# taz.de -- Esoterik und Religion: Die Spiritualisierung des Abendlandes | |
> Mit Kirche können viele nichts anfangen. Aber die großen Fragen nach dem | |
> Sinn des Lebens bleiben. Können Yoga, Kakaozeremonien und Meditation | |
> helfen? | |
Bild: Ein Massageworkshop auf dem Colourfest-Festival im englischen Dorset | |
BERLIN/MÜNCHEN taz | Nathalie Geßlers Wohlfühlabstand liegt bei etwa einem | |
Meter. Weiter will sich die junge Frau nicht auf ihr unbekanntes Gegenüber | |
zubewegen. Sie bleibt stehen, spürt nach, ob sie richtig steht. Dann stemmt | |
sie die Fäuste in die Taille, lächelt und nickt: Ja. Hier ist gut. Davon, | |
dass andere Zweiergruppen neben ihr weiterhin aufeinander zutippeln, lässt | |
sie sich nicht beirren. Nathalie Geßler hat ihren Platz gefunden, obschon | |
sie später sagen wird: „Gar nicht so einfach, sich selbst zu spüren.“ | |
Es ist Sonntagvormittag in einem Hotel in der Münchner Innenstadt. Die | |
Sonne scheint in einen leeren, mit Teppichboden ausgelegten Raum unterm | |
Dach. „Speaking Truth“ heißt der Workshop, für den sich Geßler zu Beginn | |
des Tages entschieden hat. „Die Wahrheit sprechen“. | |
Sieben Veranstaltungen an einem Wochenende wird die 32-Jährige, die mit | |
ihren schwarzen Yogaleggings und dem brünetten Pferdeschwanz aussieht wie | |
sehr viele hier, am Ende des Tages absolviert haben: zweimal 90 Minuten | |
Yoga, einen Atem- und Singworkshop, einen Meditationskurs, einen Vortrag | |
über Hochsensibilität in Beziehungen und eine schamanistische | |
Kakaozeremonie mit Musik und Anrufung der „Spirits“, deren 30 Plätze derart | |
begehrt sind, dass kurz die Stimmung zu kippen droht, als einige | |
Zuspätgekommene den Raum wieder verlassen müssen. | |
Außerdem im Festivalprogramm: Lichtatmung, Trommelreisen, Herz-Klang-Yoga, | |
Ecstatic Dance, ein Workshop mit dem Titel „Der sinnliche Draht zur | |
außersinnlichen Welt“ und jede Menge Mitsingkonzerte, bei denen | |
Sanskritmantren geschmettert werden. | |
Am Ende wird Nathalie Geßler sagen, dass sie Aktivitäten wie diese von | |
jetzt an mehr in ihr Leben integrieren wolle, „auch wenn ich nicht mit | |
allem gleich viel anfangen konnte.“ | |
## Eine zweite Hippie-Welle? | |
„Agápe Zoe“ – „Die Liebe zum Leben“, heißt das Festival, für das s… | |
Geßler etwa 400 größtenteils junge, eher sportlich als esoterisch | |
aussehende Menschen angemeldet haben. 140 Euro kostet das Ticket für beide | |
Tage. | |
Spiritualität, Schamanismus und Selbsterforschung sind anschlussfähig an | |
den einigermaßen gut situierten urbanen Mainstream geworden. „New Age“, die | |
Esoterikbewegung der Hippies aus den sechziger Jahren, und alles, was zu | |
diesem schwammigen Begriff gehört, scheinen das Spinner-Image abzustreifen. | |
Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach dem Hier und Jetzt. Nach der | |
Stille und dem, was in ihr entstehen kann. Ist das eine neue, eine zweite | |
Hippie-Welle? | |
Nathalie Geßler mutet in ihrem schwarzen Microfaser-Sportleibchen nicht | |
sehr hippiesk an. Ihren Lebensunterhalt verdient sie festangestellt in der | |
Marketingabteilung der Motorradsparte von BMW. In ihrer Freizeit macht sie | |
am liebsten mehrtägige Touren mit ihrer Reiseenduro. „Dass ich auf dieses | |
Festival gehe, habe ich nur zwei guten Freundinnen erzählt“, sagt sie. Zwar | |
würde sie ihre Teilnahme nicht verheimlichen, wenn sie jemand danach | |
fragte. Aber sie wolle sich auch nicht jeder x-beliebigen Kritik aussetzen. | |
Die Akzeptanz für solche Veranstaltungen mag zwar generell wachsen, | |
gleichwohl werden allzu spirituelle Herangehensweisen ans Leben oft | |
belächelt. | |
Das zeigt auch die Sprache, mit der JournalistInnen oft über Esoterisches, | |
Übersinnliches und ganz generell nicht rational Belegbares berichten. Von | |
Quacksalbern, Hokuspokus und Scharlatanen ist da die Rede. Auch in der | |
[1][taz]. | |
Was aber, wenn man das Bedürfnis von Menschen nach Spiritualität mal ernst | |
nimmt und fragt: Was suchen sie in Kakaozeromonien und beim Yoga? Und was | |
finden sie da? | |
Nathalie Geßler sagt am Abend nach dem Festival bei einem Salat und einer | |
Weinschorle in einem italienischen Schnellrestaurant: „Ich möchte | |
selbstbestimmt und bewusst leben, in meiner eigenen Realität – und nicht | |
nur alles von der Gesellschaft abgucken, was die einem vorgibt.“ | |
## „Wir wollten Millionäre werden“ | |
Was sie um sich herum beobachtet, beschreibt Geßler mit eher düsteren | |
Attributen: Prestige, Hierarchie, Fremdbestimmung, Stress, Aufopferung, | |
Erschöpfung. „Manchmal habe ich den Eindruck“, sagt sie, „alle Menschen … | |
mich herum rennen denselben vorgefertigten Idealen hinterher: Man hat zu | |
heiraten, eine Familie zu haben, Kinder zu bekommen, ein Haus zu bauen, | |
viel zu arbeiten und Geld zu verdienen.“ Was aber, wenn man merkt, dass | |
einen dieser Weg nicht glücklich macht? | |
Das Agápe-Zoe-Festival, für das sich Geßler auf der Suche nach Antworten | |
angemeldet hat, stammt aus Berlin, findet dort alle paar Monate statt und | |
ist seit drei Jahren regelmäßig gut besucht. Sein Initiator, Tony | |
Sarantopoulos, 50 Jahre, kinnlange Locken, Dreitagebart, Typ Sonnyboy, | |
stellte sich 2013 ganz ähnliche Fragen wie Geßler. | |
„Burn-out, schwere Depression, Midlife-Crisis, nenn es, wie du willst“, | |
sagt er in einer Nische des Münchner Hotels, in dem das Festival | |
stattfindet. Sarantopoulos kommt aus Mülheim an der Ruhr, früher war er | |
Barbesitzer. Dann rackerte er sich zwölf Jahre lang im Vertrieb des | |
Outdoor-Modelabels seines jüngeren Bruders ab. | |
„Wir hatten einen Traum“, erinnert er sich. „Wir wollten Millionäre werd… | |
und uns dann ein Haus in Griechenland kaufen.“ Das sei zwar nach einigen | |
Jahren möglich gewesen, aber der Bruder wollte dann doch nicht aufhören. | |
„Es lief so gut, und er wollte nicht loslassen.“ Das trieb Sarantopoulos in | |
die Depression: „Weil ich etwas gemacht habe, was ich eigentlich gar nicht | |
mehr wollte. Ich habe nur noch funktioniert.“ | |
Mit dem Bruder verstand er sich immer schlechter, die Beziehung zu seiner | |
Partnerin ging in die Brüche. Auf einer Tauchsafari in Ägypten lag er | |
nachts an Deck und blickte voller Fragen in den Himmel. „Ich habe eine | |
Antwort von den Sternen bekommen“, sagt Sarantopoulos und lacht, weil er | |
weiß, dass das ein bisschen seltsam klingt. „Die Antwort war: Du hörst mit | |
allem auf und machst ab sofort nur noch Dinge, die dich glücklich machen.“ | |
Es war wie ein Pakt, den er mit sich selbst abschloss. | |
## „Alter, genieß dein Leben!“ | |
Drei Jahre lang ging er danach auf Reisen, hielt Ausschau nach neuen Werten | |
und alternativen Heilmethoden für sein Ausgebranntsein und die Depression. | |
In Guatemala spürte er zum ersten Mal die Wirkung von Rohkakao, die er als | |
„herzöffnend“ beschreibt. Tatsächlich enthält Rohkakao Wirkstoffe, die m… | |
Botenstoffen im Gehirn wie Serotonin oder Dopamin, den sogenannten | |
Glückshormonen, interagieren. | |
Auf einem Atoll in Belize, umgeben von fluoreszierendem Plankton und einem | |
Sternenhimmel, wie man ihn nur dort sieht, wo es keine Lichtverschmutzung | |
gibt, erlebte er die Natur in einer Schönheit, die er als mystisch und | |
lebensverändernd verstand. | |
„Ich hatte sofort eine Verbindung zum Universum und dachte: Wie schön ist | |
diese Welt! Wir leben im Paradies und kriegen es kaum mit. Gleichzeitig | |
habe ich mich so klein gefühlt: Ich, mit meinen ach so großen Problemen. | |
Und ich dachte: Alter! Genieß dein Leben!“ | |
Schließlich landete er in Arambol, am bekanntesten Hippiestrand im | |
indischen Goa. „Dort habe ich mich zum ersten Mal barfuß in Trance getanzt | |
– ohne Bierchen“, sagt Sarantopoulos. „Ich habe mich so frei gefühlt.“… | |
Zustand, den er behalten wollte. Statt aber wie andere auszusteigen und in | |
Indien zu bleiben, beschloss er, in Berlin zu organisieren, was ihn auf | |
seinen Reisen fasziniert hatte. | |
Wie man Events plant, wusste Sarantopoulos aus seiner Zeit als Barbesitzer | |
und Partyveranstalter. Zu seinem ersten Festival im Juli 2015 in | |
Berlin-Neukölln kamen 40 Referent:innen und 400 Gäste. „Das hat so eine | |
Welle geschlagen“, sagt er, „als hätten alle nur darauf gewartet.“ | |
## Spiritualität als Antidepressivum | |
Dass es nun auch Ableger in München und Hamburg gibt und eine weitere | |
Veranstaltung in Köln vorgesehen ist, ist nur eines von zahlreichen | |
Indizien: Hier breitet sich eine Szene aus, deren Methoden und | |
Überzeugungen zwar an die New-Age-Bewegung der sechziger Jahre angelehnt | |
sein mögen, aber längst massentauglich sind. | |
Die Szene selbst lässt sich nur schwer definieren. Davon, „in Verbindung zu | |
gehen“, ist oft die Rede, mit sich selbst, und dem, was um einen herum | |
geschieht, auch mit der Natur, die unter menschengemachten Belastungen | |
leidet. Davon, „dass alles eins“ sei, zusammengehalten von einer | |
umfassenden Kraft. Und dass für inneren Frieden „innere Arbeit“ und | |
„Selbstliebe“ notwendig seien, weil man sonst nicht in der Lage sei, den | |
eigenen „Seelenauftrag“ zu erfüllen. | |
Vieles hat mit dem Bedürfnis zu tun, den eigenen Geist dazu zu erziehen, | |
den nie enden wollenden Strom aus Beurteilungen und Konditionierungen zu | |
unterbrechen. Man will für Ruhe sorgen, „zu sich kommen“. Fühlen statt | |
denken, „achtsam“ sein und damit „im Hier und Jetzt“. | |
Könnte Spiritualität also auch eine Antwort darauf sein, dass Depressionen | |
mittlerweile zu den weltweit häufigsten Krankheiten gehören und | |
Hauptursache von Berufsunfähigkeit sind? Spiritualität als Heilmittel für | |
die Leiden einer modernen Gesellschaft? | |
Die Möglichkeiten, sich auf die ein oder andere Art „selbst zu erfahren“, | |
sind heute unendlich: Reisen in einen indischen Aschram, die zu Zeiten von | |
John Lennon und Timothy Leary noch einer avantgardistischen Elite | |
vorbehalten waren, sind heute all inclusive zu haben. | |
## Türen in unbekannte Bewusstseinssphären | |
Vielleicht hat die neue Sinnsuche im Ungewissen auch mit der | |
flächendeckenden Therapieerfahrung zu tun. Es ist eingeübt: Für jedes | |
Problem gibt es eine Lösung, und man kann dazu auch das eigene Innenleben | |
heranziehen. Man ist Selbstreflexion gewohnt. Wer noch weiter gehen will, | |
wendet sich womöglich – über den Umweg von Yoga oder Meditation – | |
irgendwann der Spiritualität oder dem Schamanismus zu. | |
Zur Indienerfahrung kommen seit einigen Jahren die Rituale und Lehren des | |
Schamanismus aus Nord- und Südamerika. Während die buddhistische | |
Erleuchtung nur auf dem steinigen Pfad der Meditation und Egoüberwindung zu | |
erreichen ist, bietet die südamerikanische Variante konsumierbare und daher | |
käuflich zu erwerbende Abkürzungen an. Mithilfe von Ayahuasca, einer stark | |
DMT-haltigen „Heilpflanze“, die ähnlich wie LSD, Magic Mushrooms und Peyote | |
Türen zu anderen Bewusstseinssphären aufstößt, wird eine schnellere | |
Befreiung von seelischem Leid in Aussicht gestellt. | |
Früher suchte man diese Befreiung vielleicht in traditioneller | |
Religiosität, bei Jesus, Gott und dem Heiligen Geist. Religion hat | |
allerdings für weite Teile der Bevölkerung stark an Bedeutung verloren. | |
Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, auf die die Wissenschaft keine Antwort | |
hat, wollen jedoch partout nicht verschwinden. Aber was genau ist | |
Spiritualität überhaupt? | |
Heinz Streib ist Professor an der Uni Bielefeld und leitet die Abteilung | |
„Biografische Religionsforschung“. 2009 veröffentlichte er zusammen mit | |
seiner Kollegin Barbara Keller eine Studie zum Thema Dekonversion in den | |
USA und Deutschland, also zu der Frage, warum Menschen ihre | |
Religionsgemeinschaft verlassen. | |
## Ein jahrhundertealtes Konzept | |
Die Studienteilnehmer:innen sollten – zum ersten Mal in Deutschland – in | |
einem Fragebogen nicht nur selbst einschätzen, wie religiös sie sind, | |
sondern auch, wie spirituell. Dabei trat eine neue Kategorie zutage: | |
Menschen, die angaben, „mehr spirituell als religiös“ zu sein; die also | |
durchaus an etwas glauben, so die Interpretation, deren Glaube jedoch ohne | |
Bindung an klassische Religionen funktioniert. | |
„Plötzlich finden es die Leute schick, spirituell zu sein, Religion ist | |
nicht mehr in“, sagt Streib, der selbst evangelischer Theologe ist, am | |
Telefon. „Das ist für Theologen und Religionswissenschaftler auch ein | |
theoretisches Problem.“ | |
Spiritualität, eigentlich ein jahrhundertealtes Konzept, sei lange Zeit nur | |
innerhalb der Religion denkbar gewesen, in der christlichen oder | |
islamischen Mystik etwa. | |
Streib und sein Forschungsteam fanden aber heraus: Auch Menschen, die nicht | |
im klassischen Sinne religiös sind, suchen bisweilen nach etwas, das hinter | |
aller Rationalität liegen mag, und machen sogenannte | |
Transzendenzerfahrungen – Tony Sarantopoulos’ ehrfürchtiges Staunen in den | |
Nächten auf dem karibischen Atoll kann als solche gelten. Sie deuten diese | |
Erfahrungen nur außerhalb institutionell-religiöser Kategorien. | |
„Diese Menschen haben häufig kein Gottesbild“, sagt Streib, „jedenfalls | |
kein personalisiertes.“ An die Stelle Gottes trete beispielsweise die Natur | |
oder die Suche nach dem inneren Selbst. Skeptisch sei er zunächst gegenüber | |
dieser Gruppe gewesen, gibt Streib zu. Mittlerweile aber habe er | |
dazugelernt: „Da finden Menschen, die sich mit Religion nicht | |
identifizieren können und von der Kirche nichts halten, eine | |
Sprachmöglichkeit für ihre Erfahrungen, die sie sonst nicht hätten.“ | |
## Das Göttliche in der Natur und in einem selbst | |
Ein Mitarbeiter Streibs zog in einer gesonderten Untersuchung weitere Daten | |
aus dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung aus den Jahren 2008 und | |
2013 heran. Er stellten fest: JedeR Fünfte in Deutschland schätzt sich als | |
„eher spirituell als religiös“ ein. Besonders interessant sind in dieser | |
Hinsicht die sogenannten Konfessionslosen, also jene, die entweder nie | |
einer Kirche angehört haben oder die getauft, aber ausgetreten sind. 32 | |
Prozent von ihnen sind zwar einerseits Atheisten, glauben also nicht an | |
Gott, bezeichnen sich aber dennoch als spirituell. | |
Streib und Keller haben in einer weiteren semantischen Erhebung auch nach | |
einer Definition von Spiritualität gefragt und insgesamt 740 Antworten | |
ausgewertet. Spiritualität ist demnach für die „mehr spirituellen als | |
religiösen Atheisten“ unter anderem ein Gefühl von „(All-)Verbundenheit u… | |
Harmonie mit dem Universum, der Natur und dem Ganzen“, eine „innere Suche | |
nach einem (höheren) Selbst, nach Sinn, Frieden und Erleuchtung“, „eine | |
Erfahrung von existenzieller Wahrheit, (einem) Ziel oder (einer) Weisheit | |
jenseits rationalen Verstehens“, zum Teil auch ein „Bewusstsein für eine | |
nichtmaterielle, unsichtbare Welt, übernatürliche Energien und Wesen (z. B. | |
Geister)“, sowie das „Festhalten an und Einhalten von Werten und Moral in | |
Bezug zur Menschlichkeit“. | |
Streib und Keller sprechen hier von „horizontaler Transzendenz“, die das | |
Göttliche nicht vertikal, sondern in der Natur oder im eigenen Selbst | |
wahrnimmt. | |
„Diese ‚mehr spirituellen Nichtreligiösen‘ sind eine ernst zu nehmende | |
Gruppe“, sagt Streib. 2012 lag ihr Anteil bei 5 beziehungsweise 13 Prozent | |
– je nachdem, welche Umfrage man auswertet. „Das ist nicht sehr viel, aber | |
auch nicht marginal“, so der Wissenschaftler. Neuere Erhebungen zu dieser | |
Frage gibt es nicht. Nach 2013 wurde im Religionsmonitor nicht mehr nach | |
Spiritualität gefragt. | |
In Berlin kann man mittlerweile fast wöchentlich eine Kakaozeremonie | |
besuchen. Besonders zu Voll- und Neumond häufen sich die Veranstaltungen: | |
Kakao und Kuscheln, Kakaomeditation, Kakaosingkreis, Kakao und Ecstatic | |
Dance. Immer gehört ein schamanisch inspiriertes Ritual dazu, das darin | |
mündet, gemeinsam eine „rituelle Dosis“ unbehandelten Rohkakaos zu trinken, | |
der entspannend und stimmungsaufhellend wirkt. In der Vorstellung dabei: | |
„Mama Kakao“ oder „Pacha Mama“, Mutter Erde, die über allem wacht, die… | |
um Schutz und Hilfe für die Zeremonie bittet und die sich, so der Mythos, | |
aufgemacht hat in die urbanen Zentren dieser Welt, um vor der Zerstörung | |
des Lebensraums, des Regenwalds oder des Planeten zu warnen. | |
## Panflöten, Urwaldvögel, Räucherwerk | |
Weniger bekannt, weil illegal, aber auch sehr begehrt sind | |
Ayahuasca-Zeremonien. Dabei wird, eingebettet in ein südamerikanisch | |
inspiriertes schamanistisches Ritual, ein Sud aus DMT-haltigen Pflanzen | |
konsumiert, der zu Erbrechen und Zuständen erweiterten Bewusstseins führt. | |
Festivalgründer Sarantopoulos hat bereits damit experimentiert. „Reisen, | |
Psychotherapie und Ayahuasca haben mich von meiner Depression geheilt“, | |
sagt er. Eine These, an der durchaus etwas dran sein könnte, wie | |
[2][aktuelle Studien über halluzinogene Substanzen ergaben]. | |
Fast jedes Elektrofestival bietet mittlerweile eine „Healing Area“ an; auch | |
dort gibt es Rohkakao zu trinken, man kann Yogastunden besuchen, unter | |
Anleitung meditieren und in Workshops etwas über sein schamanisches | |
Krafttier erfahren. Auf „Sacred Raves“ in Berlin-Kreuzberg wird statt | |
Alkohol und anderen Drogen Rohkakao konsumiert. In die Elektrobeats mischen | |
sich Panflötenklänge, spanische Vocals und die Rufe tropischer Urwaldvögel. | |
Statt Zigarettenrauch schwebt über alldem der süßliche Geruch von | |
Räucherwerk wie weißem Salbei oder Palo Santo, einem tropischen Holz, das | |
bei schamanischen Ritualen in Lateinamerika entzündet wird, um den Ort von | |
„negativer Energie“ zu befreien. | |
Ist das alles wirklich neu? | |
Fragt man Hubert Knoblauch, lautet die Antwort: In der Erscheinungsform | |
vielleicht, inhaltlich jedoch nicht. Der Soziologieprofessor an der TU | |
Berlin empfängt im Rahmen seiner Sprechstunde für Studierende und bittet in | |
ein von Bücherwänden eingefasstes Büro im neunten Stock eines schmucklosen | |
Universitätsneubaus. | |
Knoblauch hat bereits 2009 ein Buch geschrieben, das sich mit moderner | |
Spiritualität befasst. „Populäre Religion“ heißt es. Untertitel: „Auf … | |
Weg in eine spirituelle Gesellschaft.“ Darin räumt Knoblauch schon in der | |
Einleitung mit der Behauptung auf, Religion und Religiosität seien im | |
aufgeklärten Abendland vom Aussterben bedroht. „Es gibt bestimmte | |
menschliche Fähigkeiten, die die Grundvoraussetzung für menschliche | |
Religiosität sind“, sagt Knoblauch. „Die wichtigste ist die Fähigkeit zum | |
Transzendieren.“ Zur Erklärung nimmt er einen Stoß Papiere und hält ihn | |
sich vors Gesicht. „Sie wissen, dass auf der anderen Seite etwas ist, ohne | |
denken zu müssen“, sagt Knoblauch. „Der nichtsichtbare Gott hat zunächst | |
auch keine andere Qualität.“ | |
Mit anderen Worten: Menschen sind auch deshalb geneigt, an etwas zu | |
glauben, schlicht weil sie in der Lage sind, es sich vorzustellen, so der | |
Soziologe. Seine These: Religion verschwindet nicht – auch nicht in der von | |
Wissenschaft und Rationalität geprägten Moderne. Sie verändert sich nur. | |
Genauer: Sie passt sich der Gesellschaft an. | |
## Das Individuum als Sinn-Ressource | |
„Der Boom der Alternativmedizin“ titelte der Spiegel im August 2018 und | |
wertete die Gesundheitsprogramme von rund 350 Volkshochschulen aus. Das | |
Ergebnis: In fast jedem vierten Volkshochschulkurs im Bereich Gesundheit | |
wird ein alternativmedizinisches Verfahren gelehrt, dessen Wirksamkeit | |
nicht wissenschaftlich erforscht ist. Darunter: Ayurveda, Bachblüten, | |
Kinesiologie, Edelsteinheilkunde, Klangschalenmassage, Aromatherapie, | |
Chakrentanz und hawaiianische Lomi-Lomi-Massage, sowie „Yoga- und | |
Qigongkurse, sofern diese nicht als reine Fitnessgymnastik im Programm | |
angekündigt sind.“ Rund 35 Prozent der Volkshochschulkundin:innen belegen | |
Kurse in diesem Bereich. Für Hubert Knoblauch, den Soziologen, sind auch | |
dies Anzeichen einer „Popularisierung der Religion“. | |
„Was wir heute wahrnehmen, begann im 19. Jahrhundert“, sagt der Soziologe. | |
Der Westen entdeckte den Hinduismus und den Buddhismus für sich. Dieses | |
Wissen und auch das über bewusstseinserweiternde Drogen wurden zunächst von | |
den Eliten aufgenommen und diffundierte dann allmählich. Dass es in den | |
letzten Jahren vermehrt Interesse findet, führt Knoblauch auf die | |
Beschaffenheit unserer Gesellschaft zurück: „Heute mehr denn je gilt das | |
Individuum als Ressource für den Sinn des Lebens“, sagt er. Das „große | |
Andere“, also das Göttliche, werde nicht mehr notwendigerweise gebraucht, | |
um dem Leben Bedeutung zu verleihen. | |
„Einerseits werden wir von Anfang an, also schon mit zwei, drei Jahren, als | |
Hauptverantwortliche unseres Lebens fortwährend adressiert, ohne uns hinter | |
Familie oder anderen verstecken zu können“, führt Knoblauch aus. | |
„Andererseits müssen wir, weil das passiert, in uns selbst die Ressourcen | |
für alles Mögliche finden – Innovation, Kreativität, aber eben auch Sinn.�… | |
Individuen seien jedoch oft nicht so originell wie erhofft oder von der | |
Gesellschaft erwartet. „Deshalb suchen sie nach Erklärungen und Formaten, | |
die heute marktförmig vertrieben werden.“ Um dafür Anhaltspunkte zu finden, | |
müsse man nur mal vor die Tür gehen, sagt Knoblauch. „Dass im Bereich | |
Spiritualität eines Tages Dienstleister auftreten und dass da auch Kunden | |
kommen, um diese Angebote wahrzunehmen, das war in den Neunzigern noch | |
unvorstellbar.“ Und heute? „Yogastudios überall.“ | |
Rebecca Randak sitzt auf einer Decke auf dem Parkettboden, klappt das | |
Harmonium auf und beginnt, zu den akkordeonähnlichen Lauten des indischen | |
Instruments zu singen: „Shariram surupam tatha va kalatram“ intoniert sie | |
mit lauter Stimme den Beginn eines Sanskritverses. Die etwa dreißig | |
Yogaschüler:innen vor ihr singen ihn ihr nach. | |
## Talks, Chants, Sonnengrüße | |
Randak, 35, Ponyfrisur, schwarze Leggings, graues Supermanshirt, ist seit | |
fünf Jahren Yogalehrerin und unterrichtet in einem Studio namens „Peace | |
Yoga“ in Berlin-Kreuzberg. Jivamukti heißt der Stil, in dem sie ausgebildet | |
ist, „Befreiung im Diesseits“ auf Deutsch, gegründet von zwei New Yorkern | |
im Jahr 1984. Eine schweißtreibende, auf westliche Schüler:innen | |
zugeschnittene Praxis, die fast immer mit Musik, oft begleitet von | |
elektronischen Clubbeats, unterrichtet wird. Dennoch gehören auch | |
spirituelle Elemente dazu. Es wird geommt, meditiert, es werden „Chants“ | |
gesungen, und es gibt sogenannte „Talks“, die stets einem mehr oder weniger | |
spirituellen Thema gewidmet sind. | |
Um Konsum gehe es in dieser Stunde, erklärt Randak, während die | |
Schüler:innen auf der Matte eine Yogaposition halten. Randak liest die, wie | |
sie sagt, „relativ freie Übersetzung“ des Chants vor: „Selbst wenn du gut | |
aussiehst, wenn du einen schönen Partner hast, wenn du berühmt bist und | |
Berge von Geld besitzt: Wenn du nicht in der Lage bist, dich vor deinem | |
Lehrer zu verneigen – wozu ist das dann alles gut?“ | |
Unter Randaks Anleitung wechseln die Schüler:innen in die Hocke, drücken | |
die Knie mit den Ellenbogen auseinander und verschränken die Hände in | |
Gebetshaltung vor der Brust. | |
Was mit diesem Vers gemeint sei, erklärt Randak, sei die Notwendigkeit, in | |
Verbindung zu gehen. „Zu sich selbst, zu dem, was ist, zu Mutter Erde.“ | |
Jeder Mensch und jede Situation, die ihm im Leben begegne, könne als Lehre | |
verstanden werden; nachdem sie ihren „Talk“ beendet hat, leitet Randak die | |
Schüler:innen zu den ersten Sonnengrüßen an. | |
Nach der Stunde zieht sie sich einen überdimensionalen Hoody über den Kopf. | |
„Holy Shift“ steht darauf. Nach der Bedeutung gefragt, muss sie lachen. | |
„Zunächst mal ist das natürlich ein Scherz“, sagt sie. Holy Shift statt | |
Holy Shit. Aber ja, es stecke auch Wahrheit darin. Es lasse sich | |
tatsächlich ein wachsendes Bedürfnis in der Gesellschaft beobachten – ein | |
Bedürfnis nach Spiritualität. | |
## Yoga ist inzwischen an der Börse | |
Rebecca Randak betreibt den Yoga-Blog „Fuck Lucky Go Happy“. Zwischen | |
60.000 und 70.000 Besucher:innen habe die Seite monatlich, so Randak. Die | |
gebürtige Münchnerin, die zuvor in einer PR-Agentur gearbeitet hat, | |
beschäftigt zwei feste Mitarbeiterinnen und hat Dutzende Autor:innen, die | |
für sie schreiben. Als Bloggerin beobachtet sie die Entwicklung der | |
Yogaszene sehr genau. | |
„Vor fünf Jahren ging es noch darum, Yoga von seinem uncoolen | |
Räucherstäbchenimage zu befreien“, sagt Randak. „Wir wollten den Leuten | |
zeigen, dass sich Yoga mit einem urbanen Lebensstil vereinbaren lässt, aber | |
auch, dass Yoga sehr viel mehr ist als nur Sport – nämlich Philosophie; ein | |
tiefes Sich-selbst-Kennenlernen und die Verbindung zu der Welt um einen | |
herum.“ | |
Während Yoga mittlerweile fest im Leben vieler – vor allem mehr oder | |
weniger privilegierter – Menschen etabliert sei, sei derzeit ein neuer | |
Trend zu erkennen. Nämlich das, was Randak durchaus kritisch „den | |
Ausverkauf des Schamanismus“ nennt. „Plötzlich tragen alle Ponchos und | |
Federohrringe und hängen sich Panflöten um den Hals, weil sie so spirituell | |
sind.“ Eine Begleiterscheinung, die sie vom Yoga kennt. | |
Die Yogabranche ist zu einem Milliardenmarkt herangewachsen. Der | |
Bekleidungshersteller Lululemon, der in erster Linie Yogaleggings und | |
Sportleibchen verkauft, ist seit 2007 ein börsennotiertes Unternehmen. | |
„Aber um dieses ganze dekorative Beiwerk geht es halt nicht“, sagt Randak. | |
Die Bloggerin kann den Trend herleiten: „Ich glaube, dass der Schamanismus | |
den Menschen ein bisschen mehr in seiner Not sieht mit seinen alltäglichen | |
Problemen als Yoga “, sagt sie. | |
## Auf der Suche | |
Yoga bringe die Menschen zwar ins Fühlen zurück, zum Atem, ins Hier und | |
Jetzt. Was dann aber aufkomme, die Fragen, die Gefühle, die Traumata, das | |
alles werde im Yoga nur sehr allgemein beantwortet. | |
„Schamanismus dagegen bietet konkrete Tools und Praktiken, und auch | |
Rituale, die es ermöglichen, sich den ganz Seelenmüll anzugucken.“ | |
Gründe, warum sich Menschen spirituellen oder schamanistischen Methoden | |
zuwenden, gibt es also viele. Eine generelle Unzufriedenheit wie bei | |
Nathalie Geßler und Burn-out-Erfahrungen, wie Festivalgründer Tony | |
Sarantopoulos sie erlebt hat, können jemand dazu veranlassen, nach tiefer | |
gehenden Antworten zu suchen. Viele unterteilen ihr Leben dann, ähnlich wie | |
Konvertiten in klassischen Religionen, in ein Vorher und ein Nachher. | |
Andere finden über die Religion zu einer Spiritualität, die abseits der | |
klassischen Religionen liegt. Das belegt auch Heinz Streibs biografische | |
Religionsforschung. Neben der Gruppe der spirituellen Atheist:innen tauchen | |
„gleichermaßen religiöse, wie spirituelle“ Menschen in seiner Erhebung au… | |
Wieder andere schließlich befanden sich schlicht „schon immer“ auf der | |
Suche nach Antworten, wie Yogalehrerin Rebecca Randak. „Meine Mutter ist | |
Psychotherapeutin. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem man auch | |
große metaphysische Fragen gestellt und über die Dinge gesprochen hat“, | |
sagt sie. | |
Besonders der Tod ihres Stiefvaters und der ihres Großvaters haben Randak | |
nachhaltig beeindruckt. „Jeder, der schon mal einen toten Menschen gesehen | |
hat, weiß: Das ist zwar noch der Körper des Menschen, den man gekannt hat, | |
aber der Mensch selbst ist nicht mehr da.“ | |
Sie wollte wissen: Wo geht dieser Mensch hin und was ist es eigentlich, was | |
da geht? | |
22 Apr 2019 | |
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festgehalten. | |
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Ein Women's Circle soll helfen, die eigene Göttin in sich zu entdecken – | |
inklusive trantrischer Meditationen. Wahre Erleuchtung sieht anders aus. |