# taz.de -- Einreisestopp gefährdet Versorgung: Corona trifft krankes System | |
> Von Finanzspritzen in das EU-Agrar-System könnten die Falschen | |
> profitieren. Höhere Löhne sind nicht garantiert. | |
Bild: Erntehelfer stechen Spargel auf einem Feld | |
Die Coronavirus-Pandemie hat Europa fest im Griff. Dennoch haben die | |
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union stets betont, dass die | |
Lebensmittelversorgung gewährleistet ist. In den letzten Tagen schlagen die | |
Landwirtschaftsverbände jedoch Alarm und bemängeln eine hohe Zahl fehlender | |
Arbeitskräfte, was die Ernten gefährden könnte. Schätzungsweise 300.000 | |
Arbeiter*innen fehlen in Deutschland, 200.000 in Frankreich, und 25 Prozent | |
der italienischen Landarbeiter*innen sind nicht bereit, mit der Frühjahrs- | |
und Sommerernte zu beginnen. | |
Der Grund für diese Zustände ist, dass die Landwirtschaft in hohem Maße | |
[1][von Wanderarbeiter*innen abhängig] ist – auch wenn Europas | |
Populist*innen gern das Gegenteil behaupten. | |
Kontakt- und Ausgangssperren in der gesamten EU [2][hindern die | |
Saisonarbeiter*innen] aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten | |
derzeit daran, ihre Beschäftigung in den landwirtschaftlichen Betrieben | |
anderer Länder auszuüben. Viele von ihnen entscheiden sich aus Angst vor | |
der dramatischen Situation in Italien und Spanien, in ihren Heimatländern | |
zu bleiben. Gleichzeitig können Saisonarbeiter*innen außerhalb Europas | |
aufgrund der Kontaktsperren in vielen Ländern gar nicht in die EU | |
einreisen. | |
Und das, obwohl die Ausnahmen des EU-Reiseverbots am 30. März auf | |
Saisonarbeiter*innen ausgeweitet wurden. Erdbeeren werden in diesem Sommer | |
knapp werden, weil Saisonarbeiter*innen aus Marokko, die normalerweise | |
jedes Jahr für die Ernte nach Südspanien reisen, blockiert werden. | |
Infoge von treffen der EU-Landwirtschaftsminister*innen und des Europäische | |
Parlaments sollen die Hürden zur Gewährung von Subventionen der Gemeinsamen | |
Agrarpolitik der EU jetzt gelockert werden. Es werden also Gelder in den | |
Sektor gepumpt, um Landwirt*innen und Unternehmen am Leben zu erhalten. Die | |
französische und die deutsche Regierung fordern einheimische Arbeitslose | |
auf, Jobs anzunehmen, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr ausüben wollten. | |
Den Politiker*innen fehlt dabei jedoch der Blick auf die Menschen, die | |
unser Obst und Gemüse pflücken, unsere Lebensmittel verpacken und | |
verarbeiten und sie durch Europa transportieren: Denn tatsächlich werden | |
die Forderungen nach mehr Bürokratieabbau und der Aussetzung der | |
Meldepflicht die Arbeitsbedingungen für diese Menschen womöglich sogar noch | |
weiter verschlechtern. | |
Schon bevor die Pandemie Europa traf, kämpfte das Agrarsystem darum, | |
wirtschaftlich lebensfähig zu bleiben – und das trotz massiver | |
EU-Subventionierung. Dieses System war schon vorher sowohl ökologisch als | |
auch sozial unhaltbar. Es laugte die Böden aus und vergiftete das | |
Grundwasser. Es konzentrierte die Macht in den Händen von | |
Einzelhandelskartellen, die die Preise so niedrig getrieben haben, dass sie | |
in vielen Fällen unter den Produktionskosten liegen. | |
Untersuchungen des Open Society European Policy Institute (OSEPI) zeigen, | |
dass Landwirt*innen dazu verleitet werden, die einzigen Kosten zu senken, | |
auf die sie überhaupt Einfluss haben – den Preis der Arbeit. Dies hat zu | |
immenser Ausbeutung geführt, nicht nur in Ländern wie Italien, wo die | |
Bedingungen oft denen der Sklaverei ähneln, sondern auch in Deutschland, | |
Schweden und den Niederlanden, wo Schlupflöcher genutzt werden, um Löhne zu | |
senken oder Rechte einzuschränken. In Südeuropa leben Tausende von | |
Wanderarbeiter*innen in Hütten und unhygienischen Siedlungen, in denen die | |
Pandemie verheerende Auswirkungen haben könnte. Auf den Feldern schuften | |
die Arbeiter*innen ohne Schutzausrüstung in unmittelbarer Nähe zueinander. | |
## Was kann und sollte die EU dagegen tun? | |
Die Pandemie bietet der EU die Gelegenheit, ihr Agrar- und | |
Lebensmittelsystem gründlich zu überarbeiten, um es grüner, gerechter und | |
effizienter zu machen. Mit kürzeren und weniger umständlichen Lieferketten, | |
angemessenen Preisen für Landwirt*innen und Verbraucher*innen und | |
garantierten Arbeitsrechten für die Arbeitnehmer*innen. | |
Die Gemeinsame Agrarpolitik wird derzeit reformiert. Die für das nächste | |
Jahr angekündigte Reform wird wohl die Einhaltung von Umweltstandards als | |
Kriterium für die Gewährung von Agrarsubventionen beinhalten. Auch die | |
Arbeitsbedingungen sollen dabei Teil der Kriterien sein. Die Landwirt*innen | |
sind von der Krise besonders stark betroffen. Die Mittel für die | |
Entwicklung des ländlichen Raums, die ursprünglich ab 2021 gekürzt werden | |
sollten, müssen deshalb erhöht werden. | |
In Deutschland arbeiten Landwirtschafts- und Innenministerium derzeit | |
konkret an [3][einer Lockerung des Arbeitsverbots für in Deutschland | |
lebende Asylbewerber*innen], um die Personalnot zu stoppen. Das Beispiel | |
zeigt, dass es eine europäische Lösung braucht: Um dem Arbeitskräftemangel | |
während der Kontaktsperre entgegenzuwirken, könnte die EU-Kommission den | |
Vorschlag des Landwirtschaftsausschusses des Europäischen Parlaments | |
aufgreifen und Saisonarbeiter*innen aus den östlichen Mitgliedstaaten einen | |
speziellen Passierschein gewähren. | |
Um sicherzustellen, dass auch Arbeitskräfte außerhalb Europas einreisen | |
können, sollte die Kommission ihre bestehenden Pilotprojekte zur legalen | |
Migration ausbauen. Bislang garantieren die Programme hauptsächlich einer | |
kleinen Anzahl von Facharbeiter*innen die Einreise – zum Beispiel | |
Technikspezialist*innen aus Nordafrika. Groß angelegte, von der EU | |
koordinierte Kanäle für Saisonarbeiter*innen würden Angebot und Nachfrage | |
auf Europas Bauernhöfen jedoch harmonisieren. Ein einheitliches | |
Prüfungsverfahren und die Gewährleistung von Schutzausrüstung und | |
menschenwürdigen Arbeitsbedingungen würden dafür sorgen, dass | |
Arbeitnehmer*innenrechte eingehalten werden und die Bedenken vor einer | |
Ansteckung auf beiden Seiten vermindern. | |
Die Regierungen von Ländern wie Italien und Spanien sollten unterstützt | |
werden, wenn sie beschließen, eine Amnestie für nicht-registrierte | |
Migrant*innen zu gewähren. Diese gehören zum verwundbarsten Teil der | |
potenziell ausgebeuteten Arbeitskräfte, die sich bereits im Land befinden. | |
Große Einrichtungen und Haftanstalten für Migrant*innen sollten in der | |
gesamten EU geschlossen werden. Die Menschen sollten in kleinere | |
Wohneinheiten verlegt werden, in denen physische Distanz tatsächlich | |
möglich ist. In den meisten EU-Ländern hat die Pandemie-bedingte Aussetzung | |
der Asyl- und Einwanderungsverfahren Millionen Menschen in einen unsicheren | |
Status versetzt. Die Genehmigungen sollten daher automatisch verlängert | |
werden, wie es in Portugal bereits gehandhabt wird. | |
Die Unterstützung der Landwirt*innen in dieser Krise ist zwar wichtig, aber | |
eine einfache Finanzspritze in ein kaputtes System wird es nicht | |
reparieren. Stattdessen könnte es so kommen, dass die | |
Umweltverschmutzer*innen subventioniert werden, während die Arbeiter*innen | |
leer ausgehen. Denn mehr Geld in den Taschen der Landwirt*innen ist längst | |
keine Garantie für höhere Löhne für die Arbeiter*innen. | |
Die durch die Ausbreitung des Coronavirus ausgelöste Krise hat gezeigt, wie | |
zerbrechlich und unhaltbar unser System der Nahrungsmittelversorgung ist. | |
Die EU-Institutionen und die nationalen Regierungen sollten jetzt handeln, | |
um sicherzustellen, dass die Lebensmittel, die wir essen, nicht durch | |
Ausbeutung von Mensch und Natur produziert werden. Nur so werden wir für | |
die nächste Krise vorbereitet sein. | |
3 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Giulia Lagana | |
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