# taz.de -- Dokumentarfilm über Ennio Morricone: Stets die Würde bewahrt | |
> Regisseur Giuseppe Tornatore setzt dem Komponisten Ennio Morricone mit | |
> einer Doku ein Denkmal. Seine Hommage ist material- wie lehrreich. | |
Bild: Genies überblicken das Chaos: Ennio Morricone in seinem Arbeitszimmer | |
Er ist der größte Filmkomponist. Bis heute kann man das mit einigem | |
Anspruch vertreten. Unter den vielen Meistern der Zunft war Ennio Morricone | |
der innovativste und universalste. Er konnte genauso treffsicher zuvor | |
unübliche Arrangements zu Szenen ersinnen wie komplexe und zugleich | |
eingängige Melodien, die sich im Gedächtnis festsetzen. Zu Lebzeiten hatte | |
er Popstarstatus. Was bei seiner introvertierten Erscheinung umso mehr | |
erstaunt. | |
Ungeachtet der über 500 Filme, die er vertonte, war er, was seine Person | |
anbelangt, sehr zurückhaltend. Jetzt erscheint, [1][zwei Jahre nach | |
Morricones Tod], ein Dokumentarfilm, der allein ihm gewidmet ist. Erstellt | |
vom Regisseur Giuseppe Tornatore, ein Italiener wie der Porträtierte | |
selbst. Aus dem Off ist zu Beginn von „Ennio Morricone – Der Maestro“ das | |
Ticken eines Metronoms zu vernehmen, bevor dieses im Bild erscheint. Ein | |
ordnungsstiftendes Instrument zum Festlegen und Beibehalten des Tempos. | |
Dann sieht man den betagten Titelhelden selbst, wie er durch den Salon | |
seiner repräsentativen Wohnung gegenüber dem Kapitolsplatz von Rom joggt, | |
sich auf einen Teppich legt und Gymnastik macht. Dazwischen geschnitten | |
sind die Gesichter von Regisseuren, Musikern und Schauspielern, die in | |
Einzeilern ihre Anerkennung gegenüber Morricone zum Ausdruck bringen. | |
Der Tonfall des Films ist damit gesetzt. Tornatore zeichnet einerseits die | |
Stationen der Karriere Morricones nach, andererseits lässt er diese von | |
zahlreichen Wegbegleitern und Kollegen kommentieren. Szenen aus Filmen, an | |
denen Morricone mitgewirkt hat oder mitwirken sollte, sind ebenfalls | |
ausgiebig zu sehen. | |
## Fähigkeit, sich in Szenen hineinzudenken | |
Dieses Material bietet Einblicke in die Entstehungsprozesse von Filmen. Für | |
Elio Petris „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger�… | |
von 1970 wählte Morricone eine rhythmisch stark akzentuierte Musik mit | |
Cembalo und Maultrommel. Er erinnert sich bei Tornatore jedoch daran, dass | |
in einer Vorabvorführung die Szene, zu der die Musik gedacht war, mit einem | |
Stück von ihm unterlegt war, das er zu einem anderen Film geschrieben | |
hatte. | |
Als Morricone protestierte, soll Petri sich bei ihm entschuldigt haben. Man | |
sieht die Szene zunächst in Schwarz-Weiß mit der anfangs von Petri | |
favorisierten Musik, danach, in Farbe, mit der entschieden besser | |
geeigneten, die Morricone für sie komponiert hatte. | |
Die Anekdote veranschaulicht Morricones Fähigkeit, sich in Szenen | |
hineinzudenken und seine Musik so einzusetzen, dass sie den Film stärker | |
wirken ließ. Aufdringliche tönende Selbstdarstellung oder beliebige | |
Hintergrundkulissen waren seine Sache nicht. Weshalb er bei Pier Paolo | |
Pasolini etwa darauf bestand, den Film „Große Vögel, kleine Vögel“ (1966) | |
vollständig selbst zu vertonen und nicht an einigen Stellen stattdessen | |
Bach zu verwenden. Pasolini ließ ihn machen. | |
## Trompeter wurden damals keine Komponisten | |
Interessant ist zudem der Werdegang Morricones, wie er aus dessen Sicht und | |
der seiner Wegbegleiter geschildert wird. Morricone erwähnt, dass er | |
eigentlich Arzt werden wollte. Sein Vater, ein Trompeter, sah hingegen | |
denselben Beruf für ihn vor. Als Trompeter spielte er in der Nachkriegszeit | |
zum Teil für Essen, was er als erniedrigend empfand. | |
Und selbst als sich sein Talent als Arrangeur herumgesprochen hatte und er | |
Komposition am Konservatorium von Rom studierte, fühlte er sich in dieser | |
elitären Umgebung minderwertig. Trompeter wurden damals keine Komponisten, | |
so sein Resümee. Seine ersten Filmmusiken, vor allem die zu Italo-Western, | |
für die er so gefeiert wird, schrieb er unter Pseudonym, aus Angst, seine | |
Komponistenkollegen könnten davon erfahren. | |
Der Zwiespalt zwischen Gebrauchsmusik und „absoluter“ Musik begleitete ihn | |
fortan. Parallel zu den Auftragsarbeiten fürs Kino, die er mit hoher | |
Geschwindigkeit erledigte, blieb er „seriöser“ Komponist, war [2][Mitglied | |
der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza], dem ersten | |
improvisierenden Kollektiv von Komponisten. Und die beiden Welten blieben | |
nicht streng getrennt. | |
Mit der „Nuova Consonanza“ entstand zum Teil Filmmusik, wie Morricone | |
überhaupt jede Menge Musikgeschichte auf höchstem Niveau in seiner | |
Auftragsmusik verarbeitete. Was den „richtigen“ Komponisten spätestens bei | |
Morricones Soundtrack zu Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ von 1984 | |
auffiel. | |
## Morsegerät, Wassertropfen und Zugrattern | |
Eine feine Ironie ist, dass von Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ | |
(1968), der Erkennungsmelodie Morricones schlechthin, allein der Anfang | |
berücksichtigt ist. Da erklingen lediglich Geräusche wie ein Morsegerät, | |
Wassertropfen und Zugrattern. „20 Minuten musique concrète“, nennt der | |
Komponist Alessandro De Rosa die Innovation Morricones. | |
Was der Film weniger gut löst, ist der Einsatz von sprechenden Köpfen. | |
Diese sagen nicht immer Notwendiges. Manches ist verplaudert, vieles | |
erschlägt einen mit dem stetigen Betonen von Morricones Ausnahmestatus. Das | |
wird eigentlich so schon deutlich. Und wenn es um Morricones Beitrag zu | |
Tornatores Film „Cinema Paradiso“ (1988) geht, setzt sich der Regisseur | |
sogar vor die Kamera, als wäre er sein eigener Gesprächspartner. Am Ende | |
ist es etwas viel der Hagiografie. Ein so großer Musiker wie Morricone | |
hätte Besseres verdient. | |
21 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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