# taz.de -- Eroberungskrieg der Taliban: Die Schlinge zieht sich zu | |
> Die Taliban erobern unaufhaltsam afghanische Provinzen. Menschen auf der | |
> Flucht leben in Zelten aus Stöcken und Stoff – und sind auch in Camps | |
> nicht sicher. | |
Bild: Geflüchtete in Kabul am 10. August 2021. Doch auch hier fühlt sich niem… | |
KABUL/MEHTERLAM taz | Vom Berg her sind Schüsse zu hören. „Es ist zehn Uhr | |
morgens, das ist ungewöhnlich. Normalerweise wird hier nachts gekämpft. | |
Deshalb haben wir bei Sonnenuntergang immer Angst“, sagt Zabidullah. Die | |
Dorfältesten haben den 30-Jährigen zum Sprecher des provisorischen | |
Flüchtlingscamps in Mehterlam ausgewählt, der Hauptstadt der afghanischen | |
Provinz Laghman, rund acht Kilometer von ihrem Dorf Alinghar entfernt. | |
Kürzlich haben die [1][Taliban vier Distrikte von Laghman eingenommen]. Für | |
die Dorfbewohner gab es da nur eine Option: die Flucht. | |
Das Camp von Mehterlam liegt auf einem Stück staubigem Land neben der | |
Hauptstraße, die von der Stadt in die Berge führt. Es gibt hier nicht | |
einmal Zelte, sondern nur Tücher auf Holzstangen. Frauen und Kinder suchen | |
darunter Schatten: Jetzt, im Sommer, steigen die Temperaturen auf 45 bis 47 | |
Grad. In den vergangenen zwei Monaten sind rund 1.500 Personen hier | |
angekommen. | |
Zabidullahs Haus in Alinghar lag an der Frontlinie und wurde durch Beschuss | |
mit schwerer Artillerie zerstört. Auch das Haus des 60-jährigen Berhem | |
wurde so zerstört. Er zeigt Fotos von seinem Haus und Vieh. Sein Leben als | |
Hirte ist zerstört. „Es ist ein schmutziger Krieg, schmutziger als früher,�… | |
sagt Berhem. Niemand kämpfe im Namen des Islam, denn der sei eine Religion | |
des Friedens. | |
Männer, Frauen und Kinder aus dem Dorf von Berhem und Zabidullah sind | |
gestorben. Jedes provisorische Zelt hier beherbergt Überlebende und ihre | |
Geschichten von Tod und Verlust. Jetzt kämpfen sie hier täglich ums | |
Überleben. „Niemand hilft uns,“ klagt Zabidullah. Nur Nachbarn gäben den | |
Kindern manchmal etwas zu essen oder trinken. Doch von Hilfsorganisationen, | |
den Vereinten Nationen oder der Regierung käme nichts. Den Kindern, von | |
denen viele krank sind, ist das anzusehen. Sie können nur ganz selten | |
gewaschen werden. | |
## Das Vorrücken scheint unaufhaltsam | |
Unter einem Tuchverschlag sitzt eine Frau mit zwei kleinen Töchtern. Ihr | |
Mann wurde getötet. „Was soll ich jetzt alleine machen?“, fragt sie. Diese | |
Frage ist aus fast jedem der gebastelten Zelte zu hören, in dem Frauen und | |
Kinder sitzen. Habiba, 45, pflegt ihren schwer kranken Mann Chenargul. Der | |
ist 50, sieht aber aus wie 80 und atmet kaum. Er sagt kein Wort, manchmal | |
weint er nur. Im Camp gibt es keinen Arzt und keine Medizin. | |
„Wir fühlen uns hier nicht sicher,“ sagt Zabidullah. Letzte Nacht hätten | |
die Taliban hier an der Straße Militärfahrzeuge angegriffen. „Wir sind doch | |
hierher geflohen, um zu überleben. Aber wenn sie uns jetzt hier angreifen | |
und unsere Frauen nehmen, wie sollen wir uns dann verteidigen? Wir können | |
nirgends mehr hin, es gibt keinen Ausweg.“ | |
[2][Das Vorrücken der Taliban scheint unaufhaltsam]. Die Taliban | |
kontrollieren inzwischen mehr als die Hälfte der rund 400 Distrikte. Allein | |
in der vergangenen Woche nahmen sie neun von 34 Provinzhauptstädten ein: | |
Nimroz, Jowzjan, Sar-i-Pul, Takhar, Kunduz and Samangan. Um die Großstädte | |
Laschkar Gah, Kandahar und Herat wird gekämpft. Mit Luftangriffen | |
[3][unterstützen die USA die afghanischen Regierungstruppen]. Aber das | |
Problem liegt bei den Bodentruppen. Armee und Polizei sind korrupt und | |
haben trotz des Trainings keine geeinte Strategie. Sie sind demoralisiert | |
und anfällig für die Propaganda der Taliban. | |
Den höchsten Preis jedoch zahlt die Zivilgesellschaft. Das | |
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat seit Jahresbeginn 300.000 interne | |
Kriegsflüchtlinge gezählt. Die Afghanische Unabhängige | |
Menschenrechtskommission (AIHRC) geht sogar von 900.000 Flüchtlingen von | |
April bis Juni aus. Die Friedensgespräche zwischen Regierung und Taliban in | |
Doha sind festgefahren. | |
## Tausende Menschen hoffen auf einen Pass | |
Deborah Lyons, Chefin der UN-Mission für Afghanistan, warnte im | |
UN-Sicherheitsrat davor, dass der Konflikt sich auch auf andere Länder | |
auswirken könnte. Man befinde sich an einem Scheideweg. „Vor uns liegen | |
entweder echte Friedensgespräche oder eine Reihe von ineinander | |
verflochtenen Krisen: ein immer brutalerer Konflikt mit eskalierender | |
humanitärer Krise und vielfachen Menschenrechtsverletzungen.“ | |
Viele Afghan:innen fliehen in die Hauptstadt Kabul. Jeden Tag warten | |
2.000 Menschen vor dem Passamt, um dann ins Ausland zu kommen. Viele | |
fliehen auch ohne Papiere mit Hilfe von Schleppern. Laut Schätzungen der | |
Internationalen Organisation für Migration (IOM) verlassen aktuell | |
mindestens 30.000 Menschen jede Woche das Land. Auch der 35-jährige Ghulam | |
wartet in der Schlange. Er ist aus der Provinz Helmand geflohen. „Die | |
Taliban haben unsere Häuser besetzt und zu ihren Basen gemacht. Wir hatten | |
keine andere Wahl als zu fliehen. Aber unser Leben in Kabul ist elend. Wir | |
können doch nicht anderen zur Last fallen. Das Leben hier ist zu teuer und | |
auch gefährlich. Es gibt in Afghanistan keinen sicheren Ort mehr.“ Ghulem | |
versucht ein Visum für die Türkei zu bekommen. | |
In normalen Zeiten würde ihn das 140 US-Dollar kosten, aber jetzt „bekommst | |
Du kein Visum mehr, sofern Du keine Beziehungen oder nicht genug | |
Bestechungsgeld hast“, sagt er. Auf dem Schwarzmarkt werden für ein | |
Türkeivisum inzwischen 6.000 Dollar verlangt. „Das kann doch kaum einer | |
bezahlen.“ | |
Weil die Mieten in Kabul so hoch sind, ziehen viele Menschen in | |
selbstgezimmerte Unterkünfte aus Lehm, in PD5, einer Gegend am Stadtrand. | |
Dort fließen die Abwässer die Wege lang, auf denen barfüßige Kinder laufen. | |
Kharam Khans verlor in den 90er Jahren ein Bein, als die Warlords | |
Machtkämpfe austrugen. Er stammt aus Laschkar Gah und lebt jetzt in PD5 mit | |
seinen zwei Kindern und acht Enkeln. | |
„Ich bin zu alt zur Flucht und zu müde für noch einen Krieg. Aber was soll | |
aus den Kindern werden?“ | |
Übersetzung aus dem Englischen: Sven Hansen | |
11 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Francesca Mannocchi | |
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