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# taz.de -- EncroChat-Verfahren: Eine Nummer zu dick
> Der Hack der EncroChats wurde von den Ermittlern als Erfolg gefeiert. Nun
> mehren sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abhöraktion.
Bild: Razzia in Sachen EncroChat im Oktober 2021 in einem Gewerbegebiet in Berl…
Berlin taz | Auf den ersten Blick las sich die Pressemitteilung von
Staatsanwaltschaft und Polizei wie eine normale Erfolgsmeldung: Wegen des
Verdachts des bewaffneten Betäubungsmittelhandels in nicht geringer Menge
hatte die Polizei in Berlin am 26. Januar elf Orte durchsucht.
Neben knapp 100.000 Euro Bargeld seien mehrere Kilogramm Drogen,
hauptsächlich Marihuana, beschlagnahmt worden, hieß es. Die Drogen, zu
einem Großteil in einer „Bunkerwohnung“ entdeckt, seien vermutlich für den
Straßenhandel am Kottbusser Tor bestimmt gewesen. Die Ermittlungen
richteten sich gegen mindestens sechs Männer im Alter von 24 bis 39 Jahren
und würden auf Grundlage der Auswertung sogenannter EncroChat-Daten
geführt.
[1][EncroChat – nur wenigen Menschen ist das ein Begriff]. Tatsächlich
handelt es sich um ein verschlüsseltes, besonders gegen Abhörmaßnahmen
gesichertes sogenanntes Krypto-Handy. Nach Auffassung von Ermittlern wurden
EncroChat-Geräte weltweit fast ausschließlich von Kriminellen genutzt, um
mittels des Messengerdienstes mit Waffen und Drogen zu handeln.
Der von der Firma EncroChat in Roubaix in Frankreich betriebene Server
wurde im Frühjahr 2020 von Sicherheitsexperten gehackt. Es handelte sich um
einen riesigen Coup europäischer Sicherheitsbehörden, und immer mehr
spricht dafür, dass auch Nachrichtendienste beteiligt waren.
## Trojanersoftware installiert
Sowohl auf dem Server als auch auf den Handys, die mit dem Server verbunden
waren, wurde von den Ermittlern eine [2][Trojanersoftware] installiert. Die
auf den betroffenen Geräten gespeicherten und ausgetauschten Daten wurden
abgefangen, kopiert und analysiert. Betroffen von dem Cyberangriff waren
rund 32.500 Nutzer von EncroChat in 121 Ländern.
Die Abfangmaßnahme dauerte knapp drei Monate, bis der Betreiber von
EncroChat argwöhnisch wurde und den Server im Juni 2020 stilllegte. Seither
kommt es in ganz Europa zu Festnahmen. Allein in Deutschland sind mithilfe
der EncroChat-Daten über 1.000 Haftbefehle erlassen worden, 40 wurden in
Berlin vollstreckt.
Über Frankreich und Europol wanderten die im Überwachungszeitraum
abgefangenen Daten nach Deutschland zum Bundeskrimiminalamt. Das BKA
leitete diese nach Erstsichtung an die einzelnen Bundesländer weiter. Die
Zuordnung erfolgte nach dem Standort der Funkmasten, in die sich die „User“
(Polizeijargon) bei der Kommunikation eingewählt hatten. Verwendet hatten
die User beim Austausch von Chats und Fotos mehrheitlich Pseudonyme.
## Details unter der Decke gehalten
Ob und wenn ja ab wann das BKA in den EncroChat-Hack eingebunden war, ist
nicht öffentlich bekannt. Auch andere zentrale Details werden unter der
Decke gehalten. Auch in Berlin ist das eine dicke Nummer, das zeigte sich
am Mittwoch im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses.
Als sie in der Sitzung über den Stand der EncroChat-Verfahren in der
Hauptstadt berichtete, versuchte [3][Generalstaatsanwältin Margarete
Koppers] jeglichen Verdacht zu zerstreuen, die EnroChat-Verfahren seien
„geheimnisumwittert“. Im Nachsatz bestätigte Koppers dann allerdings, was
längst offenkundig ist: „Die genauen technischen Details der Abhörsoftware
unterliegen in Frankreich der militärischen Geheimhaltung“. Auch den
deutschen Behörden seien die Details nicht bekannt, erklärte die
Generalstaatsanwältin.
Der gleichfalls zur Sitzung geladene Chef des Landeskriminalamtes,
[4][Christian Steiof], berichtete, in Berlin seien im EncroChatverfahren
1,6 Millionen Chatdaten verortet – von ingesamt 12 Millionen Daten, die das
BKA aus Frankreich erhalten habe. Die Chats würden in Berlin komplett
ausgewertet. Man gehe derzeit von 736 Usern aus, die vorwiegend in Berlin
aktiv gewesen seien. Eine Vielzahl der Chats müsse übersetzt werden, weil
die Kommunikation in anderen Sprachen erfolgt sei.
Dass die Chats zunächst entschlüsselt und dann konkreten Personen
zugeordnet werden müssen, erklärt, warum es erst so viel später zu
Durchsuchungen und Festnahmen kommt. Und: „Es sind noch nicht alle“,
kündigte Steiof an. 257 User seien inzwischen mit Klarnamen identifiziert.
Koppers zufolge ist in 17 Fällen Anklage erhoben worden, ein Urteil gegen
acht Angeklagte sei bereits ergangen. Dreimal Bewährung, ansonsten
Haftstrafen, 6,2 Jahre das höchste. 47 Vermögensarrestierungen im Wert von
24 Millionen seien zudem bisher erfolgt. 718.000 Euro seien beschlagnahmt.
In 70 Fällen werde an einer Vermögensabschöpfung gearbeitet. „Es wird
täglich mehr.“
Das Prozedere der Beweisführung läuft so: Wenn sich aus den Chatverläufen
ergibt, dass der Tatverdächtige in einem bestimmten Zeitraum mit großen
Mengen Drogen gehandelt hat, reicht das für eine Anklage aus. „Es ist nicht
unbedingt erforderlich, diese Mengen auch tatsächlich dinglich
beschlagnahmt zu haben,“ sagte Olaf Schremm, Leiter des
Rauschgiftdezernats, zur taz.
Das Tatgeschehen wird aus den abgefangenen Chats sowie aus geposteten Fotos
von zum Kauf angebotenen Drogen und Waffen rekonstruiert. Was da an Mengen
abgebildet sei, habe ihn überrascht, sagte Alexander Malinowski, Leiter der
EncroChat- Abteilung im LKA zur taz. Die User hätten sich vollkommen sicher
gefühlt. Auch über Preise und Übergabeorte sei in den Chats völlig frei
verhandelt worden, wie auf einem öffentlichen Basar.
Wenn die Chats das einzige Beweismittel sind, kommt es umso mehr darauf an,
dass die Daten aus dem EncroChat-Hack integer sind. Um die fehlende
Transparenz wird vor deutschen Gerichten derzeit bundesweit gestritten.
Verteidiger haben schon in mehreren Prozessen die Verwertbarkeit der Daten
angezweifelt. Anders als in anderen europäischen Ländern gilt in
Deutschland ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot von
Nachrichtendiensten und Polizei.
## Zum Militärstaatsgeheimnis erklärt
„Vieles spricht dafür, dass die Daten mit nachrichtendienstlichen Mitteln
gewonnen wurden. Nach deutschem Strafrecht wären sie damit ein unzulässiges
Beweismittel“, sagt Andy Müller-Maguhn, unabhängiger IT-Berater und
Datenjournalist aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs, zur taz. „Der Weg,
wie die EncroChat-Daten von den Mobiltelefonen bzw. der
Kommunikationsstrecke gewonnen und dann über Europol zum BKA gelangt sind,
ist völlig undokumentiert und wurde in Frankreich zum
Militärstaatsgeheimnis erklärt“.
Damit, so Müller-Maguhn, sei weder eine Überprüfbarkeit des Datenursprungs
noch der Datenintegrität möglich. Bestätigt sieht sich Müller-Maguhn auch
durch ein in einem EncroChat-Prozess vor dem Landgericht Leipzig
erstatteten forensisch-informationstechnologischen Gutachten.
In dem Gutachten, Stand 2. Februar 2022, das der taz in Auszügen vorliegt,
kommen die Verfasser Arwid Zang und Paul Werther zu folgendem Schluss: „Die
Authentizität und Integrität der Daten können nicht sicher bestätigt
werden, ohne die genaue Funktionsweise des in Frankreich eingesetzten
Trojaners zu kennen bzw. ohne Einblick in die von den französischen
Behörden versiegelten Rohdaten zu erhalten.“
Weiter heißt es in dem Gutachten: Auch über den exakten Einfluss der
Programme, welche vom BKA zur Konvertierung verwendet wurden, könne in dem
Gutachten nicht befunden werden, da „diese nicht durch das BKA zur
Verfügung gestellt wurden.“
Die Rechtslage sei kompliziert, räumte Generalstaatsanwältin Koppers am
Mittwoch im Rechtsausschuss ein. Aber die Ermittlungsbehörden seien
zuversichtlich. Bundesweit hätten fast alle Oberlandesgerichte inzwischen
die Verwertbarkeit der Daten als Beweismittel bejaht. Was allerdings noch
fehle, sei ein höchstrichterliches Urteil.
## Schwerwiegende Rechtsverstöße
Einzig eine Strafkammer beim Landgericht hatte im Mai 2020 die Eröffnung
eines EncroChat-Verfahrens abgelehnt. Begründet worden war das unter
anderem damit, dass die Erhebung der Daten durch die französischen
Ermittlungsbehörden sowohl gegen die europäischen Rechtshilfevorschriften
als auch gegen deutsche Vorschriften zur Überwachung der Telekommunikation
verstoße. Die Überwachung sei ohne das Vorliegen eines dafür erforderlichen
Tatverdachts erfolgt. Die Rechtsverstöße seien so schwerwiegend, dass sie
zu einem Beweisverbot führten.
Allerdings ist diese Entscheidung inzwischen hinfällig. Die
Staatsanwaltschaft hatte gegen den Beschluss vor dem Kammergericht
Beschwerde eingelegt. Das höchste Berliner Gericht gab dem Antrag mit der
Begründung statt, die EncroChat-Daten seien als sogenannte „Zufallsfunde“
anzusehen. Die Verwertung sei gemäß Strafprozessordnung zulässig. Aufgrund
des in Europa geltenden Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gelte ein
eingeschränkter Prüfungsmaßstab. Fazit des Kammergerichts: Die nach
französischem Recht gewonnenen Erkenntnisse dürfen verwertet werden.
## Zweifel auch in Frankreich
Allerdings mehren sich auch in Frankreich Zweifel an den Maßnahmen, wie das
Magazin ComputerWeely.com jetzt berichtete: Der französische „Cour de
Cassation“ habe in einer Sitzung am 1. Februar beschlossen, wegen
verfassungsrechtlicher Zweifel die Zulässigkeit des Hackings dem „Conseil
constitutionel“ vorzulegen, einer Art Verfassungsrat.
Würde dieser die Verfassungswidrigkeit feststellen, dürften deutsche
Gerichte die gewonnenen Beweismittel kaum verwerten können.
Ungeachtet dessen geht Berlins neue [5][Justizsenatorin Lena Kreck] (Linke)
davon aus, dass es zu weiteren Verhaftungen im Zusammenhang mit EncroChat
kommen wird. Im Rechtsausschuss kündigte Kreck an, dafür in der
U-Haft-Anstalt Moabit freie Plätze schaffen wollen. Auch Staatsanwaltschaft
und Gerichte sollen personell verstärkt werden.
10 Feb 2022
## LINKS
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[4] /Zwei-Jahre-nach-dem-Breitscheidplatz-Attentat/!5556215
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## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Handy
Trojaner
Polizei Berlin
Justiz
Schwerpunkt Überwachung
Innensenatorin Iris Spranger
Organisierte Kriminalität
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