# taz.de -- Eis essen im Sommer: Schneedöner und Stickstofffrost | |
> Kugel? In der Waffel? Langweilig. Die Eiscreme wird neu erfunden. Ein | |
> Sommerspaziergang durch Berlins Gelaterien. | |
Bild: Disconebel in der Eisdiele – das gibt es bei Woop Woop | |
Das ist doch kein Eis! Was da in den Behältern hinter der Theke des | |
[1][Woop Woop] schwimmt, erinnert eher an eine Suppenküche: milchige Plörre | |
mit Deko am Rand. Als ich dann aber bestelle, wird die Milch-Sahne-Soße in | |
einer goldenen Rührschüssel mit frischen Zutaten vermengt, unter eine Art | |
Riesenmixer gestellt und, zzzsssschhhhh, schockgefrostet – mit | |
Flüssigstickstoff, bei minus 196 Grad. Disconebel füllt die Eisdiele, woop | |
woop! Das freut auch die anwesenden Kinder, aber die freuen sich ja immer | |
über Eis. | |
Das Woop Woop liegt in Berlin-Mitte, zwischen Hostels und Start-ups, seit | |
2016 wird hier direkt vor den Augen der Kundinnen und Kunden Eis gezaubert. | |
Wobei, gezaubert: Stickstoff – er ist zu 78 Prozent in der Luft enthalten, | |
also nicht giftig – ist bei Temperaturen von unter minus 196 Grad flüssig. | |
Gibt man diese Flüssigkeit mit in die goldene Schüssel, entnimmt sie den | |
Zutaten Wärmeenergie, um zu verdampfen. Der Stickstoff wird zu Nebel, die | |
Sahnesoße friert zu Eis. Das hat durch die Schockfrostung die | |
kleinstmöglichen Wasserkristalle und soll besonders cremig und | |
geschmacksintensiv sein. Eigentlich geht es also um Wissenschaft. Aber eben | |
auch um den Effekt. | |
Jeden Monat gibt es fünf neue Sorten im Woop Woop, ich habe mich für | |
Kokos-Eis mit in Butter und Zimt gerösteten Ananasstückchen entschieden. | |
Tatsächlich ist das Eis sehr cremig, und irgendwie auch besonders kalt – | |
bisher hatte ich immer gedacht, Kälte bei Speiseeis ließe sich genauso | |
wenig steigern wie die Farbe Schwarz. | |
Auch das Mascarpone-Eis mit Stracciatella-Stückchen und Erdbeer-Wirbeln ist | |
lecker, den Geschmack habe ich nach einer halben Stunde trotzdem schon | |
wieder vergessen. Das schwere Gefühl im Bauch hält länger, obwohl die | |
kleinste Portion (4,40 Euro) nicht besonders riesig wirkt. Das liegt wohl | |
an der hohen Dichte – durch die schnelle Herstellung wird weniger Luft ins | |
Eis gemischt als normalerweise. | |
## Früher war mehr Stracciatella | |
Während ich einen Verdauungsspaziergang mache, muss ich an früher denken. | |
Als man Eis grundsätzlich „beim Italiener“ kaufte, die Sorten sich auf | |
Vanille, Schokolade oder Stracciatella beschränkten und das einzige | |
„Topping“ das Augenzwinkern des Kellners war. Damals trug ich im Sommer | |
keine Schuhe, aber mein gesamtes Taschengeld ins Pierod, die Eisdiele | |
meines süddeutschen Heimatorts. Jeden Tag sagte ich an der Theke denselben | |
Satz auf: Schoko und Zitrone in der Waffel, bitte. | |
Doch irgendwann, etwa Ende der Nullerjahre, wurde aus Eis mehr als nur Eis. | |
Ich lebte inzwischen in Prenzlauer Berg in Berlin, und überall machten | |
Eisdielen auf, die bio und regional waren. Noch immer erinnere ich mich | |
plastisch an die Verzweiflung, als ich einen heißen Sommer lang versuchte, | |
eine Kugel Schokolade zu kaufen. Einfach nur Schokolade. Ohne Chili. Am | |
Ende besorgte ich mir aus Frust im Späti nebenan ein Cornetto. | |
Und jetzt, wo endlich alle Sorten durch sind, von Spargel über Weiße | |
Schokolade mit Parmesan bis Süßkartoffel, verschwindet das, was trotz aller | |
Experimente immer gleich geblieben ist: die Kugel. Jetzt findet die | |
Innovation einen Schritt vorher statt. Bei der Herstellung. | |
## Jedes Eis ein Unikat | |
Das gilt auch fürs [2][California Pops], die nächste Eisdiele, kurz vorm | |
Mauerpark, wo sich sonntags in Prenzlauer Berg die Touristenmassen Richtung | |
Flohmarkt und Open-Air-Karaoke schieben. Passend zum Coffee-to-go gibt es | |
Eis am Stiel, aber wer dabei an Flutschfinger, Magnum oder Ed von Schleck | |
denkt, liegt falsch: Hier wird kein Industrieeis verkauft, sondern mit | |
natürlichen Zutaten und ohne Farb- und Konservierungsmittel gearbeitet. Die | |
Schokoladenvariante ist wie eine Tafel mit Stücken geformt, im Kiwieis | |
sieht man die Kerne schimmern und die Joghurt-mit-Früchte-Varianten haben | |
Farbverläufe wie Batikshirts aus den 90ern. Jedes Eis ein Unikat. | |
Die quietschbunte Auslage macht Einiges her, ich entscheide mich aus | |
Völlegründen gegen Karamell-Salz und kaufe Gurke-Limette (2,50 Euro), auch, | |
weil die gefrorene Gurkenscheibe so schön aussieht. Nach dem ersten Schleck | |
wünsche ich mir sehnlich einen Moscow Mule herbei, darin wäre das Eis | |
besser aufgehoben. Vielleicht bin ich spießig, aber Eis muss süß sein, | |
nicht gemüsig. Die Konsistenz hingegen ist nicht uninteressant, sie | |
erinnert an gefrorenes Püree. Falls jemand Kartoffelpü-Eis mit | |
Bratwursttopping erfinden sollte, bin ich trotzdem raus. | |
Die letzte Eisdiele des Tages ist ebenfalls nur ein paar Straßen entfernt | |
und hat erst Ende Juni eröffnet: das [3][Tenzan Lab]. Der dunkelblaue | |
Vorhang mit dezentem, weißen Muster – erst auf den zweiten Blick erkennt | |
man eine stilisierte Frau mit langen Haaren –, die reduzierte Einrichtung | |
und die quaderförmige Theke vor dunkelgrauen Wänden wirken eher wie eine | |
Cocktailbar, die MitarbeiterInnen tragen weiße Laborkittel. Die meisten | |
Gäste sind hippe Paare, deren Einzelkinder auf den minimalistischen | |
Barhockern ein bisschen wie Fremdkörper wirken. | |
Aber hier gibt es schließlich auch kein normales Eis, sondern die | |
japanische Variante: Kakigōri. Im Prinzip Döner, nur dass anstelle von | |
Fleisch ein Eisblock geschabt wird. Erst im Anschluss wird mit Soßen und | |
Toppings der Geschmack hinzugefügt. Ein Baby schaufelt genussvoll | |
Mango-Kakigōri, ein kleines Mädchen betrachtet andächtig, wie eine | |
Mitarbeiterin von Hand die Kurbel am mintfarbenen „Ice Shaver“ bedient und | |
bestellt Eis ohne Geschmack, aber mit Marshmallows. Beim Essen sieht es | |
zufrieden aus. | |
## Vier Tage dauert der Gefriervorgang | |
Als ich mein Kakigōri probiere, verstehe ich, warum. Das geschabte Eis hat | |
die Konsistenz von locker-luftigem Neuschnee. Um das zu erreichen, hat der | |
Besitzer lange getüftelt. | |
Das Wasser für den Eisblock gefriert innerhalb von vier Tagen bei | |
Temperaturen knapp unter null Grad, wobei es ständig gerührt wird, es | |
bildet dann feine Eiskristallstrukturen. So schnell wie der Schnee im Mund | |
schmilzt auch meine Bargeldreserve, irre 9,50 Euro kostet die Portion. | |
Immerhin ist sie riesig. Und hinterlässt dennoch keinen Klumpen im Bauch – | |
vermutlich wäre das für japanische Verhältnisse zu plump. | |
Das Kakigōri des Monats heißt Kuromitsu, hier wird Mascarpone-Creme in und | |
auf dem Eis drapiert, die weiteren Zutaten kommen separat: schwarze Bohnen | |
und Maispops auf kleinen Tellern, brauner Zuckersirup (Kuromitsu, daher der | |
Name) in einem Schnapsglas. Sieht aus wie Sojasoße. Und tatsächlich ist | |
Kakigōri mit Sorten wie Avocado oder „Custard Creme Kinako“ irgendwie | |
deftiger als klassisches Eis. | |
Da könnte ich beinahe noch einen Nachtisch vertragen … vielleicht finde ich | |
ja eine klassische Eisdiele, wo es Zitrone und Schokolade in der Waffel | |
gibt. | |
2 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.woopwoopicecream.de/ | |
[2] http://california-pops.de/ | |
[3] http://www.tenzan-lab.com/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
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