# taz.de -- EMtaz: Frankreich vor dem Viertelfinale: Die Option des Scheiterns | |
> EM-Gastgeber Frankreich muss gegen den Europameister der Herzen an die | |
> Möglichkeit einer Niederlage glauben. Nur so kann er sie verhindern. | |
Bild: Frankreichs Trainer Didier Deschamps | |
PARIS taz | Als Patrick Evra gefragt wurde, was er denn zu einem | |
Viertelfinalgegner England sage, machte der langjährige linke | |
Außenverteidiger der französischen Equipe einen smarten Move: „Wie kommen | |
Sie denn darauf, dass unser Gegner England sein wird?“, knurrte er. Man | |
respektiere jede Mannschaft bei dieser EM. | |
Wer könnte sagen, ob das Sportsmanship war, Kalkül oder gesunder | |
Menschenverstand? Aber eines hatte der ehemalige Kapitän damit erreicht: | |
Bereits vor Islands größtem Sieg hat er die kollektive Herangehensweise der | |
Franzosen für das Viertelfinalspiel am Sonntag vorgegeben. | |
Der Gastgeber und Titelkandidat trifft im Stade de France von Saint-Denis | |
auf den bereits feststehenden europäischen Meister der Herzen. Auf die | |
tapferen, putzigen, einfach spielenden, aber auch taktisch raffinierten, | |
natürlichen, aber auch innovationstechnologisch kompetenten, | |
abergläubischen, aber auch super emanzipierten Trolle, Elfen und | |
Teilzeitzahnärzte. | |
Vor allem hat der isländische Verband eine moderne Fußballstruktur | |
entwickelt, mit deren Hilfe er aus einer kleinen Zahl von Spielern | |
wettbewerbsfähige Jugendteams und in der Folge eine A-Mannschaft entwickelt | |
hat, die sich in der Qualifikation mit zwei Siegen gegen die Niederlande | |
durchgesetzt hat. | |
Da müsste man schon realitätsfremd sein, wenn man sagen würde, dass eine | |
Niederlage auf „die größte Peinlichkeit aller Zeiten“ hinausliefe. Nur aus | |
diesem Grund ist es jetzt eine: Weil die Engländer selbst das 1:2 von Nizza | |
dazu erklärt haben, statt es als Ausdruck ihrer gegenwärtigen Verortung in | |
der Fußballwelt zu nehmen. | |
## Ballgewinner N’Golo Kanté ist gesperrt | |
Die Franzosen wollen verhindern, dass es ihnen genauso geht. Nach dem | |
Achtelfinalspiel der zwei Halbzeiten in Lyon gegen Irland wird diskutiert, | |
wie viel Risiko der – aus guten Gründen – risikophobe Selectionneur | |
Didier Deschamps eingehen wird. Defensive gewinnt Turniere, das ist klar. | |
Aber die große Frage lautet, ob es im Fall der Isländer wirklich das | |
größere Risiko ist, mit Kingsley Coman auf rechts zu spielen und Antoine | |
Griezmann hinter der Spitze. Obwohl das auf Kosten des zentralen | |
Defensivstabilisators vor Deschamps’ üblicher Dreierkette vor der Abwehr | |
ginge. | |
Der exzellente Ballgewinner N’Golo Kanté ist mit Leicester City im letzten | |
halben Jahr meteorisch aufgestiegen, aber sowieso gesperrt. Womöglich ist | |
die vermeintliche Sicherheitsvariante, in der dann Cabaye Kanté ersetzen | |
würde, das größere Risiko. Es ist mittlerweile offensichtlich, dass Paul | |
Pogba bis auf weiteres nur das Versprechen auf das ganz große Ding ist, mit | |
dem der Transfergigantismus ein weiteres Mal gesteigert werden soll. Er hat | |
mit 23 schon vier Titel mit Juve gewonnen, und sein Mix aus Athletik, | |
Laufstärke und rustikal aussehenden, aber funktionierenden Dribblings hat | |
Potenzial. | |
Doch der Schlüsselspieler der Gegenwart ist Antoine Griezmann, 25. Er ist | |
klug, er ist schnell, er ist stark am Ball und er ist klinisch vor dem Tor. | |
Wenn er in den richtigen Räumen in Position gebracht wird – wie in seinem | |
Club Atletico Madrid, der im Champions-League-Finale gegen den Stadtrivalen | |
Real Madrid erst im Elfmeterschießen verlor –, dann kann er auch ein Team | |
von der exzeptionellen Klasse Bayern Münchens erledigen. | |
Selbstverständlich spielt Griezmann da, wo der Trainer ihn hinstellt. Aber | |
auf Nachfrage räumte er nach dem Irland-Spiel ein: „Es stimmt, dass es | |
weiter vorn, wo ich normalerweise spiele, leichter für mich ist.“ | |
## 4-2-3-1? 4-3-3? | |
Deschamps bestreitet das aber faktisch. Zumindest bisher kommt Griezmann | |
nicht in diese entscheidenden Räume, wenn er rechts draußen spielt. Als er | |
in Lyon gegen die Iren auf die Zehner- und später die | |
Neuneinhalber-Position gewechselt war, dauerte es keine Viertelstunde, dann | |
hatte er zwei Tore und einen irischen Feldverweis verantwortet. Das spräche | |
dafür, dass Deschamps dieses 4-2-3-1 statt seines Lieblingssystems 4-3-3 | |
beibehält. | |
Ein weiterer Grund ist, dass Frankreich zumindest gegen die Iren mit dem | |
4-3-3 überhaupt kein strukturiertes Spiel mit Ball hinbekam. In diesem | |
System agiert Pogba auf der rechten oder linken Seite als eine leicht | |
anachronistisch wirkende Art Spielmacher. | |
Wenn Deschamps gefragt wird, ob er das jetzt nicht mal lassen will mit | |
Griezmann auf der rechten Seite, kriegt er sein Zitronenbissgesicht. „Ich | |
weiß schon, dass Antoine normalerweise in der Mitte spielt“, sagte er | |
dieser Tage genervt. Vielleicht mache er es trotzdem wieder anders. Man | |
wisse halt erst hinterher, ob etwas funktioniere. | |
## Die Erinnerung an Hummels | |
Das klingt banal, ist aber eine essenzielle Wahrheit des Fußballs. Und wahr | |
ist auch, dass Frankreich seit dem WM-Finale 2006 nichts mehr gerissen hat. | |
2014 in Brasilien war man dank Deschamps erstmals wieder nah dran. Im | |
Viertelfinale gegen die Deutschen machte Hummels’ Standardtreffer den | |
Unterschied. | |
Ein Fußballriese sind die Franzosen also nicht. Gewarnt sie sind auch. Aber | |
niemand ist komplett immun gegen die Vermessung der Gegenwart durch die | |
Parameter der Vergangenheit. Eigentlich, denken auch die Franzosen | |
insgeheim, kann und darf gegen Island nichts schiefgehen. Es wird daher | |
entscheidend sein, ob sie sich wirklich freimachen können von diesem | |
Gedanken. Im Gegensatz zu den Engländern müssen sie an die mögliche | |
Realität einer Niederlage glauben. | |
Nur in diesem Fall können sie sie verhindern. | |
3 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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