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# taz.de -- Die Rede des russischen Präsidenten: Putins Geschichtsstunde
> Die Rede des russischen Präsidenten Putin zur Anerkennung der
> ostukrainischen Separatistengebiete ist bizarr – und historisch. Was sie
> bedeutet.
Bild: Inszenierter oder spontaner Autokorso in Luhansk am 22.02.2022
Moskau taz | Eilig habe man den nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen.
Die Lage in der Ostukraine verschärfe sich, man müsse handeln. So raunte es
durch Moskau am Montag. Das Eilige, Plötzliche, Unerwartete, so stellte
sich bereits kurz danach heraus, war eine lang geplante Operation. [1][Eine
Schmierenkomödie nach Kreml-Art], die wie nie zuvor den russischen Feldzug
gegen einen Nachbarstaat offenlegte, dem Moskau die Staatlichkeit
aberkennt.
„Eine seit Langem überfällige Entscheidung“, nennt Putin die
[2][Anerkennung der Separatistengebiete] in der Ostukraine. Knapp eine
Stunde lang verliert er sich in seiner wahrhaft historischen Rede,
übertragen im Fernsehen, in hanebüchenen Details. Alle sollen es hören, was
der aufgebrachte Mann, fast wie ein Besessener, seinem Volk – und nicht nur
ihm – mitzuteilen hat mit seinen Ansichten, die er als einzig Wahres
verkauft.
Die moderne Ukraine, führt Putin aus, sei eine Erschaffung Russlands. „Des
bolschewistischen, des kommunistischen Russlands“, fügt er hinzu, hält sich
an seinem Tisch fest und poltert weiter. Vor sich die Telefone, hinter sich
die russische Flagge. Die Ukraine sei ein Produkt Lenins, ein Geschenk der
Sowjetunion, mit dem all ihre ukrainischen Führungspersonen nichts hätten
anfangen können. Eine „Kolonie mit Marionetten-Regime“ nennt Putin die
jetzige Regierung in Kiew.
## Russland musste „diesen Weg des Friedens gehen“
Seine Ausführungen, emotional, teils tief schnaufend vorgetragen, sollen
erklären, dass Russland, dieses vermeintlich vom Westen tief bedrängte und
stark bedrohte Land, gar keine andere Wahl gehabt habe, als „diesen Weg des
Friedens“ zu gehen und den „Gequälten und Geschundenen“ in der Ostukraine
beizustehen. Der russische Präsident sagt tatsächlich: „Russland hat alles
getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“
Bereits am Abend überqueren russische Truppen die Grenze zur Ukraine, um –
so nennt es Moskau – die „Sicherheit in den Volksrepubliken zu
gewährleisten“. Der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, den Putin
mit den „Oberhäuptern“ der beiden „Volksrepubliken“ kurz zuvor
unterschrieben hat, enthält eine Klausel zum „militärischem Beistand“.
Damit könnte Russland, wie bereits in den von Georgien abtrünnigen und von
Russland ebenfalls anerkannten Gebieten Abchasien und Südossetien Tausende
Soldaten in der Ostukraine stationieren. In den Separatistengebieten gibt
es in der Nacht Feuerwerke.
Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht. Sein Auftritt zeigt
dessen moralische Vernichtung eines Staates, den Russland nie verstanden
hat. Damit führt der Kremlherrscher seine Gedanken, die er bereits im
vergangenen Sommer in einem Essay niedergeschrieben hatte, fort. Lenin habe
eben Fehler gemacht, ohne an die Zukunft zu denken. Die Bolschewiken hätten
sich dann mit allen Mitteln an der Macht halten wollen, deshalb dieser
„Wahnsinn“, der so viele Nationalisten in der heutigen Ukraine gebäre.
Was das alles miteinander zu tun hat, versteht selbst in Russland niemand
so recht. Aber Putin fährt fort mit seinem merk- wie denkwürdigen Exkurs.
Die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er Jahren wiederum sei ein
„Fehler“ der Kommunistischen Partei unter Michail Gorbatschow. Fortan habe
die Ukraine „mechanisch fremde Modelle kopiert“, die ihr „Radikale“
diktiert hätten. So drangsaliere Kiew sein Volk mit hohen Gaspreisen,
verletze die Menschenrechte, verfolge die Opposition, begehe „Genozid“ an
der russischsprachigen Bevölkerung.
Das ist Putins gern gebrauchter Begriff, um zu zeigen, wie schlimm es um
die Ukraine angeblich stehe und wie gut es sei, dass das Land Russland als
Nachbarn habe. Es ist eine verkehrte Welt. Eine, die allerdings bei vielen
Russen greift. Die staatliche Propaganda tut seit Jahren Enormes, um die
Bedrohung durch die Nato, die in Putins Augen auch Kiew mittrage, zur
realen Angst der Menschen zu machen.
## Wie ein Theaterstück von Zweitklässlern
Putins „Geschichtsstunde“ ging eine ebenfalls bizarre Sitzung des
nationalen Sicherheitsrates voraus. Als live wird sie verkauft, die Uhr des
russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu zeigt allerdings
seltsamerweise fünf Stunden vorher an. Die Sitzung wirkt wie ein versuchtes
Theaterstück von Zweitklässlern: Nacheinander treten die Mitglieder des
Rates – Russlands Außenminister Sergei Lawrow, Russlands
Verteidigungsminister Sergei Schoigu, Russlands früherer Präsident Dmitri
Medwedew, Russlands Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin, Russlands
Vorsitzende des Föderationsrates Walentina Matwijenko und andere – an das
Redepult im prächtigen Katharinensaal des Kremls und flehen Putin geradezu
an, die „Volksrepubliken“ anzuerkennen. „Die Zeit ist gekommen, Aufschub
nicht mehr möglich“, raunt Matwijenko.
Äußerst peinlich: Sergei Naryschkin, seines Zeichens Chef des russischen
Auslandsgeheimdienstes SWR, einer der engsten Berater Putins. Er stockt, er
weiß nicht recht, was er sagen soll, ähm, hmm, ja. Er verspricht sich und
sagt gar den Satz, dass er sich für den Anschluss des Donbass an Russland
ausspreche. Putin lächelt, Putin herrscht ihn an: „Darum geht es nicht.
Setzen Sie sich!“ Der Oberlehrer weiß ohnehin alles besser.
Vorerst geht es in der Tat nicht „darum“, die Rede Putins legt allerdings
nahe, dass die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine
lediglich die Vorstufe zum Anschluss sein dürfte. Es war bereits bei der
Krim 2014 ähnlich. Zudem steht offenbar in dem von Putin unterschriebenen
Dekret, das das russische Parlament in einer ähnlich absurden Vorführung am
Dienstag ratifizieren dürfte, dass Russland die „Volksrepubliken“ in seinen
ursprünglichen Grenzen der Regionen Luhansk und Donezk anerkenne. Damit
also auch die Gebiete, die derzeit von der Ukraine kontrolliert werden. Die
Abgeordneten geben sich allerdings widersprüchlich.
„Warum macht man aus uns einen Feind?“, fragt Putin – und antwortet
sogleich selbst: „Sie brauchen solch ein großes und selbstständiges Land
wie uns nicht.“ „Sie“, der Westen, Putins offensichtliches Trauma, das die
russische Führung stets beleidigt und nicht erst genommen auftreten lässt.
In dieser Rolle des „Obischenny“ – der Begriff des „Gekränkten“ ist …
sehr russischer, täglich gebraucht für jegliche auch noch kleinste Kritik
an einem selbst – fährt Putin mit der Anklage seines Lieblingsfeindes fort.
„Das treibt Amerika an. Ihr einziges Ziel ist es, uns zu bezwingen.“ Es ist
gespenstisch. Und es ist Putins Prolog zu einem großen Krieg.
22 Feb 2022
## LINKS
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[2] /Schriftsteller-zu-Russland-und-Ukraine/!5833893
## AUTOREN
Inna Hartwich
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