# taz.de -- EMtaz: Sportsoziologe über Frankreich: „Sich danebenzubenehmen w… | |
> Der Soziologe Albrecht Sonntag über Frankreich als Fußballnation, die | |
> verhaltene EM-Begeisterung im Land und den Hauptunterschied zu | |
> Deutschland. | |
Bild: Die Initialzündung bei diesem Turnier lässt auf sich warten: Fans in Pa… | |
taz: Herr Sonntag, bislang, scheint es, fehlt den Franzosen eine Art | |
Erweckungserlebnis, um sich an ihrer Mannschaft und der EM zu begeistern. | |
Albrecht Sonntag: Das war doch bei der WM 1998 in Frankreich auch nicht | |
anders. Begeisterung kam erst im Halbfinale so richtig auf. Davor gab es | |
die apokalyptischen Prophezeiungen der Sportzeitung L’Equipe. Im Turnier | |
dann gleich eine Rote Karte und zwei Spiele Sperre für Zinédine Zidane, ein | |
mühevolles 1:0 gegen Paraguay im Achtelfinale mit einem Golden Goal von | |
Laurent Blanc. Erst im Halbfinale brachen die Dämme. | |
Gegen Island kann man sich am Sonntag im Viertelfinale nur blamieren. | |
Die Initialzündung wird auch bei diesem Turnier weiter auf sich warten | |
lassen. Das Spiel gegen Island wird ähnlich wie das gegen Irland werden. | |
Die Stimmung war aber auch da trotzdem gut. Im Stadion und auf den | |
Public-Viewing-Plätzen. Ich weiß nicht, was man mehr erwarten sollte. | |
Viele Deutsche beklagen die fehlende Stimmung in Frankreich. DFB-Präsident | |
Reinhard Grindel hat gerade einen derzeit beliebten Vergleich gezogen. Ein | |
Sommermärchen wie 2006 in Deutschland sei es nicht. Was halten Sie von | |
diesem Maßstab? | |
Was war an dem Sommermärchen besonders märchenhaft? Erstens die Erkenntnis, | |
wir haben ja eine attraktive und sympathische Mannschaft, die es auch noch | |
ins Halbfinale schafft. Zweitens war es aus ausländischer Sicht der | |
deutschen Bevölkerung gelungen, Vorurteile abzubauen. Drittens haben sich | |
die Deutschen gewissermaßen mit ihrem Deutschsein ausgesöhnt. Das | |
Sommermärchen war eine besondere Konfiguration der Widerlegung von | |
Stereotypen, die überhaupt nicht übereinstimmten mit einer bereits | |
vollzogenen gesellschaftlichen Entwicklung. Das ist schon deshalb nicht | |
reproduzierbar, weil Frankreich gar nicht mit vergleichbaren Stereotypen | |
konfrontiert ist. | |
Aber ein gewisses Bild von sich wollen doch auch die Franzosen nach außen | |
vermitteln. | |
Bei den Fußballbegeisterten herrscht das Bedürfnis vor, Europa und der Welt | |
zu zeigen, dass man zu den großen Fußballnationen gehört und sich | |
danebenzubenehmen, wie bei der WM 2010 in Südafrika, als sich das Team | |
öffentlich demontierte, Vergangenheit ist. | |
Ein Ansinnen, das sich allein auf den Fußball beschränkt? | |
Die Weltmeisterschaft von 1998 ist ja noch nicht so lange her. Jeder weiß | |
inzwischen auch in Frankreich, dass der Fußball eine | |
gesellschaftspolitische Bedeutung hat. Man ist damals nur über das Ziel | |
hinausgeschossen. | |
Inwiefern? | |
Was die Interpretation der Integrationsfähigkeit des Fußballs angeht. Da | |
taten sich Intellektuelle hervor, die zuvor auf den Fußball nur | |
herabgeschaut haben. Das ist wirklich eine französische Besonderheit. | |
Was genau? | |
Wer in Frankreich etwas auf sich hält, der bekennt sich zum Rugby, schickt | |
seine Kinder zum Rudern, Fechten und Reiten. Für die Bourgeoisie von Paris, | |
die auch Trendsetter ist, was die Geschmäcker und die Definition von | |
Hochkultur angeht, ist der Fußball ein Proletariersport. Das ist der | |
Hauptunterschied zwischen Deutschland und Frankreich. In der BRD war der | |
Fußball spätestens seit den 70er Jahren klassenübergreifend. Die | |
Tageszeitung Le Monde hatte bis 1998 keinen Redaktionsteil, der sich | |
wirklich um Fußball gekümmert hätte. Als dann zur WM eine achtseitige | |
Beilage täglich erschien, gab es jede Menge Protestbriefe der | |
Stammleserschaft. | |
Aber was hat sich in Frankreich mit der WM 1998 geändert? | |
1998 knallte der Fußball mit solch einer brutalen Wucht in den Pariser | |
Mikrokosmos rein, dass sie aufgewacht sind und bemerkt haben: Da geht ja | |
echt was ab, und wir verpassen das. Das betrifft ja richtig viele Menschen | |
und das sagt etwas aus über die Befindlichkeiten einer Gesellschaft, wie | |
sie sich darstellt und sehen möchte. | |
Und dann? | |
Die Intellektuellen haben die Bedeutung der ethnischen Komposition der | |
Nationalmannschaft überinterpretiert. Das wurde in der breiten Bevölkerung | |
gar nicht so empfunden. Da war man einfach dankbar, dass die Mannschaft | |
hoch kompetitiv und zweitens eine Zusammenstellung von sympathischen | |
Burschen war, die vom damaligen Nationaltrainer Aimé Jacquet nicht zuletzt | |
wegen ihrer hohen Sozialkompetenz ausgewählt wurden. | |
Wie groß ist die Erwartung, dass der Fußball auch bei diesem Turnier | |
gesellschaftspolitisch wirkt? | |
Das Land ist in einer sozial angespannten Lage. Da kann der Fußball nicht | |
die Rolle des Hoffnungsträgers übernehmen. Es wird nicht erwartet, dass er | |
die Probleme der Gesellschaft löst. Es wird aber vom Fußball erwartet, dass | |
er nicht noch zusätzliche Probleme bringt wie 2010 in Südafrika. | |
Das ist alles? | |
Leisten kann der Fußball eher etwas auf der Amateurebene, insbesondere bei | |
den Frauen. Der seit 2011 dynamisch umgesetzte Plan zur Entwicklung des | |
Frauen- und Mädchenfußballs in Frankreich hat indirekte gesellschaftliche | |
Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen sind. Gerade wegen der vielen | |
jungen Mädchen in den Vorstädten, für die der Fußball auf jeden Fall ein | |
Emanzipationsinstrument ist. | |
Was könnte ein EM-Titel von Frankreich bewirken? | |
Nichts. Jedenfalls nichts Langfristiges. Ein EM-Titel bewirkt eine | |
kurzfristige Freude darüber, dass man in einer sozial-kulturellen Praxis, | |
dem Fußball, der in vielen Ländern und Kulturen der Welt größte | |
Wertschätzung genießt, die anerkannte Nummer eins ist. Das ist ja ein | |
tolles Gefühl, fragen Sie mal die Spanier. | |
Vor allem die Deutschen zelebrieren das derzeit mit ihrem Lieblingssong: | |
Wir sind die Nr. 1 der Welt. | |
Das ist Kollektivnarzissmus, den man schon bei Freud finden kann. Ist ja | |
alles wunderbar. Ich denke, dass man das heutzutage auch mit einer gewissen | |
ironischen Distanz sieht. Die Hooligans wohl nicht, aber ein großer Teil | |
der Leute weiß, dass das nur zwei Jahre dauert und dann wieder vorbei ist. | |
Man gewinnt hier den Eindruck, dass der Fußball nicht diese Überbedeutung | |
hat wie in Deutschland. | |
Mir ist die Formel rausgerutscht, dass Fußball in Frankreich die Sportart | |
Nummer eins ist, aber in Deutschland viel mehr. Diese Tiefenwirkung in die | |
Gesellschaft hat er hierzulande nicht. Der Fußball wird in Frankreich nie | |
die Macht haben einen Monat alles unter sich zu begraben. | |
2 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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