf-, Nikola-Tesla- und Dutzenden | |
| weiteren Kunst-, Tanz-, Film-, Musik-, Wein-, Mode- und Theaterfestivals. | |
| Natürlich wurde ein Fabrikruinenrest aufgetrieben, den man zum | |
| Kulturzentrum umbaute (in einer Gegend, die „Chinesisches Viertel“ genannt | |
| wird, keiner weiß, warum). Die „Štrand“ genannte Badeanstalt wird als | |
| „Copacabana Serbiens“, die Festung Petrovaradin als „Gibraltar der Donau�… | |
| die ganze Stadt als „serbisches Athen“ (Sitz des serbischen | |
| Nationaltheaters und der Matica Srpska, Serbiens ältester | |
| Kulturinstitution) vermarktet. | |
| Geht man zwei, drei Straßen vom schnuckeligen Zentrum weg, bröckeln auch in | |
| Novi Sad Fassaden. Auf einer von ihnen steht ein Graffito: „Idemo u | |
| Berghain“ („Lass uns ins Berghain gehen“). | |
| Die Einwohner der Stadt zieht es kulturell und ökonomisch längst wieder in | |
| den Norden, aus dem einst viele der Erbauer und Bewohner kamen. Doch anders | |
| als in vielen anderen durch den Braindrain leergefegten Landstrichen des | |
| Balkans gibt es in Novi Sad auch Zuzug, nun allerdings aus dem armen Süden | |
| des Landes. | |
| Einer von ihnen verkauft Souvenirs auf der Festung: Kaffeetassen mit Tito | |
| und Putin. Er hat kaum Zähne im Mund, zerschlissene Klamotten, die Haut | |
| sonnengegerbt. „Der Westen hat uns nichts gebracht außer Armut“, faucht er | |
| auf die Nachfrage, ob sich Tito neben Putin wohl fühlen würde. „Putin ist | |
| wie Tito. Nur er hilft uns.“ | |
| Für rechtspopulistische Figuren wie Putin, Milošević oder den aktuellen | |
| Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić, hat man in Novi Sad noch nie | |
| mehrheitlich votiert. Doch die neue Binnenmigration verändere die Stadt | |
| sehr stark, sagt der 80-jährige Schriftsteller László Végel, der der | |
| ungarischen Minderheit Novi Sads angehört. „Es wird immer schwieriger, Novi | |
| Sader in Novi Sad zu sein“, erzählt er. Der Nationalismus nehme zu. | |
| Auch die deutsche Minderheit betrauert die alten Zeiten. Deutsch werde | |
| nicht mal mehr an den Schulen gelehrt, erzählt Marijana Vukobratović | |
| Stojisavljević, die sich im Deutschen Humanitären Verein engagiert. Die | |
| Deutschen seien in Jugoslawien pauschal als Nazis gesehen, vertrieben und | |
| diskriminiert worden. Von der Vorgeschichte, der deutschen Besatzung | |
| Serbiens, den brutalen Verbrechen, an denen Wehrmachtsangehörige genauso | |
| beteiligt waren wie Novi Sader Donauschwaben, erzählt sie nichts. | |
| Die Spuren dieser Verbrechen findet man aber auch in ganz Novi Sad, wo man | |
| ansonsten auf Schritt und Tritt europäischer Geschichte aus den letzten 300 | |
| Jahren begegnet, so gut wie gar nicht. Und genauso wenig in den Programmen | |
| der Kulturhauptstadtmacher. Lediglich in dem auch auf Deutsch gedruckten | |
| Hochglanzband der Touristenbehörde Novi Sads findet ein aufmerksamer Leser | |
| einen Hinweis. Unter einem Foto von dem Fahrradweg an der Donau steht „Der | |
| Kai von Novi Sad besteht aus dem Sonnigen Kai, dem Belgrader und dem Kai | |
| der Opfer der Razzia, mit einer Gesamtlänge von fünf Kilometern. Diese | |
| Kilometer gehören zu den schönsten …“ Razzia? Welche Razzia?, würde ein | |
| unwissender Leser fragen. Erklärt wird es ihm hier nicht. | |
| Der Straßenabschnitt „Kai der Opfer der Razzia“ erinnert an das Massaker, | |
| in dem vor 80 Jahren, zwischen 21. und 23. Januar 1942, die mit den | |
| Deutschen paktierende ungarische Armee 1.246 Einwohner (vor allem Juden und | |
| Serben) ermordete. Man hatte die Menschen bei minus 25 Grad ans Donauufer | |
| deportiert, sich ausziehen lassen, erschossen und ihre Leichen durch ein | |
| eigens dafür ausgestoßenes Loch in den zugefrorenen Fluss geworfen. | |
| Am Kai erinnert ein Denkmal – eine Familienfigur aus Bronze – an die | |
| Ermordeten. Um es zu finden, braucht man Google Maps, da kein Straßenschild | |
| den Weg weist. Steht man davor, muss man weitergoogeln, denn was genau | |
| passiert war, erfährt man auch hier nicht. | |
| Dabei ist das Massaker aufs Akribischste dokumentiert. In der einheimischen | |
| Literatur von zwei der größten Schriftsteller des Balkans: Danilo Kiš und | |
| Aleksandar Tišma, beide Kinder Novi Sads. Vor allem Tišma, der 2003 mit 79 | |
| Jahren starb und weltweit als der Chronist Novi Sads verehrt wird, hat in | |
| fast all seinen Romanen die Zeit des Faschismus und seine Auswirkungen im | |
| postfaschistischen Novi Sad verarbeitet. Doch das Vermächtnis dieses | |
| Weltautors spielt im Hauptstadtkulturprogramm Novi Sads keine Rolle. „Es | |
| hat sich niemand bei uns gemeldet, der was zu ihm machen wollte“, behauptet | |
| die offizielle Seite. „Wir haben mehrmals Projekte eingereicht, um | |
| beispielsweise die Wohnung meines Vaters als Museum einzurichten“, erzählt | |
| Tišmas Sohn Andrej. Er hat mit Freunden 2016 eine Stiftung gegründet, die | |
| jährlich den Tišma-Literaturpreis vergibt. Ob sein Vater vergessen werden | |
| soll, weil die nationalistische Regierung die serbischen Verstrickungen in | |
| den Faschismus lieber unter den Teppich kehren will? „Die Leute haben die | |
| Romane meines Vaters gar nicht gelesen“, wehrt Tišma ab. „Sie interessieren | |
| sich nur für das, was die Massen anzieht: Musikfestivals.“ | |
| Der Autor László Végel, der mit dem Weltschriftsteller Tišma eng befreundet | |
| war, reagiert lauter: „Einer der bekanntesten und größten Söhne der Stadt | |
| ist nicht Ehrenbürger dieser Stadt. Putin schon. Um dem größten Sohn der | |
| Stadt eine Straße zu widmen, haben sie die kleinste genommen, die sie | |
| finden konnten. Natürlich ist das politisch!“ | |
| Im Merkur-Palast, dem eindrucksvollen modernistischen Wohngebäude, das | |
| Aleksandar Tišma in seinem Roman „Das Buch Blam“ beschreibt, als wäre es | |
| ein Schiff, das auf den Hauptplatz fährt, befindet sich die Wohnung, in der | |
| der Autor jahrzehntelang gelebt und geschrieben hat und die sein Sohn gern | |
| als Museum einrichten würde. Man muss die an ihn erinnernde Bronzeplakette | |
| an der Hauswand unter dem riesigen Werbeschild für die Spielothek erst | |
| suchen, aber immerhin gibt es sie. | |
| Fragt man die ansonsten zu allem offenherzig Auskunft gebende Stadtführerin | |
| beim Überqueren des Platzes, ob sie etwas zu dem Haus und Tišma erzählen | |
| könnte, wehrt sie ab: „Da kommen wir jetzt auf gefährliches Terrain, das | |
| ich lieber nicht betreten will.“ | |
| Auf die Frage, ob die Leute Angst davor hätten, sich mit der Vergangenheit | |
| auseinanderzusetzen, weil die Regierung was dagegen hat, sagt der Autor | |
| Végel: „Es wäre gut, wenn die Leute wenigstens Angst vor der Vergangenheit | |
| hätten. Aber sie ist ihnen einfach scheißegal.“ | |
| Als die Stadtführerin am Ende vor der prächtigen Synagoge in der | |
| Judenstraße steht, sagt sie: „Die Bürger von Novi Sad sind bekannt dafür, | |
| dass sie sich nicht gern auseinandersetzen. Hier wurde schon immer lieber | |
| unter den Teppich gekehrt, damit obendrauf alles schön aussieht.“ Lässt | |
| sich das Verdrängen damit erklären, dass in Novi Sad schon immer so viele | |
| verschiedene Kulturen nebeneinanderher lebten, die sich nicht in die | |
| Angelegenheiten der anderen einmischten? | |
| Nein, das könne man so nicht sagen, meint die Direktorin der Galerie Matica | |
| Srpska, Tijana Palkovljević Bugarski. Ihre Ausstellung über die Geschichte | |
| der serbischen Porträtmalerei zeigt die Entwicklung von den ungelenken | |
| frühen serbischen Ikonen (anonyme Laienmaler) zu den Großmeistern, die nach | |
| Russland und Frankreich gingen, um dort ihr Handwerk zu lernen (wozu Uroš | |
| Predić und sein „Schmollendes Mädchen“ zählt, das als „serbische Mona … | |
| gilt). „Wir wollen damit zeigen, dass man nichts hinkriegt, wenn man nur in | |
| der eigenen Soße schwimmt. Und dass man nur weiterkommt, wenn man von | |
| anderen lernt. Das hat Novi Sad bisher ausgezeichnet.“ | |
| Novi Sad könnte also durchaus noch etwas von anderen lernen: In Berlin zum | |
| Beispiel wird neben dem Besuch des Berghain in vielen Reiseführern auch ein | |
| Abstecher ins Haus der Wannseekonferenz empfohlen. | |
| 8 Jan 2022 | |
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| Doris Akrap | |
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