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# taz.de -- Ermittlungen im Fall Mohammed Idrissi: Polizei schafft Bedrohung
> Warum musste Mohammed Idrissi sterben? Falsche Frage: Er musste nicht
> sterben. Er ist von der Bremer Polizei erschossen worden.
Bild: In diesem Innenhof wurde Mohammed Idrissi erschossen. Die Polizei sammelt…
BREMEN taz | Die Erschießung von Mohamed Idrissi durch die Bremer Polizei
droht folgenlos zu bleiben. Das ergibt sich aus Antworten der
Staatsanwaltschaft über den Stand der Ende Januar [1][erneut aufgenommenen]
Ermittlungen. Idrissi war psychisch krank. Am 18. Juni 2020 hatten Bremer
Polizist*innen [2][ihn genötigt, seine Wohnung zu verlassen].
Das Eintreffen des anrückenden Sozialpsychiatrischen Krisendiensts haben
sie nicht abgewartet. Spätestens im Innenhof der Wohnanlage entglitt ihnen
die Kontrolle. Um 14.10 Uhr schoss einer von ihnen auf den 54-Jährigen. Der
erlag wenig später seinen Verletzungen. Es seien „keine gesonderten, neuen
Ermittlungsverfahren eingeleitet“ worden, hat die Staatsanwaltschaft nun
auf Anfrage der taz mitgeteilt.
Bedeutet: Zwar hat Idrissis Tochter Aicha Meisel-Suhr mit anderen
Angehörigen [3][eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erzwungen]. Aber auch
in deren zweiter Auflage werden weder der Schütze noch seine
Kolleg*innen bislang als Beschuldigte geführt. Entsprechend ist er
„weiterhin im Einsatzdienst und damit auch im Außendienst tätig“, wie das
Innenressort mitteilt. Auch die anderen Beteiligten seien „wieder im
Einsatz“, bewaffnet und in Uniform.
Immerhin wird laut Staatsanwaltschaft „voraussichtlich ein ergänzendes,
rechtsmedizinisches Gutachten in Auftrag gegeben“. In Auftrag geben. Drei
Monate nach Neubeginn der Untersuchung – nein, man hat es wahrlich nicht
eilig, mit dem, was Aufklärung sein sollte.
## Beim Sterben zuschauen
Das rechtsmedizinische Gutachten muss klären, ob die Beamt*innen ihr
Opfer noch hätten retten können: Nachdem Mohamed Idrissi von Kugeln in die
Brust getroffen zusammengebrochen ist, entscheiden die Polizist*innen
nämlich, ihn nur zu fesseln und dann liegen zu lassen.
Es gibt Aufnahmen, die zeigen, wie vier Beamt*innen rumstehen, während
sich unter seinem Körper eine Blutlache bildet. Nicht einmal in stabile
Seitenlage gebracht wird der 54-Jährige. „Die Erstversorgung eines
Verletzten nach einer Schussverletzung muss selbstverständlich immer so
schnell wie möglich erfolgen“, teilt dazu die Innenbehörde mit, allerdings
„ohne Selbstschutzmaßnahmen zu gefährden“.
Irgendwann, nach quälend langen Minuten, trifft dann ein zweites
Polizeiteam ein. Es fordert die anderen Beamt*innen auf, die
Handschellen aufzuschließen, damit es möglich würde, dem mit dem Tode
Ringenden Erste Hilfe zu leisten – zu spät.
Jan van Lengerich, Anwalt der Angehörigen, [4][sieht darin] „mindestens
Totschlag durch Unterlassen“, sofern es nicht darum gehen sollte, das zu
[5][vertuschen], was vorher falsch gelaufen war. „Die Beteiligten müssen in
dem Moment schon kapiert haben, dass sie hier Mist gebaut hatten“, sagt
Lengerich.
Das sieht die Staatsanwaltschaft anders, völlig, will sie anders sehen:
„Die Umstände der Begleitung des Herrn Idrissi aus der Wohnung vor dem
Eintreffen des Krisendienstes waren bereits vor der Wiederaufnahme der
Ermittlungen geklärt“, teilt sie mit. Die hätten keinerlei Mängel gehabt,
nur sei halt vom Anwalt der Tochter des Verstorbenen neues Beweismaterial
vorgelegt worden.
„Hierbei handelt es sich um Videoaufnahmen, die ihm bzw. seiner Mandantin
von dritten Personen übergeben worden waren“, heißt es auf Anfrage der taz.
„Diese Aufnahmen waren den Ermittlungsbehörden bis dahin nicht bekannt.“
Dennoch ist man sich bei der Staatsanwaltschaft sicher, dass schon bei der
rechtlichen Würdigung des Einstellungsbeschlusses, [6][der hier nur Notwehr
hatte erkennen können], „das gesamte Geschehen berücksichtigt“ worden sei.
Wer sich aber die Mühe macht, Umstände und Hergang der Tat zu
rekonstruieren, muss das bezweifeln.
Breitenbachhof – so heißt die Wohnanlage in Gröpelingen, in der Mohamed
Idrissi seit Jahren lebte. „Kommunikationsschwierigkeiten gab es nie“,
teilt Marc Bohn mit, der Vorstandsvorsitzende der [7][Eisenbahner Spar- und
Bau-Genossenschaft] (Espabau) mit. Ein akutes Problem schon: Im Keller gab
es einen Wasserschaden.
Als dessen Urheber galt Idrissi. Dessen paranoide Schizophrenie war
aktenkundig. Er hatte einen Waschzwang entwickelt. Und das Wasser habe den
Haus-Verteiler „in Mitleidenschaft gezogen“, sagt Bohn.
Die Polizei sei gerufen worden, „um festzustellen, ob durch die
Durchfeuchtung der elektrischen Anlage eine Eigen- und/oder Fremdgefährdung
vorlag“ – nicht aber, um die Wohnung zu räumen. Zu keinem Zeitpunkt habe
die Absicht einer sofortigen Räumung der Wohnung bestanden. „Eine sofortige
Räumung wäre von Rechtswegen her nicht möglich gewesen“, schreibt Bohn der
taz.
Espabau hatte zuvor auch den Betreuer von Mohamed Idrissi über die geplante
Wohnungsbegehung informiert. Wenn nun der das Krisen-Interventions-Team des
Sozialpsychiatrischen Dienst (KID) in Bewegung setzt, ruft das routinemäßig
auch die Polizei.
Das würde erklären, warum eine zweite Streifenwagenbesatzung, kurz nach der
Tat, am Ort des Geschehens aufgetaucht ist. Es erklärt aber nicht, warum
die Beamt*innen in der Wohnung nicht die zehn Minuten noch auf die
sozialpsychiatrischen Fachkräfte warteten.
Um 14.20 Uhr trifft das KID-Team ein, pünktlich, aber doch zu spät: Weder
hat es im Stau gesteckt, noch hat sich die Anfahrt anderweitig verzögert,
[8][versichert die Gesundheitsbehörde]. Allen Daten zufolge „war die Zeit
nicht unüblich lang“. Trotzdem ist Idrissi da schon tödlich getroffen.
Hätten die Polizist*innen am Ende gar nicht mitgekriegt, dass die
Fachleute vom Krisendienst anrücken? „Wir wissen aus den Funkprotokollen,
dass es eine klare Anweisung gab, auf die zu warten“, sagt Aicha
Meisel-Suhr. „Die ging direkt an den späteren Schützen.“
Schleierhaft bleibt ohnehin, warum die Beamt*innen Idrissi ohne
Räumungsbeschluss aus seiner Wohnung zitieren. „Es war doch keine Gefahr im
Verzug“, sagt Meisel-Suhr. „Es ging doch für niemanden um Leib und Leben!�…
## In die Enge getrieben
Draußen, im durch parkende Autos und einen Möbeltransporter beengten
Innenhof der Wohnanlage, umzingeln die Polizist*innen Mohamed Idrissi.
Pistolen richten sie auf ihn. Er sei „nicht als gewaltbereit bekannt“
gewesen, lautet die Einschätzung des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Auch
hier wirkt er eher in die Enge getrieben: hilflos, wie ein Tier, das nicht
in den Käfig gesperrt werden will.
Das zeigen Videos, aufgenommen per Handy von Anwohner*innen. Nur, wer die
Sequenzen zusammen sichtet, erhält einen schlüssigen Ablauf. Und [9][der
beginnt damit, dass die Polizist*innen Idrissi mit vorgehaltener Waffe
zwingen], ihnen einen Gegenstand zu zeigen. „Was haben Sie da?“ Er hält ihn
hoch. Länglich ist er, und er steckt in einem schwarzen Etui.
„Was ist das“, fahren sie ihn an. Er zieht das Ding aus der Hülle. Es ist
ein Messer. Daraufhin schreien die Polizist*innen: „Leg das Messer weg!“
Idrissi beteuert, eine Genehmigung dafür zu haben, es mitzuführen. Er will
das Papier aus der Hosentasche kramen. Die Polizei will es nicht sehen.
Stattdessen wieder: Schreie.
## Schreiende Beamt*innen
Er packt das Messer in die linke Hand. Die Spitze zeigt zu Boden. Der Arm
ist locker angelegt. Er krempelt sein Hemd hoch, zeigt den
Polizist*innen die Innenseite der Arme: Will er sich die Pulsadern
aufschneiden? Er hopst ein wenig. Die Beamt*innen schreien.
Dann beschließen sie, Idrissi mit Pfefferspray zu besprühen. Das bringt ihn
dazu, loszurennen, panisch, eine Flucht. Der Polizist, der diese provoziert
hat, indem er mit der Linken den Sprühknopf der Reizgas-Dose betätigt, hat
mit der Rechten schon zur Pistole gegriffen und sie entsichert, um Notwehr
zu üben: Er schießt. Und er trifft.
„Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert
hat“, hat der Bundesgerichtshof 2019 [10][in der Frage der herbeigeführten
Notwehr entschieden], „darf er von seinem grundsätzlich gegebenen
Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein
lebensgefährliches Mittel einsetzen“. Außer er ist Bremer Polizist.
11 May 2021
## LINKS
[1] /Nach-Todesschuessen-in-Bremen/!5743512
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_13.html
[3] https://justiceformohamed.org/
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__13.html
[5] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__211.html
[6] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__32.html
[7] https://www.espabau.de/
[8] https://www.gesundheit.bremen.de/das_ressort/senatorin-16853
[9] https://www.facebook.com/Justice-for-Mohamed-101896011582573/videos
[10] http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Geric…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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