# taz.de -- Energiewende und Erdgas: Eine toxische Beziehung | |
> Die EU will Investitionen in Gaskraft mit einem Öko-Siegel attraktiv | |
> machen. Das sorgt für viel Kritik – auch wenn neue Kraftwerke nötig sind. | |
Bild: Eine keineswegs Co2-freie Energieproduktion: Gaskraftwerk im westfälisch… | |
BERLIN taz | Energiewende und Erdgas führen eine toxische Beziehung, die | |
enden muss – obwohl der fossile Energieträger oft als Brückentechnologie | |
bezeichnet wird. Schließlich verursacht er Treibhausgas-Emissionen. Es ist | |
faktisch falsch zu behaupten, dass Gas nachhaltig sei. Trotzdem wird die EU | |
wohl bald genau das offiziell tun. Geld für Gaskraftwerke – und für | |
Atomanlagen – sollen unter Auflagen übergangsweise als grüne Investition | |
gelten. Das sehen die Pläne der EU für die sogenannte Taxonomie vor. Damit | |
soll ein europäisches Ökosiegel für grüne Finanzinvestments geschaffen | |
werden. | |
In Deutschland sorgt für fast einhellige Empörung, dass Atomkraft als | |
nachhaltig gelten soll. Bei Gas dagegen gehen die Meinungen auseinander. | |
Die einen verweisen auf die schlechte Co2-Bilanz, die anderen darauf, dass | |
ein Land wie Deutschland auch auf dem Weg zur Klimaneutralität neue | |
Gaskraftwerke braucht. Es ist wie oft in toxischen Beziehungen: | |
kompliziert. | |
Dass Deutschland mehr Gaskraftwerke braucht, ist nicht falsch. Das ergeben | |
alle großen Studien zur Klimaneutralität. Würde das Energiesystem mit einer | |
Postwachstumsstrategie modelliert, was diese Studien nicht tun, sähe die | |
Sache vielleicht anders aus. Aber dass Deutschland sich vom | |
Wirtschaftswachstum abwendet, kann ohnehin niemand behaupten. Deshalb | |
dürfte der Bedarf an Strom stark steigen; auch weil Autos in Zukunft nicht | |
mehr mit Sprit, sondern mit Strom fahren. Gleichzeitig will die | |
Ampel-Regierung nach dem baldigen Atomausstieg laut Koalitionsvertrag | |
„idealerweise“ bis 2030 den Kohleausstieg absolviert haben. | |
Zum Ausgleich ist vor allem der Ausbau erneuerbarer Energien nötig. Aber | |
Windräder und Solaranlagen, die wichtigsten erneuerbaren, sind | |
wetterabhängig. Mit dem Ausbau von Speichern und Netzen muss dafür gesorgt | |
werden, dass Strom dahin transportiert werden kann, wo er gerade gebraucht | |
wird. Auch erforderlich sind Kraftwerke, die jederzeit hoch- oder | |
heruntergeregelt werden können. Das sollen später Anlagen sein, die mit | |
Wasserstoff betrieben werden, der auf (Öko-)Strombasis hergestellt wurde. | |
Noch sind solche 100-Prozent-Wasserstoffkraftwerke nicht marktreif. Die | |
Lücke füllen sollen Gaskraftwerke, die mit – so die Hoffnung – relativ | |
wenig Aufwand auf Wasserstoff umgestellt werden können. | |
## Uneinigkeit über nötige Kapazitäten | |
„In der Tat brauchen wir für die Energiewende einen deutlichen Ausbau der | |
Kraftwerkskapazitäten zur Stromerzeugung aus Gas“, sagt der Physiker Gunnar | |
Luderer, Professor für globale Energiesystemanalyse an der Technischen | |
Universität Berlin und Forscher am Potsdam-Institut für | |
Klimafolgenforschung. „Diese werden nur an wenigen Tagen im Jahr benötigt, | |
müssen aber in der Lage sein, Engpässe bei geringem Angebot von Wind- und | |
Sonnenstrom auszugleichen.“ | |
Expert:innen sind uneinig, wie viele neue Gaskraftwerke gebraucht | |
werden. Aktuell gibt es Gaskraftwerke mit einer [1][Leistung von rund 27 | |
Gigawatt], etwa einem Achtel der Gesamtleistung. Der Bundesverband der | |
Deutschen Industrie geht in seiner Studie [2][„Klimapfade 2.0“] von 74 | |
Gigawatt im Jahr 2030 und 88 Gigawatt im Jahr 2045 aus, wenn Deutschland | |
klimaneutral sein soll. In der Studie [3][„Klimaneutrales Deutschland | |
2045“] sieht das anders aus. Die haben die Stiftung Klimaneutralität und | |
die Thinktanks Agora Energiewende und Agora Verkehrswende beauftragt. Im | |
Jahr 2030 werden demnach Gaskraftwerke mit einer Leistung von 43 Gigawatt | |
benötigt, bis 2045 sind es 71 Gigawatt. In der [4][Leitstudie] der | |
staatlichen Deutschen Energieagentur ist die Rede von 47 Gigawatt | |
respektive 59 Gigawatt. | |
## Energiewende aus toxischer Beziehung lösen | |
In einem Punkt sind sich die Studienautor:innen aber einig: | |
Deutschland braucht neue Gaskraftwerke. Ob Investitionen in die Anlagen | |
deshalb nun ein europäisches Ökolabel verdienen, steht aber auf einem | |
anderen Blatt. „Die EU-Entscheidungen zur Taxonomie sind falsch und | |
rückwärtsgewandt“, meint die Energieökonomin Claudia Kemfert, Leiterin der | |
Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für | |
Wirtschaftsforschung. Ihre Sorge ist, dass zu wenig Geld in die | |
erneuerbaren Energien fließt. „Das unnötig lange Konservieren der | |
Vergangenheit führt nur dazu, dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung | |
mit erneuerbaren Energien behindert wird“, sagt sie. | |
Auch Physiker Gunnar Luderer betont, dass Erdgas nicht nachhaltig ist. „Die | |
Verbrennung von fossilem Erdgas erzeugt erhebliche CO2-Emissionen“, sagt | |
er. „Erschwerend kommt hinzu, dass es bei der Förderung und dem Transport | |
von Erdgas [5][zu erheblicher Methanleckage kommt].“ Manche Untersuchungen | |
kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass fossiles Gas nicht klimafreundlicher | |
ist als Kohle. | |
„Es ist aber wichtig, anzuerkennen, dass der Entwurf der EU-Taxonomie durch | |
ambitionierte Grenzwerte die sukzessive Umstellung auf CO2-arme Gase | |
bereits angelegt hat“, sagt Luderer. Der entscheidende Hebel für die | |
Umstellung auf eine klimafreundliche Energieversorgung sei ohnehin der | |
CO2-Preis. „Ist dieser hoch genug, entsteht ein starker Anreiz, um auf | |
klimaneutralen Wasserstoff umzustellen und so die Gaskraftwerke zu | |
nachhaltigen Investitionen zu machen.“ Und die Energiewende aus ihrer | |
toxischen Beziehung zu lösen. | |
9 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.umweltbundesamt.de/daten/energie/kraftwerke-konventionelle-erne… | |
[2] /C:/Users/schwa/AppData/Local/Temp/211129_bdi-klimapfade-20-gesamtstudie.pdf | |
[3] https://static.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2021/2021_04_KNDE45… | |
[4] https://www.dena.de/fileadmin/dena/Publikationen/PDFs/2021/Abschlussbericht… | |
[5] /Emissionen-durch-Lecks-in-Gasleitungen/!5818954 | |
## AUTOREN | |
Susanne Schwarz | |
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