# taz.de -- EMtaz: Italien vor dem Viertelfinale: Der Star ist der Trainer | |
> Falls Deutschland im Viertelfinale erneut gegen seinen Angstgegner | |
> verliert, liegt das nicht an einem Fluch. Antonio Contes Team ist eben | |
> auch gut. | |
Bild: Der nächste Fußballtrainergott | |
Wenn sie es nicht schon längst getan haben, dann werden sich spätestens | |
seit dem furiosen 2:0 im Achtelfinale gegen Titelverteidiger Spanien auch | |
die dafür offenen Bundesligatrainer mit dem Fußballstil der italienischen | |
Nationalmannschaft beschäftigen. | |
Denn falls die Deutschen an diesem Samstag im EM-Viertelfinale ausscheiden | |
sollten, so liegt das nicht an irgendeinem Fluch, weswegen man immer | |
verliert. Wie Mats Hummels sagte: „Ich weiß nicht, was ich darüber sagen | |
könnte, wenn eine Mannschaft in den 80ern oder so verloren hat.“ Nein, | |
falls sie verlieren, so liegt es schlicht daran, dass die Italiener | |
wirklich gut sind. Diesmal. | |
Was machen sie denn groß, könnte jetzt der Superchecker fragen. Sie spielen | |
einen sehr taktischen und defensivorientierten Fußball. Wie das Italiener | |
halt tun. Und manchmal greifen sie an. Das gab es früher auch schon. | |
Das stimmt, einerseits, wäre die Antwort. Andererseits schlägt in der | |
europäischen Fußballmoderne jeder Versuch fehl, Erfolge mit angeblichen | |
nationalen Tugenden oder Stilen zu begründen. Das beste Beispiel dafür ist | |
der deutsche Fußball, der seine schönste und beste Zeit erlebt, seit | |
Joachim Löw den abergläubischen Quatsch von den Nationaltugenden ad | |
absurdum geführt hat – und das längst nicht nur auf dem Spielfeld. | |
## Conte folgte auf den Bankrott von 2014 | |
Allerdings gibt es in der Tat ein einziges Spiel in dieser Dekade, das | |
richtig schiefging, und das war das EM-Halbfinale von Warschau gegen | |
Italien. Da wird seither ein großes Gewese drum gemacht, dass Löw sich da | |
strategisch verzockt habe. Aber man muss sich auch mal verzocken, sonst | |
gewinnt man nie etwas, weil man nichts dafür riskiert hat. | |
Was den Süditaliener Antonio Conte, der nur zum Rand des | |
Fußballestablishments gehörte, angeht, so kam er zu dem Job, weil Italien | |
bei der Weltmeisterschaft 2014 unter der Leitung Cesare Prandellis auch | |
sichtbar bankrottgegangen war. Bei der WM 1994 und EM 2000 war Conte | |
Ergänzungsspieler, als Italien jeweils ins Finale kam. Als Trainer diente | |
er sich in Bari, Bergamo und Siena hoch, bis er 2011 von Juve gerufen und | |
dreimal in Folge Meister wurde. | |
Wenn der Begriff „exaltiert“ mal angemessen ist, dann bei Conte, 46. „Was | |
dich niemals betrügt, ist harte Arbeit.“ Das ist eine der Lieblingsblumen | |
seines rhetorischen Straußes. Keiner predigt die Bescheidenheit und die | |
einfache Arbeit mit solchen Superlativen wie er. Zum Dienstantritt hat er | |
einen Paradigmenwechsel ausgerufen, der gerade auch in der politischen | |
Analogie fasziniert: Er besteht in der einstweiligen Verzwergung Italiens, | |
das in der Selbstwahrnehmung vorher immer als Riese daherkam. „Dies ist | |
nicht die rosigste Zeit, in der wir überragende Fußballtalente haben“, | |
sagte er. | |
Gerade auch angesichts des dramatischen Abstiegs der Serie A war das | |
durchaus angemessen. Deren Attraktivität auf Zuschauer und Märkte hat stark | |
nachgelassen und im internationalen Vergleich ist nur noch Juventus Turin | |
erste Klasse. AS Rom hat nur Achtelfinalpotenzial, und die Mailänder Clubs | |
sind seit einigen Jahren jenseits der Champions League. | |
## Man will etwas sein, statt etwas werden zu wollen | |
Es geht bei Conte nicht mehr um die Frage, wer wir mal waren – viermal | |
Weltmeister, einmal Europameister. Es geht um die Frage, wer wir sind und | |
was wir daraus machen. | |
Die prioritäre Frage ist ja immer, wie die kollektive Psyche mit dem Schock | |
der Realität umgeht. Es ist jedenfalls die einzige Möglichkeit, wirklich | |
aufbrechen zu können: wenn man mit dem bricht, was nicht mehr ist. Statt es | |
zu beschwören, wie das die Deutschen bis Jürgen Klinsmann taten. Und wie es | |
die Engländer auch beim Fußball tun. Sie denken immer noch, der singuläre | |
WM-Titel von 1966 sei der Rule-Britannia-Normalzustand. Man will etwas | |
sein, statt etwas werden zu wollen. Die Folge: 50 Jahre Selbstmitleid und | |
Lähmung. | |
Conte hat den Schock der Realität sogar noch verstärkt, was zur Folge hat, | |
dass er nun selbst ein Viertelfinalaus als Aufstiegsgeschichte zeichnen | |
kann. Zumindest wird er das versuchen. | |
Manche vergleichen ihn mit Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid. | |
Tatsächlich sucht auch er auf grenzwertige Art in der Coaching-Zone den | |
maximalen Einfluss auf das Spiel und dessen interagierende Systeme, also | |
eigenes Team, Gegner, Schiedsrichter, Zuschauer. | |
Dann hat er ein flach hierarchisches Team zusammengeschweißt, das mehr sein | |
soll, als die Zeitbudgets von dauergestressten Spitzenfußballern | |
normalerweise in Nationalmannschaften hergeben. „Wir können nicht als | |
Ansammlung von Spielern reüssieren“, sagte Conte. „Wir müssen wie ein Club | |
sein.“ | |
## The good, the bad and the ugly | |
Das meint nicht nur den Spirit, das meint auch die mittlerweile zweijährige | |
Entwicklung der Automatismen des Spiels über eine ordentliche Defensive | |
hinaus. Wie Atlético verteidigt Italien eben nicht nur, sondern hat eine | |
Reihe von Varianten und Aggregatzuständen, wie Spanien und Belgien leidvoll | |
erfahren mussten. | |
Manchmal verteidigen sie tief, manchmal pressen sie hoch. In Wahrheit haben | |
sie hinten nicht nur die drei Turiner Recken Bonucci, Barzagli und | |
Chiellini („The good, the bad and the ugly“, wie die Franzosen sagen), | |
sondern eine Fünferkette, deren Außen Florenzi und De Sciglio dem Spiel mit | |
Ball extreme Breite und Tiefe geben können. Gegen Spanien schafften sie es, | |
Raumverdichtung (ohne Ball) und Öffnen von Räumen (mit Ball) phasenweise | |
ideal zusammenzubringen und immer genug Spieler in Ballnähe zu haben, ohne | |
sich zu entblößen oder die Kontrolle zu verlieren. Vorne haben sie für | |
Tempokonter den eingebürgerten Ex-Brasilianer Eder und fürs Toreschießen | |
Pellè – bisher 2 Tore –, auch sie keine Stars, sondern engagierte | |
Mitarbeiter. Der Star ist der Trainer. | |
Es wäre genauso wie bei Simeone auch bei Conte zu kurz gegriffen, ihren | |
Fußball als radikales Gegenmodell zu Löws oder del Bosques Ballbesitzspiel | |
zu verstehen. Alles sind Modelle der fußballerischen Postmoderne, die sich | |
durch ihre Variabilität auszeichnen. Italien hatte Phasen gegen Spanien, in | |
denen der Ballbesitz ausgeglichen war und Phase fast ohne Ball. Man kann | |
aber Fußball, der im Ansatz Kontrolle durch Ballbesitz anstrebt, als | |
Oben-Fußball bezeichnen, weil er tendenziell von den Reicheren gespielt | |
wird. Und Fußball, der Kontrolle ohne Ballbesitz anstrebt, als | |
Unten-Fußball, weil er von denen mit weniger Geld und individueller Klasse | |
gespielt wird. | |
Das Neue besteht darin, dass sich nicht nur Ingolstadt und Darmstadt, | |
sondern inzwischen auch Teams, die eher „oben“ sind, qua freier Wahl für | |
Unten-Fußball entscheiden. Weil „unten“ eben auch die Modernitätsidee ihr… | |
Trainer ist. Weil sie daraus und aus einem Solidaritätsprinzip das | |
zusätzlich energetische Momentum generieren, das ihnen die Wucht und auch | |
die Wut gibt, um am Ende oben zu sein. So verhält es sich auch bei Conte. | |
Es ist eine Wut, die Joachim Löw und auch Vicente del Bosque fremd zu sein | |
scheint.Niemals würden die in der Coaching-Zone einen Ball wegschlagen, wie | |
Antonio Conte es im Stade de France tat, um seinen Vorsprung über die Zeit | |
zu bringen. Das kann man als Manko sehen oder als das Großartige an Löw: | |
dass er Fußball als Spiel versteht und eben nicht als Imitation einer | |
gnadenlosen Realität. | |
2 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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