# taz.de -- EMtaz: Taktik vor dem Viertelfinale: Die missdeutete Defensive | |
> Haben Franzosen und Deutsche ihre Offensivformel gefunden, um einem | |
> epochalen Halbfinale entgegenzusehen? Think twice! | |
Bild: Antoine Griezmann trifft. Aber hält die französische Abwehr? | |
Das Anrührende an Kingsley Coman ist, dass er den Fußball zu unseren | |
romantischen Ursprüngen zurückzuführen scheint. Wenn der französische | |
Nationalspieler des FC Bayern München losdribbelt, scheint es für einen | |
Moment, als sei die Verwissenschaftlichung und Technologisierung des Spiels | |
aufgehoben – und damit die Komplexität der Moderne. Es scheint, als sei | |
alles ganz einfach: den richtigen Individualisten einwechseln, über die | |
Flügel kommen, schnell spielen, in den Strafraum ziehen – und schon ist das | |
Spiel gedreht und schon haben die Franzosen die wackeren Iren mit 2:1 | |
abgefiedelt. | |
Es war eine spektakuläre Viertelstunde, die das französische Team am | |
Sonntag auf den Rasen von Lyon gebracht hat. Es war auch beeindruckend, wie | |
die Deutschen in Lille die Slowakei klarer dominierten, als das 3:0 sagt. | |
Wie die Belgier die Ungarn am Ende mit 4:0 nach Hause schickten. Worauf nun | |
der Tenor lautet: Na ja, in der Vorrunde hielten die Kleinen dank ihres | |
Defensivfußballs noch mit, aber nun setzt sich Qualität durch. Das ist so, | |
aber die entscheidende Frage lautet: Warum setzt sie sich durch, und was | |
ist „Qualität“? | |
In der EM-Vorrunde hat sich gezeigt, dass individuelle Klasse in der | |
Fußballmoderne nicht fehlt, sondern sich nur noch entfalten kann, wenn sie | |
in ein eingeprobtes Offensivspiel eingebunden ist. Offensive Automatismen | |
einüben ist aufwendiger als das Einüben von Laufwegen ohne Ball, weshalb | |
Verbandstrainer in den wenigen Tagen ihrer praktischen Arbeit dafür nicht | |
genug Zeit haben. Wenn die Defensive sitzt, durch exzeptionellen Teamspirit | |
verstärkt, dann können Teams wie die Iren, Waliser, Nordiren, Isländer, | |
Slowaken und Ungarn in vielen Spielen mithalten. Das heißt aber nicht, das | |
sie den Fußball annähernd so gut beherrschen wie Atletico Madrid oder auch | |
nur der FC Ingolstadt. | |
Es war faszinierend zu sehen, wie für die Iren in Lyon bereits nach zwei | |
Minuten die Nachspielzeit begonnen hatte. Sie führten 1:0, sie hatten, was | |
sie wollten, und die Franzosen schienen nichts zu haben, um das zu ändern. | |
Paul Pogba wurschtelte sich ab und an nach vorn, holte auch den einen oder | |
anderen Freistoß, aber mehr war nicht. | |
## Läufe in die Tiefe | |
Es wird in solchen Situationen häufig gesagt, dass es an riskanten | |
Dribblings fehle, um die Enge des verteidigten Raumes zu überwinden. Ja, | |
aber so ein Dribbling muss von koordinierter Offensive so vorbereitet | |
werden, dass es an einem Ort und in einer Situation beginnt, die | |
Perspektiven hat. Selbst der Waliser Supersprinter Gareth Bale kann einfach | |
allen davonlaufen. Je weniger die Teamoffensive vermag, desto weniger kann | |
der Ausnahmespieler und desto mehr ist man paradoxerweise davon abhängig, | |
dass er sich irgendetwas rauswürgt. Etwa eine Flanke von Bale, aus der das | |
Eigentor wurde, das Wales ins Viertelfinale brachte. Oder ein halbgarer, | |
aber zu kurz abgewehrter Schuss von Ronaldo, der zum portugiesischen Sieg | |
gegen Kroatien führte. | |
Im Falle der Franzosen konnten sich die individuellen Qualitäten von Payet, | |
Giroud, Coman und die Klasse des Doppeltorschützen Antoine Griezmann zu | |
Ergebnissen addieren, nachdem Selectionneur Didier Deschamps zur Halbzeit | |
die Grundidee seines Spiels verändert hatte und seinen defensiven | |
Stabilisator N’Golo Kante' gegen den potenziell den Gegner | |
destabilisierenden Coman getauscht hatte. Erstens hatte er nichts mehr zu | |
verlieren, zweitens nicht als Einziger den Eindruck, dass man keine | |
irischen Tore mehr verhindern musste. | |
Nun fanden die Läufe in die Tiefe statt, die Joachim Löw immer beschwört, | |
es wurde nicht nur der erste Pass gespielt, sondern der zweite | |
angeschlossen, der eine Abwehr wirklich durcheinanderbringt und dem eigenen | |
Mann die Zehntelsekunde Zeit schenkt, um das Richtige richtig zu machen. | |
Der Tempodribbler Coman war nicht das entscheidende, aber das zusätzliche | |
Moment, das gegen die unter Energieverlust leidenden Iren Raum- und | |
Zeitgewinn brachte: Das war strukturierter Offensivfußball auf hohem | |
Niveau, und dennoch braucht es einen klinischen Vollstrecker wie Griezmann, | |
um daraus einen Sieg zu machen. | |
## Risiko und Risikovermeidung | |
Wer nun denkt, dass die Franzosen und die Deutschen jetzt ihre Formel | |
gefunden haben und damit einem epochalen Halbfinalduell in Marseille | |
entgegensehen: Think twice. Es geht bei jedem Spiel aufs Neue darum, Risiko | |
und Risikovermeidung in eine Balance zu bringen. Die öffentliche Deutung | |
misst die Titelkandidaten stets an ihrer Offensive – kulturelle Ausnahme | |
ist Italien –, aber Turniere gewinnt die beste Defensive. Das war seit 2004 | |
bei Griechenland, Italien, dreimal Spanien und 2014 auch bei Deutschland | |
so. Die Deutschen haben bisher null Gegentore, die Polen haben eins. Die | |
Portugiesen haben nach vier Gegentoren in der Vorrunde gegen Kroatien auf | |
verstörend-beeindruckende Weise klargemacht, dass sie verstanden haben. | |
Didier Deschamps ist ein defensiv denkender Trainer. Er hat als Organisator | |
der Defensive 1998 und 2000 zwei der drei bisherigen französischen Titel | |
gewonnen. Jetzt hat er bereits zwei Gegentore hinnehmen müssen. Beides | |
waren Strafstöße. Selbstverständlich zählen Elfmetertore genauso viel wie | |
andere Tore, und Pogbas unsensibles Foul gegen Irland war Ausdruck | |
schlechten Verteidigens. Aber wenn aus dem Spiel heraus für den Gegner | |
nichts geht und auch nicht über Ecken und Freistöße, dann zeigt das, dass | |
Frankreichs Spielkontrolle funktioniert. | |
Das ist bei aller berechtigten Euphorie um eine Halbzeit spektakulärer | |
Offensive die prioritäre Qualität, die Frankreich nun trotz der Sperren von | |
Innnenverteidiger Rami und Kanté bewahren muss. Dito Deutschland. Es fällt | |
schwer, das zu sagen, aber entscheidend für den Titel ist nicht Julian | |
Draxler. | |
29 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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